Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite
Gerichtliche Verfolgungen gegen die Demokratie.
Preußischer Brief.



Der Eindruck, welchen die von den preußischen Staatsanwaltschaften angereg¬
ten politischen Prozesse machen, ist noch bei Weitem widerlicher, als der des stand¬
rechtlichen Verfahrens im Mai und Juni; aber so roh und barbarisch dieses war,
es wurde in einer Zeit fliegender Hitze ausgeübt, in einer Zeit aufquellender po¬
litischer Leidenschaft/ die sich so wenig als irgend möglich mit dem Schein der
Gesetzlichkeit zu umhüllen strebte. schauderte man auch zusammen über die Schüsse,
welche die Brust der besiegten Republikaner durchbohrten, so war man da¬
mals doch an den Geruch des Blutes gewöhnt; ein paar Todte mehr oder weni¬
ger, das wollte damals nicht gar so viel sagen. Aber heute, wo überall der ge¬
ordnete Zustand wieder hergestellt ist, wo die Begriffe des Rechts durch das Fieber
des Augenblicks nicht mehr verwirrt werden, heute empört es, wenn man die
Geschichte auf die Bank der Angeklagten sperrt und sie nach einem Maßstab zu
richten unternimmt, welcher nicht der ihrige ist. Man stellt die gesetzlichen Begriffe
einer früheren Zeit der natürlichen Empfindung und dem gesunden Menschenver¬
stande gegenüber, und treibt diesen in eine Sophistik^deren Schuld auf die An¬
kläger zurückfällt. Nach den Begriffen des alten Criminalrechts war die ganze
Geschichte von 48 und 4ö*ein fortlaufendes Verbrechen; wollt ihr gerecht sein, so
tretet selber im Büßerhemdchen, den Strick um den Hals, vor euern eigenen Al¬
tar, denn es ist Keiner unter euch, der unschuldig sei, auch nicht Einer.

Warum richtet sich die Verfolgung nicht gegen die beiden größten Verbrechen
der Revolution? Gegen den 18. März und gegen das Vorparlament?

Weil sich mit diesen beiden Verbrechen die gesammte Legitimität compromittirt
hat. Vor den Männern der Barrikade hat der König von Preußen den Helm
abgenommen, er hat selber ihre Fahne in die Hand genommen und ist so durch
die Straßen von Berlin geritten. Vor den Beschlüssen jener Demagogeuversamm-
lung hat sich der Bundestag gebeugt; er hat der neuen Zeit gehuldigt und sich
aufgelöst, sobald sie es befahl.

Wenn man aber nicht den Muth hat, einen radikalen Schnitt in die Rechts-
begriffe der letzten Jahre zu thun, so sollte man doch fühlen, wie kleinlich es ist,
sein Müthchen an den schwächeren Ausläufer eines Prinzips zu kühlen, dem man
in seiner Totalität nicht gewachsen ist! Denn was waren die Stuttgarter Be¬
schlüsse und die darauf folgende Bewegung gegen die revolutionäre Bedeutung des
Vorparlaments? Was die Steuerverweigerung gegen jene verhängnißvolle Nacht,


Grenzbvt-n. l. 1850. Zg
Gerichtliche Verfolgungen gegen die Demokratie.
Preußischer Brief.



Der Eindruck, welchen die von den preußischen Staatsanwaltschaften angereg¬
ten politischen Prozesse machen, ist noch bei Weitem widerlicher, als der des stand¬
rechtlichen Verfahrens im Mai und Juni; aber so roh und barbarisch dieses war,
es wurde in einer Zeit fliegender Hitze ausgeübt, in einer Zeit aufquellender po¬
litischer Leidenschaft/ die sich so wenig als irgend möglich mit dem Schein der
Gesetzlichkeit zu umhüllen strebte. schauderte man auch zusammen über die Schüsse,
welche die Brust der besiegten Republikaner durchbohrten, so war man da¬
mals doch an den Geruch des Blutes gewöhnt; ein paar Todte mehr oder weni¬
ger, das wollte damals nicht gar so viel sagen. Aber heute, wo überall der ge¬
ordnete Zustand wieder hergestellt ist, wo die Begriffe des Rechts durch das Fieber
des Augenblicks nicht mehr verwirrt werden, heute empört es, wenn man die
Geschichte auf die Bank der Angeklagten sperrt und sie nach einem Maßstab zu
richten unternimmt, welcher nicht der ihrige ist. Man stellt die gesetzlichen Begriffe
einer früheren Zeit der natürlichen Empfindung und dem gesunden Menschenver¬
stande gegenüber, und treibt diesen in eine Sophistik^deren Schuld auf die An¬
kläger zurückfällt. Nach den Begriffen des alten Criminalrechts war die ganze
Geschichte von 48 und 4ö*ein fortlaufendes Verbrechen; wollt ihr gerecht sein, so
tretet selber im Büßerhemdchen, den Strick um den Hals, vor euern eigenen Al¬
tar, denn es ist Keiner unter euch, der unschuldig sei, auch nicht Einer.

Warum richtet sich die Verfolgung nicht gegen die beiden größten Verbrechen
der Revolution? Gegen den 18. März und gegen das Vorparlament?

Weil sich mit diesen beiden Verbrechen die gesammte Legitimität compromittirt
hat. Vor den Männern der Barrikade hat der König von Preußen den Helm
abgenommen, er hat selber ihre Fahne in die Hand genommen und ist so durch
die Straßen von Berlin geritten. Vor den Beschlüssen jener Demagogeuversamm-
lung hat sich der Bundestag gebeugt; er hat der neuen Zeit gehuldigt und sich
aufgelöst, sobald sie es befahl.

Wenn man aber nicht den Muth hat, einen radikalen Schnitt in die Rechts-
begriffe der letzten Jahre zu thun, so sollte man doch fühlen, wie kleinlich es ist,
sein Müthchen an den schwächeren Ausläufer eines Prinzips zu kühlen, dem man
in seiner Totalität nicht gewachsen ist! Denn was waren die Stuttgarter Be¬
schlüsse und die darauf folgende Bewegung gegen die revolutionäre Bedeutung des
Vorparlaments? Was die Steuerverweigerung gegen jene verhängnißvolle Nacht,


Grenzbvt-n. l. 1850. Zg
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0305" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/93128"/>
          </div>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Gerichtliche Verfolgungen gegen die Demokratie.<lb/>
Preußischer Brief.</head><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
          <p xml:id="ID_1044"> Der Eindruck, welchen die von den preußischen Staatsanwaltschaften angereg¬<lb/>
ten politischen Prozesse machen, ist noch bei Weitem widerlicher, als der des stand¬<lb/>
rechtlichen Verfahrens im Mai und Juni; aber so roh und barbarisch dieses war,<lb/>
es wurde in einer Zeit fliegender Hitze ausgeübt, in einer Zeit aufquellender po¬<lb/>
litischer Leidenschaft/ die sich so wenig als irgend möglich mit dem Schein der<lb/>
Gesetzlichkeit zu umhüllen strebte. schauderte man auch zusammen über die Schüsse,<lb/>
welche die Brust der besiegten Republikaner durchbohrten, so war man da¬<lb/>
mals doch an den Geruch des Blutes gewöhnt; ein paar Todte mehr oder weni¬<lb/>
ger, das wollte damals nicht gar so viel sagen. Aber heute, wo überall der ge¬<lb/>
ordnete Zustand wieder hergestellt ist, wo die Begriffe des Rechts durch das Fieber<lb/>
des Augenblicks nicht mehr verwirrt werden, heute empört es, wenn man die<lb/>
Geschichte auf die Bank der Angeklagten sperrt und sie nach einem Maßstab zu<lb/>
richten unternimmt, welcher nicht der ihrige ist. Man stellt die gesetzlichen Begriffe<lb/>
einer früheren Zeit der natürlichen Empfindung und dem gesunden Menschenver¬<lb/>
stande gegenüber, und treibt diesen in eine Sophistik^deren Schuld auf die An¬<lb/>
kläger zurückfällt. Nach den Begriffen des alten Criminalrechts war die ganze<lb/>
Geschichte von 48 und 4ö*ein fortlaufendes Verbrechen; wollt ihr gerecht sein, so<lb/>
tretet selber im Büßerhemdchen, den Strick um den Hals, vor euern eigenen Al¬<lb/>
tar, denn es ist Keiner unter euch, der unschuldig sei, auch nicht Einer.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1045"> Warum richtet sich die Verfolgung nicht gegen die beiden größten Verbrechen<lb/>
der Revolution? Gegen den 18. März und gegen das Vorparlament?</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1046"> Weil sich mit diesen beiden Verbrechen die gesammte Legitimität compromittirt<lb/>
hat. Vor den Männern der Barrikade hat der König von Preußen den Helm<lb/>
abgenommen, er hat selber ihre Fahne in die Hand genommen und ist so durch<lb/>
die Straßen von Berlin geritten. Vor den Beschlüssen jener Demagogeuversamm-<lb/>
lung hat sich der Bundestag gebeugt; er hat der neuen Zeit gehuldigt und sich<lb/>
aufgelöst, sobald sie es befahl.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1047" next="#ID_1048"> Wenn man aber nicht den Muth hat, einen radikalen Schnitt in die Rechts-<lb/>
begriffe der letzten Jahre zu thun, so sollte man doch fühlen, wie kleinlich es ist,<lb/>
sein Müthchen an den schwächeren Ausläufer eines Prinzips zu kühlen, dem man<lb/>
in seiner Totalität nicht gewachsen ist! Denn was waren die Stuttgarter Be¬<lb/>
schlüsse und die darauf folgende Bewegung gegen die revolutionäre Bedeutung des<lb/>
Vorparlaments? Was die Steuerverweigerung gegen jene verhängnißvolle Nacht,</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzbvt-n. l. 1850. Zg</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0305] Gerichtliche Verfolgungen gegen die Demokratie. Preußischer Brief. Der Eindruck, welchen die von den preußischen Staatsanwaltschaften angereg¬ ten politischen Prozesse machen, ist noch bei Weitem widerlicher, als der des stand¬ rechtlichen Verfahrens im Mai und Juni; aber so roh und barbarisch dieses war, es wurde in einer Zeit fliegender Hitze ausgeübt, in einer Zeit aufquellender po¬ litischer Leidenschaft/ die sich so wenig als irgend möglich mit dem Schein der Gesetzlichkeit zu umhüllen strebte. schauderte man auch zusammen über die Schüsse, welche die Brust der besiegten Republikaner durchbohrten, so war man da¬ mals doch an den Geruch des Blutes gewöhnt; ein paar Todte mehr oder weni¬ ger, das wollte damals nicht gar so viel sagen. Aber heute, wo überall der ge¬ ordnete Zustand wieder hergestellt ist, wo die Begriffe des Rechts durch das Fieber des Augenblicks nicht mehr verwirrt werden, heute empört es, wenn man die Geschichte auf die Bank der Angeklagten sperrt und sie nach einem Maßstab zu richten unternimmt, welcher nicht der ihrige ist. Man stellt die gesetzlichen Begriffe einer früheren Zeit der natürlichen Empfindung und dem gesunden Menschenver¬ stande gegenüber, und treibt diesen in eine Sophistik^deren Schuld auf die An¬ kläger zurückfällt. Nach den Begriffen des alten Criminalrechts war die ganze Geschichte von 48 und 4ö*ein fortlaufendes Verbrechen; wollt ihr gerecht sein, so tretet selber im Büßerhemdchen, den Strick um den Hals, vor euern eigenen Al¬ tar, denn es ist Keiner unter euch, der unschuldig sei, auch nicht Einer. Warum richtet sich die Verfolgung nicht gegen die beiden größten Verbrechen der Revolution? Gegen den 18. März und gegen das Vorparlament? Weil sich mit diesen beiden Verbrechen die gesammte Legitimität compromittirt hat. Vor den Männern der Barrikade hat der König von Preußen den Helm abgenommen, er hat selber ihre Fahne in die Hand genommen und ist so durch die Straßen von Berlin geritten. Vor den Beschlüssen jener Demagogeuversamm- lung hat sich der Bundestag gebeugt; er hat der neuen Zeit gehuldigt und sich aufgelöst, sobald sie es befahl. Wenn man aber nicht den Muth hat, einen radikalen Schnitt in die Rechts- begriffe der letzten Jahre zu thun, so sollte man doch fühlen, wie kleinlich es ist, sein Müthchen an den schwächeren Ausläufer eines Prinzips zu kühlen, dem man in seiner Totalität nicht gewachsen ist! Denn was waren die Stuttgarter Be¬ schlüsse und die darauf folgende Bewegung gegen die revolutionäre Bedeutung des Vorparlaments? Was die Steuerverweigerung gegen jene verhängnißvolle Nacht, Grenzbvt-n. l. 1850. Zg

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92822
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92822/305
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92822/305>, abgerufen am 21.06.2024.