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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band.

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Plattdeutsch einem vollkommen organisirten und freien Staatswesen gegenüber,
welches französisch redet.

Genug, der Triumph der Flamänder wurde bei uns nationaler Glaubens¬
artikel. Die Buchhändler "reflectirten" auf die neue Fremdliteratur, und in
Hendrik Couscience versprach ihnen ein fruchtbarer Scott, Cooper oder wenig¬
stens James aufzuwachse"; ein Bändchen seiner frommen Novellen übersetzte der
katholische Kirchenfürst Diepenbrock eigenhändig, seinen "Löwen von Flandern"
dolmetschte O. L. B. Wolff für die Webersche Handlung, und somit war die
flämische Literatur von Deutschland offiziell anerkannt.

Conscience ist die größte literarische Berühmtheit der Flamänder; ein Blick
auf seine Werke wird die Trieb- und Lebenskraft der flämischen Poesie kennen
lehren. Man scheint sich jedoch über die politische Bedeutung des flämischen Idioms
noch merkwürdige Täuschungen zu mache". Einige allgemeine Bemerkungen mögen
deshalb der Kritik vorangehe". Das Flämische ist als Volkssprache im Osten
und Norden Belgiens beinahe unausrottbar, sür die Bildung des Landes wird
es aber weniger leisten, als man erwartet. Andererseits liegt im französischen
Idiom nicht die leiseste Gefahr für die Unabhängigkeit und selbstständige Entwicke¬
lung Belgiens; der germanische Charakter des kleinen Zwischenstaates liegt über¬
haupt mehr in seinen Institutionen, als in seiner Sprache, so daß der französisch
redende Brüsseler oder der wallonische Lütticher in vielen Fällen geneigter sein
wird, sich an Deutschland anzulehnen, als der stockflämische Genter. Diese Be¬
hauptungen wollen wir motiviren.

Das Flämische unterscheidet sich vom Holländischen nur durch größere Armuth
und durch Mangel an Bildung. Von deutschen Mundarten ähnelt ihm am meisten
das niederrheinische Platt. Es wird von über zwei Millionen Menschen, jedoch
mit mancherlei Abweichungen, gesprochen, am reinsten in Antwerpen und Gent, --
auch diese beiden Städte variiren und führten lauge eine orthographische Fehde
-- am vcrdorbensten von der untern Volksklasse in Brüssel. Selbst in ganz
unverwälschten Gegenden, wie in Antwerpen, Ost- und Westflauder", nimmt das
Flämische keine viel höhere Stellung ein wie in unserem Norden das Platt ; wenn
das Gespräch der Gebildeten sich in Höhere Regionen versteigt, fühlen sie sich bald
gezwungen, Französisch zu reden, mag ihr Französisch auch nicht vom Feinster sein.
Die literarischen Bestrebungen des seligen Willens, die Gedichte von Van Duyse
und der Ruhm von Heudrik Conscience haben darin bis jetzt nicht das Mindeste
geändert, und doch dauert die Agitation seit mehr als sechzehn Jahren.

In der ersten Zeit nach der Losreißung von Holland war das Flämische
scheel angesehen; die den neuen Staat organistrten, Advokaten, Journalisten und
Priester, waren zum großen Theil unter Napoleon erzogen und in der Opposition
gegen die Holländisirnngssucht des Königs der Niederlande aufgewachsen; außer¬
dem gab es im Osten eine starke orangistische Partei und das Nationalgefühl,


Plattdeutsch einem vollkommen organisirten und freien Staatswesen gegenüber,
welches französisch redet.

Genug, der Triumph der Flamänder wurde bei uns nationaler Glaubens¬
artikel. Die Buchhändler „reflectirten" auf die neue Fremdliteratur, und in
Hendrik Couscience versprach ihnen ein fruchtbarer Scott, Cooper oder wenig¬
stens James aufzuwachse»; ein Bändchen seiner frommen Novellen übersetzte der
katholische Kirchenfürst Diepenbrock eigenhändig, seinen „Löwen von Flandern"
dolmetschte O. L. B. Wolff für die Webersche Handlung, und somit war die
flämische Literatur von Deutschland offiziell anerkannt.

Conscience ist die größte literarische Berühmtheit der Flamänder; ein Blick
auf seine Werke wird die Trieb- und Lebenskraft der flämischen Poesie kennen
lehren. Man scheint sich jedoch über die politische Bedeutung des flämischen Idioms
noch merkwürdige Täuschungen zu mache». Einige allgemeine Bemerkungen mögen
deshalb der Kritik vorangehe». Das Flämische ist als Volkssprache im Osten
und Norden Belgiens beinahe unausrottbar, sür die Bildung des Landes wird
es aber weniger leisten, als man erwartet. Andererseits liegt im französischen
Idiom nicht die leiseste Gefahr für die Unabhängigkeit und selbstständige Entwicke¬
lung Belgiens; der germanische Charakter des kleinen Zwischenstaates liegt über¬
haupt mehr in seinen Institutionen, als in seiner Sprache, so daß der französisch
redende Brüsseler oder der wallonische Lütticher in vielen Fällen geneigter sein
wird, sich an Deutschland anzulehnen, als der stockflämische Genter. Diese Be¬
hauptungen wollen wir motiviren.

Das Flämische unterscheidet sich vom Holländischen nur durch größere Armuth
und durch Mangel an Bildung. Von deutschen Mundarten ähnelt ihm am meisten
das niederrheinische Platt. Es wird von über zwei Millionen Menschen, jedoch
mit mancherlei Abweichungen, gesprochen, am reinsten in Antwerpen und Gent, —
auch diese beiden Städte variiren und führten lauge eine orthographische Fehde
— am vcrdorbensten von der untern Volksklasse in Brüssel. Selbst in ganz
unverwälschten Gegenden, wie in Antwerpen, Ost- und Westflauder«, nimmt das
Flämische keine viel höhere Stellung ein wie in unserem Norden das Platt ; wenn
das Gespräch der Gebildeten sich in Höhere Regionen versteigt, fühlen sie sich bald
gezwungen, Französisch zu reden, mag ihr Französisch auch nicht vom Feinster sein.
Die literarischen Bestrebungen des seligen Willens, die Gedichte von Van Duyse
und der Ruhm von Heudrik Conscience haben darin bis jetzt nicht das Mindeste
geändert, und doch dauert die Agitation seit mehr als sechzehn Jahren.

In der ersten Zeit nach der Losreißung von Holland war das Flämische
scheel angesehen; die den neuen Staat organistrten, Advokaten, Journalisten und
Priester, waren zum großen Theil unter Napoleon erzogen und in der Opposition
gegen die Holländisirnngssucht des Königs der Niederlande aufgewachsen; außer¬
dem gab es im Osten eine starke orangistische Partei und das Nationalgefühl,


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[0391] Plattdeutsch einem vollkommen organisirten und freien Staatswesen gegenüber, welches französisch redet. Genug, der Triumph der Flamänder wurde bei uns nationaler Glaubens¬ artikel. Die Buchhändler „reflectirten" auf die neue Fremdliteratur, und in Hendrik Couscience versprach ihnen ein fruchtbarer Scott, Cooper oder wenig¬ stens James aufzuwachse»; ein Bändchen seiner frommen Novellen übersetzte der katholische Kirchenfürst Diepenbrock eigenhändig, seinen „Löwen von Flandern" dolmetschte O. L. B. Wolff für die Webersche Handlung, und somit war die flämische Literatur von Deutschland offiziell anerkannt. Conscience ist die größte literarische Berühmtheit der Flamänder; ein Blick auf seine Werke wird die Trieb- und Lebenskraft der flämischen Poesie kennen lehren. Man scheint sich jedoch über die politische Bedeutung des flämischen Idioms noch merkwürdige Täuschungen zu mache». Einige allgemeine Bemerkungen mögen deshalb der Kritik vorangehe». Das Flämische ist als Volkssprache im Osten und Norden Belgiens beinahe unausrottbar, sür die Bildung des Landes wird es aber weniger leisten, als man erwartet. Andererseits liegt im französischen Idiom nicht die leiseste Gefahr für die Unabhängigkeit und selbstständige Entwicke¬ lung Belgiens; der germanische Charakter des kleinen Zwischenstaates liegt über¬ haupt mehr in seinen Institutionen, als in seiner Sprache, so daß der französisch redende Brüsseler oder der wallonische Lütticher in vielen Fällen geneigter sein wird, sich an Deutschland anzulehnen, als der stockflämische Genter. Diese Be¬ hauptungen wollen wir motiviren. Das Flämische unterscheidet sich vom Holländischen nur durch größere Armuth und durch Mangel an Bildung. Von deutschen Mundarten ähnelt ihm am meisten das niederrheinische Platt. Es wird von über zwei Millionen Menschen, jedoch mit mancherlei Abweichungen, gesprochen, am reinsten in Antwerpen und Gent, — auch diese beiden Städte variiren und führten lauge eine orthographische Fehde — am vcrdorbensten von der untern Volksklasse in Brüssel. Selbst in ganz unverwälschten Gegenden, wie in Antwerpen, Ost- und Westflauder«, nimmt das Flämische keine viel höhere Stellung ein wie in unserem Norden das Platt ; wenn das Gespräch der Gebildeten sich in Höhere Regionen versteigt, fühlen sie sich bald gezwungen, Französisch zu reden, mag ihr Französisch auch nicht vom Feinster sein. Die literarischen Bestrebungen des seligen Willens, die Gedichte von Van Duyse und der Ruhm von Heudrik Conscience haben darin bis jetzt nicht das Mindeste geändert, und doch dauert die Agitation seit mehr als sechzehn Jahren. In der ersten Zeit nach der Losreißung von Holland war das Flämische scheel angesehen; die den neuen Staat organistrten, Advokaten, Journalisten und Priester, waren zum großen Theil unter Napoleon erzogen und in der Opposition gegen die Holländisirnngssucht des Königs der Niederlande aufgewachsen; außer¬ dem gab es im Osten eine starke orangistische Partei und das Nationalgefühl,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92822/391>, abgerufen am 24.07.2024.