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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band.

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sechs Jahr, zuletzt als Sergeant; dann sing er an patriotische Geschichtsromane
zu schreiben, und zwar in flämischer Sprache. Nach einem langen Kampf seines
Talentes mit der Noth und dem Zweifel erhielt er das Amt eines Greffier bei
der Academie der schöne" Künste zu Antwerpen, wurde Professor an der Univer¬
sität Gent, Lehrer der königlichen Kinder, Ritter, Mitglied gelehrter Gesellschaf¬
ten u. s. w.

Die weiche Seele des Kindes war angefüllt worden mit einer Menge von
Bildern, Anschauungen und unklaren Vorstellungen, alle reflectirt und künstlerisch
zugerichtet, wie sie durch die Lectüre zu kommen pflegen. Das massenhafte Lesen
ohne Wahl verkümmert Kindern immer die Originalität und Unmittelbarkeit des
eigenen Empfindens, reizt aber die Phantasie übermäßig auf, und wenn nun, wie
bei dem jungen Hendrik, auf eine solche Zeit der massenhaften Neception, Jahre
der vollständigen Absonderung von Menschen und Büchern kommen, so darf man
schließen, daß die bereits krankhaft affizirte Seele in ein sinniges Brüten versinken
werde, welches die umgebende Natur, Himmel und Erde mit einen beschränkten
und deshalb gefährlichen Idealismus verklärt. Wenn Hendrik seinem Leben unter
belletristischer Maculatur die erste Anregung zu literarischer Production verdankt,
so wurzelt feine christlich fromme Stimmung, welche zu weichlich ist, um einem
Mann zu gefallen, in den Jahren ungesunder Einsamkeit. Die derbe deutsche
Anlage seines Stammes verhinderten, daß er unpraktisch würde, Und die politische
Begeisterung ließ deu Sohn des Volkes einen Punkt finden, wo er seine poetischen
Joeale auf patriotische Weise verwerthen konnte. Er begeisterte sich für das freie
Bürgerthum der Nlaemländer und sür die eigene Sprache des kräftigen Volkes im
Gegensatz zum französischen.

Es ist für Ausländer schwer über die beliebten Schriftsteller eines Stammes
zu urtheilen, welcher aus Patriotismus eine verkümmerte Sprache cultivirt "ut
ihr eine Literatur zu verschaffen sucht. Nicht deshalb, weil der Werth derartiger
Leistungen fast immer viel geringer ist als ihr Ruf, sondern deshalb, weil ein
Ausländer in der That ihr Verdienst und deu Genuß, welchen sie ihren Mitbür¬
gern verschaffen, nicht vollständig verstehen kann. Denn die Hauptthätigkeit solcher
Schriftsteller pflegt zu sein, eine arme und verhältnißmäßig ungefüge Sprache für
den Ausdruck feinerer Empfindungen und höherer Interessen zurecht zu machen.
Jede geschickte Wortbildung, jede glückliche Verbindung der Sätze, ja jeder neue
Stoff, welchen sie in die Sprache einführen, bereitet ihnen und ihrem Publikum
ein Behagen, und wird eine Eroberung, an welcher das ganze Volk Theil nimmt.
Wenn wir in russischen, ungarischen oder czcchischcn Dichtungen zumeist die Remi¬
niscenzen ans fremder Literatur achselzuckend herausfühlen, so genießt der Inlän¬
der in ihnen mit Entzücken den Zuwachs an Feinheit und Geist, welchen die na¬
tionale Sprache gewonnen hat. -- So verliert auch Conscience in's Deutsche über-


sechs Jahr, zuletzt als Sergeant; dann sing er an patriotische Geschichtsromane
zu schreiben, und zwar in flämischer Sprache. Nach einem langen Kampf seines
Talentes mit der Noth und dem Zweifel erhielt er das Amt eines Greffier bei
der Academie der schöne» Künste zu Antwerpen, wurde Professor an der Univer¬
sität Gent, Lehrer der königlichen Kinder, Ritter, Mitglied gelehrter Gesellschaf¬
ten u. s. w.

Die weiche Seele des Kindes war angefüllt worden mit einer Menge von
Bildern, Anschauungen und unklaren Vorstellungen, alle reflectirt und künstlerisch
zugerichtet, wie sie durch die Lectüre zu kommen pflegen. Das massenhafte Lesen
ohne Wahl verkümmert Kindern immer die Originalität und Unmittelbarkeit des
eigenen Empfindens, reizt aber die Phantasie übermäßig auf, und wenn nun, wie
bei dem jungen Hendrik, auf eine solche Zeit der massenhaften Neception, Jahre
der vollständigen Absonderung von Menschen und Büchern kommen, so darf man
schließen, daß die bereits krankhaft affizirte Seele in ein sinniges Brüten versinken
werde, welches die umgebende Natur, Himmel und Erde mit einen beschränkten
und deshalb gefährlichen Idealismus verklärt. Wenn Hendrik seinem Leben unter
belletristischer Maculatur die erste Anregung zu literarischer Production verdankt,
so wurzelt feine christlich fromme Stimmung, welche zu weichlich ist, um einem
Mann zu gefallen, in den Jahren ungesunder Einsamkeit. Die derbe deutsche
Anlage seines Stammes verhinderten, daß er unpraktisch würde, Und die politische
Begeisterung ließ deu Sohn des Volkes einen Punkt finden, wo er seine poetischen
Joeale auf patriotische Weise verwerthen konnte. Er begeisterte sich für das freie
Bürgerthum der Nlaemländer und sür die eigene Sprache des kräftigen Volkes im
Gegensatz zum französischen.

Es ist für Ausländer schwer über die beliebten Schriftsteller eines Stammes
zu urtheilen, welcher aus Patriotismus eine verkümmerte Sprache cultivirt »ut
ihr eine Literatur zu verschaffen sucht. Nicht deshalb, weil der Werth derartiger
Leistungen fast immer viel geringer ist als ihr Ruf, sondern deshalb, weil ein
Ausländer in der That ihr Verdienst und deu Genuß, welchen sie ihren Mitbür¬
gern verschaffen, nicht vollständig verstehen kann. Denn die Hauptthätigkeit solcher
Schriftsteller pflegt zu sein, eine arme und verhältnißmäßig ungefüge Sprache für
den Ausdruck feinerer Empfindungen und höherer Interessen zurecht zu machen.
Jede geschickte Wortbildung, jede glückliche Verbindung der Sätze, ja jeder neue
Stoff, welchen sie in die Sprache einführen, bereitet ihnen und ihrem Publikum
ein Behagen, und wird eine Eroberung, an welcher das ganze Volk Theil nimmt.
Wenn wir in russischen, ungarischen oder czcchischcn Dichtungen zumeist die Remi¬
niscenzen ans fremder Literatur achselzuckend herausfühlen, so genießt der Inlän¬
der in ihnen mit Entzücken den Zuwachs an Feinheit und Geist, welchen die na¬
tionale Sprache gewonnen hat. — So verliert auch Conscience in's Deutsche über-


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[0394] sechs Jahr, zuletzt als Sergeant; dann sing er an patriotische Geschichtsromane zu schreiben, und zwar in flämischer Sprache. Nach einem langen Kampf seines Talentes mit der Noth und dem Zweifel erhielt er das Amt eines Greffier bei der Academie der schöne» Künste zu Antwerpen, wurde Professor an der Univer¬ sität Gent, Lehrer der königlichen Kinder, Ritter, Mitglied gelehrter Gesellschaf¬ ten u. s. w. Die weiche Seele des Kindes war angefüllt worden mit einer Menge von Bildern, Anschauungen und unklaren Vorstellungen, alle reflectirt und künstlerisch zugerichtet, wie sie durch die Lectüre zu kommen pflegen. Das massenhafte Lesen ohne Wahl verkümmert Kindern immer die Originalität und Unmittelbarkeit des eigenen Empfindens, reizt aber die Phantasie übermäßig auf, und wenn nun, wie bei dem jungen Hendrik, auf eine solche Zeit der massenhaften Neception, Jahre der vollständigen Absonderung von Menschen und Büchern kommen, so darf man schließen, daß die bereits krankhaft affizirte Seele in ein sinniges Brüten versinken werde, welches die umgebende Natur, Himmel und Erde mit einen beschränkten und deshalb gefährlichen Idealismus verklärt. Wenn Hendrik seinem Leben unter belletristischer Maculatur die erste Anregung zu literarischer Production verdankt, so wurzelt feine christlich fromme Stimmung, welche zu weichlich ist, um einem Mann zu gefallen, in den Jahren ungesunder Einsamkeit. Die derbe deutsche Anlage seines Stammes verhinderten, daß er unpraktisch würde, Und die politische Begeisterung ließ deu Sohn des Volkes einen Punkt finden, wo er seine poetischen Joeale auf patriotische Weise verwerthen konnte. Er begeisterte sich für das freie Bürgerthum der Nlaemländer und sür die eigene Sprache des kräftigen Volkes im Gegensatz zum französischen. Es ist für Ausländer schwer über die beliebten Schriftsteller eines Stammes zu urtheilen, welcher aus Patriotismus eine verkümmerte Sprache cultivirt »ut ihr eine Literatur zu verschaffen sucht. Nicht deshalb, weil der Werth derartiger Leistungen fast immer viel geringer ist als ihr Ruf, sondern deshalb, weil ein Ausländer in der That ihr Verdienst und deu Genuß, welchen sie ihren Mitbür¬ gern verschaffen, nicht vollständig verstehen kann. Denn die Hauptthätigkeit solcher Schriftsteller pflegt zu sein, eine arme und verhältnißmäßig ungefüge Sprache für den Ausdruck feinerer Empfindungen und höherer Interessen zurecht zu machen. Jede geschickte Wortbildung, jede glückliche Verbindung der Sätze, ja jeder neue Stoff, welchen sie in die Sprache einführen, bereitet ihnen und ihrem Publikum ein Behagen, und wird eine Eroberung, an welcher das ganze Volk Theil nimmt. Wenn wir in russischen, ungarischen oder czcchischcn Dichtungen zumeist die Remi¬ niscenzen ans fremder Literatur achselzuckend herausfühlen, so genießt der Inlän¬ der in ihnen mit Entzücken den Zuwachs an Feinheit und Geist, welchen die na¬ tionale Sprache gewonnen hat. — So verliert auch Conscience in's Deutsche über-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92822/394>, abgerufen am 27.06.2024.