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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band.

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ten sie seit dem 24. Februar die Unabhängigkeit ihrer constitutionellen Monarchie
gegen die abenteuerliche Republik von Frankreich. Selbst geborne Franzosen, wie
der Redacteur der "Jndependance beige," Mr. Perrot, haben sich in das gesunde
politische Leben ihres Adoptivvaterlandes so eingelebt, daß sie im Stande sind,
die französischen Staatsexperimente vom nationalbelgischen Standpunkt aus zu kri-
tistren. Jedenfalls wissen sie, daß eine andere Anschauung keine Sympathien bei
ihrem Publikum finden würde. Der Triumph Belgiens über seine feste Haltung
gegen die Republik ist zwar ein wohlfeiler, er gründet sich auf die Zahnlosigkeit
und den abgestumpften Länderappetit der heutigen Franzosen; es hat einen hüb¬
schen Küstenstrich, und keine Kriegsflotte, es hat eine Armee von 100,000 Mann,
welche schwerlich gegen die Colonnen eines Lamoriciin'e Stand hielte, aber im
Augenblick der Gefahr, wenn es gälte, Dentschland sich in die Arme zu werfen,
da fragt es sich, ob dies die Brabanter und Lütticher mit weniger Widerstreben
thun würden oder die Herren in Antwerpen und Gent.

Die materiellen Interessen Belgiens kommen der nationalen Begeisterung
wenig zu Hilfe, den" schwer empfinden sie die prekäre Stellung des kleinen Staa¬
tes. In Brabant schwärmte man eine Zeit lang sür den Anschluß der katholischen
Rheinlands an Belgien (!), die Wallonen liebäugelten mit Frankreich, nicht als
Romanen von Geblüt, sondern als Kohlengrnbenbesitzer *); dieselbe vrangistische
Partei in Flandern aber, welche die Losreißung von Holland beklagte und eine
Restauration Oraniens in Brüssel, wegen des Handels nach den niederländischen
Kolonien, mit Freuden begrüßt hätte, hat sich dem Gedanken einer Vereinigung
mit dem sittenlosen Frankreich, ihrer känferlosen Leinwand wegen, stets hold gezeigt,
Cvnscience, Van Duyse, de Laet,, Broederhand und dem ehrwürdige" Schatten
des seligen Willens zum Trotz.




Hendrik Cvnscience, den 3. December 1812 zu Antwerpen geboren, Sohn
eines kleinen Spekulanten, brachte seine erste Jugend unter einer Bibliothek von
Maculatur in großer Lesewut!) zu, die spätere Zeit seines Knabenalters in voll¬
ständiger Einsamkeit auf dem Lande, entfernt von allem Verkehr mit Menschen,
mutterlos, Monate lang auch ohne den wunderlichen Vater. Eine Stiefmutter
und die Revolution von 1830 trieben ihn uuter das belgische Militär, er diente



*) Im März des Jahres 1848 sagte ein Wallone zu mir: l?s oovlwn <1s I.vns
lipps, it a uim mvritc, <1' 6tre mis K la xorts. 51 n's pas poro <Is la Lel^i-zus. -- Ha¬
ben Sie denn die Franzosen so lieb, daß Sie ihm aus der Ablehnung der belgischen Krone
ein Verbrechen machen? fragte ich. -- Quoi, Is8 I?r!t,ieais? 5e les äötests, mais nous auri-
ons enlonev la Francs aveo nos oliardons!!!
Grenzboten. i. 1850. 49

ten sie seit dem 24. Februar die Unabhängigkeit ihrer constitutionellen Monarchie
gegen die abenteuerliche Republik von Frankreich. Selbst geborne Franzosen, wie
der Redacteur der „Jndependance beige," Mr. Perrot, haben sich in das gesunde
politische Leben ihres Adoptivvaterlandes so eingelebt, daß sie im Stande sind,
die französischen Staatsexperimente vom nationalbelgischen Standpunkt aus zu kri-
tistren. Jedenfalls wissen sie, daß eine andere Anschauung keine Sympathien bei
ihrem Publikum finden würde. Der Triumph Belgiens über seine feste Haltung
gegen die Republik ist zwar ein wohlfeiler, er gründet sich auf die Zahnlosigkeit
und den abgestumpften Länderappetit der heutigen Franzosen; es hat einen hüb¬
schen Küstenstrich, und keine Kriegsflotte, es hat eine Armee von 100,000 Mann,
welche schwerlich gegen die Colonnen eines Lamoriciin'e Stand hielte, aber im
Augenblick der Gefahr, wenn es gälte, Dentschland sich in die Arme zu werfen,
da fragt es sich, ob dies die Brabanter und Lütticher mit weniger Widerstreben
thun würden oder die Herren in Antwerpen und Gent.

Die materiellen Interessen Belgiens kommen der nationalen Begeisterung
wenig zu Hilfe, den« schwer empfinden sie die prekäre Stellung des kleinen Staa¬
tes. In Brabant schwärmte man eine Zeit lang sür den Anschluß der katholischen
Rheinlands an Belgien (!), die Wallonen liebäugelten mit Frankreich, nicht als
Romanen von Geblüt, sondern als Kohlengrnbenbesitzer *); dieselbe vrangistische
Partei in Flandern aber, welche die Losreißung von Holland beklagte und eine
Restauration Oraniens in Brüssel, wegen des Handels nach den niederländischen
Kolonien, mit Freuden begrüßt hätte, hat sich dem Gedanken einer Vereinigung
mit dem sittenlosen Frankreich, ihrer känferlosen Leinwand wegen, stets hold gezeigt,
Cvnscience, Van Duyse, de Laet,, Broederhand und dem ehrwürdige» Schatten
des seligen Willens zum Trotz.




Hendrik Cvnscience, den 3. December 1812 zu Antwerpen geboren, Sohn
eines kleinen Spekulanten, brachte seine erste Jugend unter einer Bibliothek von
Maculatur in großer Lesewut!) zu, die spätere Zeit seines Knabenalters in voll¬
ständiger Einsamkeit auf dem Lande, entfernt von allem Verkehr mit Menschen,
mutterlos, Monate lang auch ohne den wunderlichen Vater. Eine Stiefmutter
und die Revolution von 1830 trieben ihn uuter das belgische Militär, er diente



*) Im März des Jahres 1848 sagte ein Wallone zu mir: l?s oovlwn <1s I.vns
lipps, it a uim mvritc, <1' 6tre mis K la xorts. 51 n's pas poro <Is la Lel^i-zus. — Ha¬
ben Sie denn die Franzosen so lieb, daß Sie ihm aus der Ablehnung der belgischen Krone
ein Verbrechen machen? fragte ich. — Quoi, Is8 I?r!t,ieais? 5e les äötests, mais nous auri-
ons enlonev la Francs aveo nos oliardons!!!
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92822/393>, abgerufen am 27.06.2024.