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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band.

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Wissenschaft bestimmt werden. Das erste Postulat der Wissenschaft ist aber Ord¬
nung und Vollständigkeit. Durch das gelegentliche Einweben kulturhistorischer
Notizen in die dramatische Action täuscht man sich selbst; der Leser muß in jedem
Augenblick für eine bestimmte Frage eine bestimmte Antwort finden können, wenn
es auch nur die ist, daß man über den Punkt nichts weiß. In der That wird
durch diese Regelmäßigkeit die künstlerische Gruppirung nur scheinbar gestört. Man
lese jene Sittenschilderung, in der Macaulay Punkt für Punkt alle die Fragen
erledigt, welche ein verständiger und practischer Staatsmann an eine Zeit zu stel¬
len berechtigt ist, und frage sich, ob sie nicht zwanzigmal interessanter ist, als alle
historischen Romane mit obligaten Sittenschilderungen zusammengenommen.

Die Geschichte von 1685--88 ist mit einer Ausführlichkeit behandelt, die uns
freilich erschreckt. Wir dürfen dabei aber nicht vergessen, daß sie für Engländer
berechnet ist, die an den dargestellten Persönlichkeiten und den Institutionen, um
die es sich handelt, noch ein ganz anderes Interesse nehmen, als ein blos objectiv
historisches. Außerdem hat diese Ausführlichkeit den Vorzug, daß wir gleichsam
das Gras wachsen hören, daß wir jenes wunderbare Ereigniß, die Vereinigung
zweier feindlicher Parteien, die sich ein Menschenalter hindurch bekämpft, der
Whigs und Tories, in seiner genetischen Entwickelung vollkommen begreifen.

Macaulay ist für uns ein trostreiches Buch. Die auswärtige Politik
Englands in der Zeit, die er darstellt, war noch viel schwächlicher, unsicherer, trüb¬
seliger als die heutige desjenigen Staats, der Deutschland repräsentirt, Preußen.
Die öffentlichen Charaktere, die sich in den drei Jahren geltend machten, geben
ein noch viel unerfreulicheres Bild, als die der Jahre 1848--49. Was sind
unsre Reactionäre gegen Jeffreys, Suuderland u. s. w., was unsre Democraten
gegen Ferguson und das übrige Gelichter. Wir sehen dort eine Reihe von Schur¬
ken und Narren, vom König herunter bis zum Friedensrichter, und eine unbe¬
dingte Herrschaft der gemeinsten egoistischen Interessen. Dennoch hat in wenig
Jahren England aus dieser tiefen Erniedrigung sich zu einer welthistorischen Bedeu¬
tung ohne Gleichen erhoben. Nicht durch ungeheure Thaten -- die erzählten
Emeuten kommen einem Festländer spaßhaft vor, sondern durch die natürliche
Schwere der realen Interessen. Englands Institutionell waren im Kern gesund,
seine Kräfte groß, wenn auch die letzte Spitze derselben und ihre Handhabung
verkehrt war.

Beides haben auch wir. Die Gemeinsamkeit unserer "bürgerlichen" Inter¬
essen ist zu groß, als daß sie nicht endlich in der Politik Bahn brechen sollte;
und der Organismus des preußischen Staats, welcher bestimmt ist, den Kern der
neuen Organisation zu bilden, zu kräftig, als daß die Verschrobenheit romanti¬
scher Staatsmänner, oder die kleinliche Angst vor den Wühlern ihn zerstören könn¬
ten. So lange wir noch hoffen dürfen, daß der gesunde Menschenverstand nicht
ganz aus uns gewichen ist, so lange dürfen wir an Deutschland nich; verzweifeln.




Wissenschaft bestimmt werden. Das erste Postulat der Wissenschaft ist aber Ord¬
nung und Vollständigkeit. Durch das gelegentliche Einweben kulturhistorischer
Notizen in die dramatische Action täuscht man sich selbst; der Leser muß in jedem
Augenblick für eine bestimmte Frage eine bestimmte Antwort finden können, wenn
es auch nur die ist, daß man über den Punkt nichts weiß. In der That wird
durch diese Regelmäßigkeit die künstlerische Gruppirung nur scheinbar gestört. Man
lese jene Sittenschilderung, in der Macaulay Punkt für Punkt alle die Fragen
erledigt, welche ein verständiger und practischer Staatsmann an eine Zeit zu stel¬
len berechtigt ist, und frage sich, ob sie nicht zwanzigmal interessanter ist, als alle
historischen Romane mit obligaten Sittenschilderungen zusammengenommen.

Die Geschichte von 1685—88 ist mit einer Ausführlichkeit behandelt, die uns
freilich erschreckt. Wir dürfen dabei aber nicht vergessen, daß sie für Engländer
berechnet ist, die an den dargestellten Persönlichkeiten und den Institutionen, um
die es sich handelt, noch ein ganz anderes Interesse nehmen, als ein blos objectiv
historisches. Außerdem hat diese Ausführlichkeit den Vorzug, daß wir gleichsam
das Gras wachsen hören, daß wir jenes wunderbare Ereigniß, die Vereinigung
zweier feindlicher Parteien, die sich ein Menschenalter hindurch bekämpft, der
Whigs und Tories, in seiner genetischen Entwickelung vollkommen begreifen.

Macaulay ist für uns ein trostreiches Buch. Die auswärtige Politik
Englands in der Zeit, die er darstellt, war noch viel schwächlicher, unsicherer, trüb¬
seliger als die heutige desjenigen Staats, der Deutschland repräsentirt, Preußen.
Die öffentlichen Charaktere, die sich in den drei Jahren geltend machten, geben
ein noch viel unerfreulicheres Bild, als die der Jahre 1848—49. Was sind
unsre Reactionäre gegen Jeffreys, Suuderland u. s. w., was unsre Democraten
gegen Ferguson und das übrige Gelichter. Wir sehen dort eine Reihe von Schur¬
ken und Narren, vom König herunter bis zum Friedensrichter, und eine unbe¬
dingte Herrschaft der gemeinsten egoistischen Interessen. Dennoch hat in wenig
Jahren England aus dieser tiefen Erniedrigung sich zu einer welthistorischen Bedeu¬
tung ohne Gleichen erhoben. Nicht durch ungeheure Thaten — die erzählten
Emeuten kommen einem Festländer spaßhaft vor, sondern durch die natürliche
Schwere der realen Interessen. Englands Institutionell waren im Kern gesund,
seine Kräfte groß, wenn auch die letzte Spitze derselben und ihre Handhabung
verkehrt war.

Beides haben auch wir. Die Gemeinsamkeit unserer „bürgerlichen" Inter¬
essen ist zu groß, als daß sie nicht endlich in der Politik Bahn brechen sollte;
und der Organismus des preußischen Staats, welcher bestimmt ist, den Kern der
neuen Organisation zu bilden, zu kräftig, als daß die Verschrobenheit romanti¬
scher Staatsmänner, oder die kleinliche Angst vor den Wühlern ihn zerstören könn¬
ten. So lange wir noch hoffen dürfen, daß der gesunde Menschenverstand nicht
ganz aus uns gewichen ist, so lange dürfen wir an Deutschland nich; verzweifeln.




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[0398] Wissenschaft bestimmt werden. Das erste Postulat der Wissenschaft ist aber Ord¬ nung und Vollständigkeit. Durch das gelegentliche Einweben kulturhistorischer Notizen in die dramatische Action täuscht man sich selbst; der Leser muß in jedem Augenblick für eine bestimmte Frage eine bestimmte Antwort finden können, wenn es auch nur die ist, daß man über den Punkt nichts weiß. In der That wird durch diese Regelmäßigkeit die künstlerische Gruppirung nur scheinbar gestört. Man lese jene Sittenschilderung, in der Macaulay Punkt für Punkt alle die Fragen erledigt, welche ein verständiger und practischer Staatsmann an eine Zeit zu stel¬ len berechtigt ist, und frage sich, ob sie nicht zwanzigmal interessanter ist, als alle historischen Romane mit obligaten Sittenschilderungen zusammengenommen. Die Geschichte von 1685—88 ist mit einer Ausführlichkeit behandelt, die uns freilich erschreckt. Wir dürfen dabei aber nicht vergessen, daß sie für Engländer berechnet ist, die an den dargestellten Persönlichkeiten und den Institutionen, um die es sich handelt, noch ein ganz anderes Interesse nehmen, als ein blos objectiv historisches. Außerdem hat diese Ausführlichkeit den Vorzug, daß wir gleichsam das Gras wachsen hören, daß wir jenes wunderbare Ereigniß, die Vereinigung zweier feindlicher Parteien, die sich ein Menschenalter hindurch bekämpft, der Whigs und Tories, in seiner genetischen Entwickelung vollkommen begreifen. Macaulay ist für uns ein trostreiches Buch. Die auswärtige Politik Englands in der Zeit, die er darstellt, war noch viel schwächlicher, unsicherer, trüb¬ seliger als die heutige desjenigen Staats, der Deutschland repräsentirt, Preußen. Die öffentlichen Charaktere, die sich in den drei Jahren geltend machten, geben ein noch viel unerfreulicheres Bild, als die der Jahre 1848—49. Was sind unsre Reactionäre gegen Jeffreys, Suuderland u. s. w., was unsre Democraten gegen Ferguson und das übrige Gelichter. Wir sehen dort eine Reihe von Schur¬ ken und Narren, vom König herunter bis zum Friedensrichter, und eine unbe¬ dingte Herrschaft der gemeinsten egoistischen Interessen. Dennoch hat in wenig Jahren England aus dieser tiefen Erniedrigung sich zu einer welthistorischen Bedeu¬ tung ohne Gleichen erhoben. Nicht durch ungeheure Thaten — die erzählten Emeuten kommen einem Festländer spaßhaft vor, sondern durch die natürliche Schwere der realen Interessen. Englands Institutionell waren im Kern gesund, seine Kräfte groß, wenn auch die letzte Spitze derselben und ihre Handhabung verkehrt war. Beides haben auch wir. Die Gemeinsamkeit unserer „bürgerlichen" Inter¬ essen ist zu groß, als daß sie nicht endlich in der Politik Bahn brechen sollte; und der Organismus des preußischen Staats, welcher bestimmt ist, den Kern der neuen Organisation zu bilden, zu kräftig, als daß die Verschrobenheit romanti¬ scher Staatsmänner, oder die kleinliche Angst vor den Wühlern ihn zerstören könn¬ ten. So lange wir noch hoffen dürfen, daß der gesunde Menschenverstand nicht ganz aus uns gewichen ist, so lange dürfen wir an Deutschland nich; verzweifeln.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92822/398>, abgerufen am 27.06.2024.