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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band.

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Windbeutel! Geschwiegen wurde mit Energie und Ausdauer, so daß mir Muße zu
mehr Bettachtungen blieb, als ich. anzustellen Stoff hatte. Ans dem Festlande er.
kennt man den Engländer ans fünfzig Schritt, in England erkennt man den Frem¬
den auf hundert Schritt Entfernung. Den Londoner Kümmeltürken aber ist jeder
Ausländer ein Franzose. Gibt doch der Pariser allen Städten Europas Gesetze
über Tracht und Manieren, so daß er einem oberflächlichen Auge als Vertreter der
ganzen nichtenglischen Welt, und daß der deutsche Städter aus den ersten Blick
als ein verpfuschter Franzose erscheinen muß. Auch wird mau es begreiflich fin¬
den, daß, trotz der Philippistischen e"te"to coriliale, und trotz der Wechselbe¬
suche ,' die englische Freihändler und Pariser Nationalgarten einander abstatten,
die historischen Erinnerungen beider Völker am Leben geblieben sind. Die Abnei¬
gung vor der internationalen Friedenspfeife äußert sich dies- und jenseits des
Kanals auf sehr verschiedene Weise. In Frankreich sind es nicht nur die Ga-
mins und Ouvriers, die das perfide Albion gern mit einem Nasenstüber in den
tiefsten Abgrund des Meeres stürzen möchten, sondern erleuchtete Staatsmänner,
gravitätische Geschichtschreiber und demokratische Feuilletonisten verschmähen es un¬
ter Umständen nicht, entweder aus Gier nach einem Sou Popularität oder aus
weibisch wüthender Eifersucht, mit den Gamins zu stimmen und die Engländer
als Barbaren, Molochsanbeter und menschenopfernde Mammonpriester *) mit rother
Kreide an die Wand zu malen. Anders in England. Die Franzosenfresserei. ge->
hört hier längst nicht mehr zum guten Ton. Der gebildete Brite hat Humor ge¬
nug, um über die Ausfälle der Franzmänner zu lächeln. Er ist sich des Gegen¬
satzes zwischen seinem und dem französischen Naturell klar bewußt und erklärt sich
daraus mit ziemlicher Unparteilichkeit die gegenseitigen Antipathien und Vorur-
theile; dabei sühlt er zu sehr seine Überlegenheit in allen praktisch wichtigen Din¬
gen, um nicht gern und oft sogar mit warmer Vorliebe die glänzenden Liebens¬
würdigkeiten und großen Fähigkeiten seines Nebenbuhlers anzuerkennen. Selbst
der englische Pöbel kennt keinen rechten Haß mehr gegen Frankreich und erlaubt
sich selten mehr als harmlose Neckereien auf den Fremdling loszulassen. Wie sagte
mein Freund Jack Rollicker, der Fuhrmann? "S'ist kein Verbrechen, ein Franzos
zu sein, aber ein Hanswurst wär ich lieber als so'n Kerlchen. Das kleidet sich
in Spinneweben und nährt sich von Bonbons; hat kein zu Hause, sondern
wohnt im Kasp und auf der Straße; das geht nicht, sondern tanzt, red't nicht,
sondern singt, singt nicht, sondern kräht, trägt den Hut aus dem Ohr und kann
nicht boxen; wie soll man so'n Geschöpf ernsthaft nehmen? Und doch ist nicht mit
ihm zu spaßen; macht die zierlichsten Complimente, so lang ich ihm Recht geb',
aber kaum sag ich 'mal Nein, pautz, explodjrt er wie 'ne Rakete."

In der Verhöhnung der Franzosen liegt eine gewisse Anerkennung. John



Siehe die Schriften und Reden von Michelet, Thiers, Toussenel, Emile Girardin u. a. in.

Windbeutel! Geschwiegen wurde mit Energie und Ausdauer, so daß mir Muße zu
mehr Bettachtungen blieb, als ich. anzustellen Stoff hatte. Ans dem Festlande er.
kennt man den Engländer ans fünfzig Schritt, in England erkennt man den Frem¬
den auf hundert Schritt Entfernung. Den Londoner Kümmeltürken aber ist jeder
Ausländer ein Franzose. Gibt doch der Pariser allen Städten Europas Gesetze
über Tracht und Manieren, so daß er einem oberflächlichen Auge als Vertreter der
ganzen nichtenglischen Welt, und daß der deutsche Städter aus den ersten Blick
als ein verpfuschter Franzose erscheinen muß. Auch wird mau es begreiflich fin¬
den, daß, trotz der Philippistischen e»te»to coriliale, und trotz der Wechselbe¬
suche ,' die englische Freihändler und Pariser Nationalgarten einander abstatten,
die historischen Erinnerungen beider Völker am Leben geblieben sind. Die Abnei¬
gung vor der internationalen Friedenspfeife äußert sich dies- und jenseits des
Kanals auf sehr verschiedene Weise. In Frankreich sind es nicht nur die Ga-
mins und Ouvriers, die das perfide Albion gern mit einem Nasenstüber in den
tiefsten Abgrund des Meeres stürzen möchten, sondern erleuchtete Staatsmänner,
gravitätische Geschichtschreiber und demokratische Feuilletonisten verschmähen es un¬
ter Umständen nicht, entweder aus Gier nach einem Sou Popularität oder aus
weibisch wüthender Eifersucht, mit den Gamins zu stimmen und die Engländer
als Barbaren, Molochsanbeter und menschenopfernde Mammonpriester *) mit rother
Kreide an die Wand zu malen. Anders in England. Die Franzosenfresserei. ge->
hört hier längst nicht mehr zum guten Ton. Der gebildete Brite hat Humor ge¬
nug, um über die Ausfälle der Franzmänner zu lächeln. Er ist sich des Gegen¬
satzes zwischen seinem und dem französischen Naturell klar bewußt und erklärt sich
daraus mit ziemlicher Unparteilichkeit die gegenseitigen Antipathien und Vorur-
theile; dabei sühlt er zu sehr seine Überlegenheit in allen praktisch wichtigen Din¬
gen, um nicht gern und oft sogar mit warmer Vorliebe die glänzenden Liebens¬
würdigkeiten und großen Fähigkeiten seines Nebenbuhlers anzuerkennen. Selbst
der englische Pöbel kennt keinen rechten Haß mehr gegen Frankreich und erlaubt
sich selten mehr als harmlose Neckereien auf den Fremdling loszulassen. Wie sagte
mein Freund Jack Rollicker, der Fuhrmann? „S'ist kein Verbrechen, ein Franzos
zu sein, aber ein Hanswurst wär ich lieber als so'n Kerlchen. Das kleidet sich
in Spinneweben und nährt sich von Bonbons; hat kein zu Hause, sondern
wohnt im Kasp und auf der Straße; das geht nicht, sondern tanzt, red't nicht,
sondern singt, singt nicht, sondern kräht, trägt den Hut aus dem Ohr und kann
nicht boxen; wie soll man so'n Geschöpf ernsthaft nehmen? Und doch ist nicht mit
ihm zu spaßen; macht die zierlichsten Complimente, so lang ich ihm Recht geb',
aber kaum sag ich 'mal Nein, pautz, explodjrt er wie 'ne Rakete."

In der Verhöhnung der Franzosen liegt eine gewisse Anerkennung. John



Siehe die Schriften und Reden von Michelet, Thiers, Toussenel, Emile Girardin u. a. in.
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[0422] Windbeutel! Geschwiegen wurde mit Energie und Ausdauer, so daß mir Muße zu mehr Bettachtungen blieb, als ich. anzustellen Stoff hatte. Ans dem Festlande er. kennt man den Engländer ans fünfzig Schritt, in England erkennt man den Frem¬ den auf hundert Schritt Entfernung. Den Londoner Kümmeltürken aber ist jeder Ausländer ein Franzose. Gibt doch der Pariser allen Städten Europas Gesetze über Tracht und Manieren, so daß er einem oberflächlichen Auge als Vertreter der ganzen nichtenglischen Welt, und daß der deutsche Städter aus den ersten Blick als ein verpfuschter Franzose erscheinen muß. Auch wird mau es begreiflich fin¬ den, daß, trotz der Philippistischen e»te»to coriliale, und trotz der Wechselbe¬ suche ,' die englische Freihändler und Pariser Nationalgarten einander abstatten, die historischen Erinnerungen beider Völker am Leben geblieben sind. Die Abnei¬ gung vor der internationalen Friedenspfeife äußert sich dies- und jenseits des Kanals auf sehr verschiedene Weise. In Frankreich sind es nicht nur die Ga- mins und Ouvriers, die das perfide Albion gern mit einem Nasenstüber in den tiefsten Abgrund des Meeres stürzen möchten, sondern erleuchtete Staatsmänner, gravitätische Geschichtschreiber und demokratische Feuilletonisten verschmähen es un¬ ter Umständen nicht, entweder aus Gier nach einem Sou Popularität oder aus weibisch wüthender Eifersucht, mit den Gamins zu stimmen und die Engländer als Barbaren, Molochsanbeter und menschenopfernde Mammonpriester *) mit rother Kreide an die Wand zu malen. Anders in England. Die Franzosenfresserei. ge-> hört hier längst nicht mehr zum guten Ton. Der gebildete Brite hat Humor ge¬ nug, um über die Ausfälle der Franzmänner zu lächeln. Er ist sich des Gegen¬ satzes zwischen seinem und dem französischen Naturell klar bewußt und erklärt sich daraus mit ziemlicher Unparteilichkeit die gegenseitigen Antipathien und Vorur- theile; dabei sühlt er zu sehr seine Überlegenheit in allen praktisch wichtigen Din¬ gen, um nicht gern und oft sogar mit warmer Vorliebe die glänzenden Liebens¬ würdigkeiten und großen Fähigkeiten seines Nebenbuhlers anzuerkennen. Selbst der englische Pöbel kennt keinen rechten Haß mehr gegen Frankreich und erlaubt sich selten mehr als harmlose Neckereien auf den Fremdling loszulassen. Wie sagte mein Freund Jack Rollicker, der Fuhrmann? „S'ist kein Verbrechen, ein Franzos zu sein, aber ein Hanswurst wär ich lieber als so'n Kerlchen. Das kleidet sich in Spinneweben und nährt sich von Bonbons; hat kein zu Hause, sondern wohnt im Kasp und auf der Straße; das geht nicht, sondern tanzt, red't nicht, sondern singt, singt nicht, sondern kräht, trägt den Hut aus dem Ohr und kann nicht boxen; wie soll man so'n Geschöpf ernsthaft nehmen? Und doch ist nicht mit ihm zu spaßen; macht die zierlichsten Complimente, so lang ich ihm Recht geb', aber kaum sag ich 'mal Nein, pautz, explodjrt er wie 'ne Rakete." In der Verhöhnung der Franzosen liegt eine gewisse Anerkennung. John Siehe die Schriften und Reden von Michelet, Thiers, Toussenel, Emile Girardin u. a. in.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92822/422>, abgerufen am 21.06.2024.