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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band.

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mit der man sie ausführt und bespricht, noch einen besonderen Reiz gewinnen sol¬
len, die Hauptsache. Bei Eugen Tue ist es ganz derselbe Fall, nur daß bei der
natürlichen Rohheit des Mysteriendichters das rein Aeußerliche seiner sogenannten
Moral noch viel auffallender hervortritt. In einem seiner ersten Romane, Atar
Gull, ist die bei Victor Hugo immer mit einem geistigen Moment verflochtene
Amphibiennatnr des Menschen auf ihren primitiven, physischen Ausdruck zurück¬
geführt. Ein reicher Graf liebt eine Schauspielerin, und bringt mit ihr sein
Vermögen durch. Als es zu Ende ist, beschließen sie mit einander zu sterben und
zwar auf die möglichst romantische Weise, im Kusse. Sie nehmen eine Giftflasche
in den Mund, beißen ab, er schluckt es hinunter, sie spuckt es aus und nimmt
sich einen andern Liebhaber. Seine riesenhafte Natur erhält ihm das Leben, aber
der Verrath seiner Geliebten hat ihn so erschüttert, daß er, nachdem er zu Lande
die angemessene Zahl von Mordthaten ausgeübt, Seeräuber wird, und Alles was
ihm unter die Hände fällt, köpfen, hängen, schinden, viertheilen, kurz auf jede
mögliche Art schlecht behandeln läßt. Diese Greuelthaten füllen seine Seele nicht
ganz aus, er nimmt daher jeden Abend Opium, und versetzt sich dadurch in einen
Traum, in dem er sich selbst als der tugendhafteste und glücklichste Mensch
von der Welt vorkommt, sich in den heitersten und lachendsten Phantasien ergeht,
und jede Spur von seinem blutigen Tugesleben verloren hat -- eine Spaltung,
die auf das angemessene viehische Medium zurückgeführt, im Uebrigen völlig der
Doppelnatur eines Tribonlet und eiuer Lucretia entspricht.

Mit besonderer Vorliebe malen die Romantiker diese Doppelnatur bei einer
Klasse aus, welche in den Angen der übrigen Welt als die verworfenste gilt, den
öffentlichen Mädchen, die sich für Geld preisgeben. Alle Welt kennt Eugen
Sue's I?Jour "l"; Um-I", die im Schmutz der gemeinsten Winkelhäuser der Cite in
Beziehung auf das Innerste ihrer Seele so jungfräulich und heilig bleibt, wie
die Mutter Gottes, uach der sie deu Namen hat. Wie eine solche Reinheit und
Keuschheit möglich ist, wenn man sich alle Nächte den viehischen Umarmungen betrun¬
kener Diebe und Morde-r hingibt, darüber bleibt uns der Dichter die Auskunft
schuldig. Es ist bei ihm -- wie bei der genialeren Fraction des Socialismus
Dogma, daß das Laster nicht Laster ist, und um dieses Dogma zu versinnlichen,
kommt es ihm auf ein paar Lügen oder Unmöglichkeiten mehr oder weniger
nicht an.

Victor Hugo hat immer ein großes Interesse für diese Seite des socialen
Lebens gehabt. So schildert er in den Dämmeruugsgesängen die armen Dirnen
der Gasse, wie sie um den Eingang eines glänzenden Balllokales sich drängen,
und zu den tugendhaften und vornehmen Damen, die in prächtigen Carrossen an
ihnen vorüberfahren, mit Neid hinausblicken, "ihren schrecklichen Kummer in ein
spöttisches Lächeln verhüllend, Blumen im Haar, Schmutz an den Füßen, Haß
im Herzen." Aber setzt er hinzu: "Dieser Schmutz enthält noch das reine Wasser: -- "


mit der man sie ausführt und bespricht, noch einen besonderen Reiz gewinnen sol¬
len, die Hauptsache. Bei Eugen Tue ist es ganz derselbe Fall, nur daß bei der
natürlichen Rohheit des Mysteriendichters das rein Aeußerliche seiner sogenannten
Moral noch viel auffallender hervortritt. In einem seiner ersten Romane, Atar
Gull, ist die bei Victor Hugo immer mit einem geistigen Moment verflochtene
Amphibiennatnr des Menschen auf ihren primitiven, physischen Ausdruck zurück¬
geführt. Ein reicher Graf liebt eine Schauspielerin, und bringt mit ihr sein
Vermögen durch. Als es zu Ende ist, beschließen sie mit einander zu sterben und
zwar auf die möglichst romantische Weise, im Kusse. Sie nehmen eine Giftflasche
in den Mund, beißen ab, er schluckt es hinunter, sie spuckt es aus und nimmt
sich einen andern Liebhaber. Seine riesenhafte Natur erhält ihm das Leben, aber
der Verrath seiner Geliebten hat ihn so erschüttert, daß er, nachdem er zu Lande
die angemessene Zahl von Mordthaten ausgeübt, Seeräuber wird, und Alles was
ihm unter die Hände fällt, köpfen, hängen, schinden, viertheilen, kurz auf jede
mögliche Art schlecht behandeln läßt. Diese Greuelthaten füllen seine Seele nicht
ganz aus, er nimmt daher jeden Abend Opium, und versetzt sich dadurch in einen
Traum, in dem er sich selbst als der tugendhafteste und glücklichste Mensch
von der Welt vorkommt, sich in den heitersten und lachendsten Phantasien ergeht,
und jede Spur von seinem blutigen Tugesleben verloren hat — eine Spaltung,
die auf das angemessene viehische Medium zurückgeführt, im Uebrigen völlig der
Doppelnatur eines Tribonlet und eiuer Lucretia entspricht.

Mit besonderer Vorliebe malen die Romantiker diese Doppelnatur bei einer
Klasse aus, welche in den Angen der übrigen Welt als die verworfenste gilt, den
öffentlichen Mädchen, die sich für Geld preisgeben. Alle Welt kennt Eugen
Sue's I?Jour «l«; Um-I«, die im Schmutz der gemeinsten Winkelhäuser der Cite in
Beziehung auf das Innerste ihrer Seele so jungfräulich und heilig bleibt, wie
die Mutter Gottes, uach der sie deu Namen hat. Wie eine solche Reinheit und
Keuschheit möglich ist, wenn man sich alle Nächte den viehischen Umarmungen betrun¬
kener Diebe und Morde-r hingibt, darüber bleibt uns der Dichter die Auskunft
schuldig. Es ist bei ihm — wie bei der genialeren Fraction des Socialismus
Dogma, daß das Laster nicht Laster ist, und um dieses Dogma zu versinnlichen,
kommt es ihm auf ein paar Lügen oder Unmöglichkeiten mehr oder weniger
nicht an.

Victor Hugo hat immer ein großes Interesse für diese Seite des socialen
Lebens gehabt. So schildert er in den Dämmeruugsgesängen die armen Dirnen
der Gasse, wie sie um den Eingang eines glänzenden Balllokales sich drängen,
und zu den tugendhaften und vornehmen Damen, die in prächtigen Carrossen an
ihnen vorüberfahren, mit Neid hinausblicken, „ihren schrecklichen Kummer in ein
spöttisches Lächeln verhüllend, Blumen im Haar, Schmutz an den Füßen, Haß
im Herzen." Aber setzt er hinzu: „Dieser Schmutz enthält noch das reine Wasser: — "


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92822/295>, abgerufen am 27.06.2024.