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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band.

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Weib tödten, das dich betrügt? -- O nein! Du wirst sie nicht tödten, du wirst
dich zu ihren Füßen legen, wie sonst; nur traurig wirst du sein." -- Als ihm
Jane erklärt, sie habe ihn immer geliebt, auch da sie ihm untreu war, geräth
er außer sich , stürzt ihr zu Füßen, und ruft: "Du bist ein Engel I Du bist mein
Weib!" wodurch sie sittlich rehabilitirt werden soll. -- Ein fortwährender Wechsel
der Stimmungen und Capricen, für welchen man jeden Faden verliert; eine ebenso
blutige als frivole Hetzjagd von Mordthaten, Hinrichtungen und ähnlichen Greueln,
und ein sittlicher Skepticismus, der sich am besten in dem Chorus des Stücks,
dem Gefangenwärter ausspricht, der früher in den Religionskriege" sich betheiligt
hat, und es erleben mußte, wie mau erst als Puritaner, dann als Katholik, denn
als Unentschiedener gehängt wurde. "Wenn mau alt wird, so vergißt man, um
was für Ideen man sich eigentlich gestritten hat. Auch die Ideen werden alt und
runzlig." -- Was ist das für eine Zeit! um sie mitzufühlen, muß mau sie in
ihrer Genesis verfolgen, wie in Shakespeare's Bürgerkriegen, deren Schluß in
Richard III. man dann wohl begreift. -- Der Schluß von Marie Tudor gehört
der Oper an: eine prächtige Dekoration, das illuminirte London und die Todten-
glvcke, die Fabiani's Todesgang begleitet. Der Maschinist hat gesiegt.

In ^uxelo, t^ran do k^non"; (1835) wiederholen sich die Conflicte
von Marion, Marie Tndor und Lucretia. Tishe, die Heldin, ist wie Marion eine
Courtisane mit einer reinen, hingebenden Liebe im Herzen; einer Liebe, die ab¬
solut alle Regungen des Herzens absorbirt und unergründlich ist wie das Meer;
wie Marie Tudor ist sie leidenschaftlich, capriciös, der wechselnden Fluth der
Stimmungen unterworfen, doch mit der Energie einer bestimmten Passion; viel
Seelengröße und Aufopferungsfähigkeit mit einem kleinen Anstrich von Gemein¬
heit. Der Tyrann liebt die Courtisane, die Courtisane liebt Rvdolfo, eine Figur
nach Byronschem Schnitt, Nodvlfo ist der Liebhaber der Gemahlin des Tyrannen.
In der Eifersucht schwankt Tishe eine Weile. "Wen soll ich tödten, ihn, sie oder
mich! Ich weiß es in der That nicht!" Die Liebe siegt, sie opfert sich, sie läßt
sich von Rodolfo tödten: "Welches Glück, von deiner Hand zu sterben! ich falle
bei der Gelegenheit vielleicht in deine Arme!" -- Die Leidenschaft ist stark genug
hinausgetrieben, zuweilen in's Possenhafte. So z. B. als die angeschuldigte
Gattin, die vor ihrem kalten und unbeweglichen Richter steht, in ihrer Herzens¬
angst sich an die Nebenbuhlerin wendet: "Die Männer wollen uns nie glauben!
und doch sagen wir mitunter die Wahrheit." -- Der Dichter erklärt die Recht¬
fertigung des schwächeren Geschlechts als die Hauptaufgabe seines Stücks. Er
will die Schuld auf den zurückschieben, dem sie zukommt; den stärkeren Mann
und den absurden Zustand der Gesellschaft. "Ich bin ans einem Schmutz in den
andern gefallen, sagt Tishe. Hunger oder Orgie! Freilich sagt man uns: sterbt
vor Hunger! Und das Erbarmen der Menschen ist nur für die großen Damen.
Aber die Geduld hat eine Grenze."


Weib tödten, das dich betrügt? — O nein! Du wirst sie nicht tödten, du wirst
dich zu ihren Füßen legen, wie sonst; nur traurig wirst du sein." — Als ihm
Jane erklärt, sie habe ihn immer geliebt, auch da sie ihm untreu war, geräth
er außer sich , stürzt ihr zu Füßen, und ruft: „Du bist ein Engel I Du bist mein
Weib!" wodurch sie sittlich rehabilitirt werden soll. — Ein fortwährender Wechsel
der Stimmungen und Capricen, für welchen man jeden Faden verliert; eine ebenso
blutige als frivole Hetzjagd von Mordthaten, Hinrichtungen und ähnlichen Greueln,
und ein sittlicher Skepticismus, der sich am besten in dem Chorus des Stücks,
dem Gefangenwärter ausspricht, der früher in den Religionskriege» sich betheiligt
hat, und es erleben mußte, wie mau erst als Puritaner, dann als Katholik, denn
als Unentschiedener gehängt wurde. „Wenn mau alt wird, so vergißt man, um
was für Ideen man sich eigentlich gestritten hat. Auch die Ideen werden alt und
runzlig." — Was ist das für eine Zeit! um sie mitzufühlen, muß mau sie in
ihrer Genesis verfolgen, wie in Shakespeare's Bürgerkriegen, deren Schluß in
Richard III. man dann wohl begreift. — Der Schluß von Marie Tudor gehört
der Oper an: eine prächtige Dekoration, das illuminirte London und die Todten-
glvcke, die Fabiani's Todesgang begleitet. Der Maschinist hat gesiegt.

In ^uxelo, t^ran do k^non«; (1835) wiederholen sich die Conflicte
von Marion, Marie Tndor und Lucretia. Tishe, die Heldin, ist wie Marion eine
Courtisane mit einer reinen, hingebenden Liebe im Herzen; einer Liebe, die ab¬
solut alle Regungen des Herzens absorbirt und unergründlich ist wie das Meer;
wie Marie Tudor ist sie leidenschaftlich, capriciös, der wechselnden Fluth der
Stimmungen unterworfen, doch mit der Energie einer bestimmten Passion; viel
Seelengröße und Aufopferungsfähigkeit mit einem kleinen Anstrich von Gemein¬
heit. Der Tyrann liebt die Courtisane, die Courtisane liebt Rvdolfo, eine Figur
nach Byronschem Schnitt, Nodvlfo ist der Liebhaber der Gemahlin des Tyrannen.
In der Eifersucht schwankt Tishe eine Weile. „Wen soll ich tödten, ihn, sie oder
mich! Ich weiß es in der That nicht!" Die Liebe siegt, sie opfert sich, sie läßt
sich von Rodolfo tödten: „Welches Glück, von deiner Hand zu sterben! ich falle
bei der Gelegenheit vielleicht in deine Arme!" — Die Leidenschaft ist stark genug
hinausgetrieben, zuweilen in's Possenhafte. So z. B. als die angeschuldigte
Gattin, die vor ihrem kalten und unbeweglichen Richter steht, in ihrer Herzens¬
angst sich an die Nebenbuhlerin wendet: „Die Männer wollen uns nie glauben!
und doch sagen wir mitunter die Wahrheit." — Der Dichter erklärt die Recht¬
fertigung des schwächeren Geschlechts als die Hauptaufgabe seines Stücks. Er
will die Schuld auf den zurückschieben, dem sie zukommt; den stärkeren Mann
und den absurden Zustand der Gesellschaft. „Ich bin ans einem Schmutz in den
andern gefallen, sagt Tishe. Hunger oder Orgie! Freilich sagt man uns: sterbt
vor Hunger! Und das Erbarmen der Menschen ist nur für die großen Damen.
Aber die Geduld hat eine Grenze."


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92822/298>, abgerufen am 27.06.2024.