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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band.

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nicht verstiegen. Denons läßt er keine Gelegenheit vorüber, in den Vorreden
zu seinen Stücken das Publikum darauf aufmerksam zu machen, daß er mit seinen
Poesien etwas viel Wichtigeres bezweckt, als die Poesie selbst. Er stellt die neue,
von ihm gefundene Form der Poesie mit der neuen Bewegung in der politischen
Welt i" Zusammenhang; für ein neues Volk zieme sich eine neue Kunst. "Her-
nani", sagt er in der Vorrede zu diesem Drama, "ist nur der erste Stein zu ei¬
nem Ban, der schon ganz ausgeführt in dem Kopf seines Urhebers lebt, dessen
Totalität aber erst jenem Werke einigen Werth verleihen kann." "Der Dichter"
(Vorrede zur Lucrezia) fragt sich bei jedem Werk mit Strenge und Sammlung
nach der philosophischen Bedeutung desselben, denn er sühlt sich verantwortlich,
er will nicht, daß eines Tages das Volk von ihm Rechenschaft fordere für das,
was er es gelehrt. Die Seelen sind ihm anvertraut. Die Menge darf nicht aus
dem Theater gehn, ohne irgend eine ernsthafte und tiefe Moral mitzunehmen. . .
Das Drama, wie er es sich denkt, darf sich mit Allem befassen, ohne Furcht, sich
zu beschmutzen. Flöße überall eine Idee der Tugend und der Barmherzigkeit ein,
und es gibt nichts Häßliches und Abstoßendes mehr. Mit dem häßlichsten Ge¬
genstand verknüpft einen religiösen Gedanken, und er wird heilig und rein. Hängt
Gott an den Galgen, und ihr habt das Kreuz. -- So oft er die Wunden und
das Elend der Menschheit entfaltet, so wird er auf die häßliche Nacktheit den
Schleier einer tröstenden und ernsthaften Idee werfen." Wenn er Marion de
Lorme auf die Scene bringt, so reinigt er die Courtisane durch ein wenig Liebe.
In den Saal des Festgelages stellt er den Sarg, den Refrain der Orgie unter-
bricht er durch Todtengesänge. "Nehmt die häßlichste Mißgestalt, gebt ihr eine
Seele, und legt in diese Seele das heiligste Gefühl des Menschen, die Vater¬
liebe, und durch diese erhabene Empfindung verwandelt sich vor euern Augen die
entartete Kreatur." So reinigt in Lucrezia das mütterliche Gefühl die moralische
Difformität, n. s. w.

Die Grundlage dieses modernen Dramas findet Victor Hugo im Christen¬
thum. "Als erste Wahrheit lehrt es (Vorrede zum Cromwell), daß der Mensch
ein zweifaches Leben hat, in seiner Anlage wie in seiner Bestimmung. Er ist zu¬
gleich Bestie und Geist. Er ist der Knotenpunkt, der gemeinsame Ring zweier
Ketten von Wesen, welche die ganze Schöpfung umfassen: vom Stein auf bis zum
Menschen, vom Menschen ans bis zu Gott."

Wenn man den allgemeinen Gedanken dieser ziemlich verworrenen Deduction
festhält, so bleibt übrig, was wir falschen Idealismus nennen, eine Verirrung der
Poesie, die sich bei unsern Dichtern häufig genug findet, namentlich bei Schiller.
Weil man sich ein verkehrtes, rosenblutwangiges Ideal ausmalt, ein Ideal, in
welchem die widersprechendsten Eigenschaften, z. B. Unschuld und Tugend sich
harmonisch vereinigen sollen, so wird das Leben zu einem geistlosen Gewebe end¬
licher Beziehungen. Eo hat das Christenthum durch deit Gegensatz des Himmels


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nicht verstiegen. Denons läßt er keine Gelegenheit vorüber, in den Vorreden
zu seinen Stücken das Publikum darauf aufmerksam zu machen, daß er mit seinen
Poesien etwas viel Wichtigeres bezweckt, als die Poesie selbst. Er stellt die neue,
von ihm gefundene Form der Poesie mit der neuen Bewegung in der politischen
Welt i» Zusammenhang; für ein neues Volk zieme sich eine neue Kunst. „Her-
nani", sagt er in der Vorrede zu diesem Drama, „ist nur der erste Stein zu ei¬
nem Ban, der schon ganz ausgeführt in dem Kopf seines Urhebers lebt, dessen
Totalität aber erst jenem Werke einigen Werth verleihen kann." „Der Dichter"
(Vorrede zur Lucrezia) fragt sich bei jedem Werk mit Strenge und Sammlung
nach der philosophischen Bedeutung desselben, denn er sühlt sich verantwortlich,
er will nicht, daß eines Tages das Volk von ihm Rechenschaft fordere für das,
was er es gelehrt. Die Seelen sind ihm anvertraut. Die Menge darf nicht aus
dem Theater gehn, ohne irgend eine ernsthafte und tiefe Moral mitzunehmen. . .
Das Drama, wie er es sich denkt, darf sich mit Allem befassen, ohne Furcht, sich
zu beschmutzen. Flöße überall eine Idee der Tugend und der Barmherzigkeit ein,
und es gibt nichts Häßliches und Abstoßendes mehr. Mit dem häßlichsten Ge¬
genstand verknüpft einen religiösen Gedanken, und er wird heilig und rein. Hängt
Gott an den Galgen, und ihr habt das Kreuz. — So oft er die Wunden und
das Elend der Menschheit entfaltet, so wird er auf die häßliche Nacktheit den
Schleier einer tröstenden und ernsthaften Idee werfen." Wenn er Marion de
Lorme auf die Scene bringt, so reinigt er die Courtisane durch ein wenig Liebe.
In den Saal des Festgelages stellt er den Sarg, den Refrain der Orgie unter-
bricht er durch Todtengesänge. „Nehmt die häßlichste Mißgestalt, gebt ihr eine
Seele, und legt in diese Seele das heiligste Gefühl des Menschen, die Vater¬
liebe, und durch diese erhabene Empfindung verwandelt sich vor euern Augen die
entartete Kreatur." So reinigt in Lucrezia das mütterliche Gefühl die moralische
Difformität, n. s. w.

Die Grundlage dieses modernen Dramas findet Victor Hugo im Christen¬
thum. „Als erste Wahrheit lehrt es (Vorrede zum Cromwell), daß der Mensch
ein zweifaches Leben hat, in seiner Anlage wie in seiner Bestimmung. Er ist zu¬
gleich Bestie und Geist. Er ist der Knotenpunkt, der gemeinsame Ring zweier
Ketten von Wesen, welche die ganze Schöpfung umfassen: vom Stein auf bis zum
Menschen, vom Menschen ans bis zu Gott."

Wenn man den allgemeinen Gedanken dieser ziemlich verworrenen Deduction
festhält, so bleibt übrig, was wir falschen Idealismus nennen, eine Verirrung der
Poesie, die sich bei unsern Dichtern häufig genug findet, namentlich bei Schiller.
Weil man sich ein verkehrtes, rosenblutwangiges Ideal ausmalt, ein Ideal, in
welchem die widersprechendsten Eigenschaften, z. B. Unschuld und Tugend sich
harmonisch vereinigen sollen, so wird das Leben zu einem geistlosen Gewebe end¬
licher Beziehungen. Eo hat das Christenthum durch deit Gegensatz des Himmels


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[0291] nicht verstiegen. Denons läßt er keine Gelegenheit vorüber, in den Vorreden zu seinen Stücken das Publikum darauf aufmerksam zu machen, daß er mit seinen Poesien etwas viel Wichtigeres bezweckt, als die Poesie selbst. Er stellt die neue, von ihm gefundene Form der Poesie mit der neuen Bewegung in der politischen Welt i» Zusammenhang; für ein neues Volk zieme sich eine neue Kunst. „Her- nani", sagt er in der Vorrede zu diesem Drama, „ist nur der erste Stein zu ei¬ nem Ban, der schon ganz ausgeführt in dem Kopf seines Urhebers lebt, dessen Totalität aber erst jenem Werke einigen Werth verleihen kann." „Der Dichter" (Vorrede zur Lucrezia) fragt sich bei jedem Werk mit Strenge und Sammlung nach der philosophischen Bedeutung desselben, denn er sühlt sich verantwortlich, er will nicht, daß eines Tages das Volk von ihm Rechenschaft fordere für das, was er es gelehrt. Die Seelen sind ihm anvertraut. Die Menge darf nicht aus dem Theater gehn, ohne irgend eine ernsthafte und tiefe Moral mitzunehmen. . . Das Drama, wie er es sich denkt, darf sich mit Allem befassen, ohne Furcht, sich zu beschmutzen. Flöße überall eine Idee der Tugend und der Barmherzigkeit ein, und es gibt nichts Häßliches und Abstoßendes mehr. Mit dem häßlichsten Ge¬ genstand verknüpft einen religiösen Gedanken, und er wird heilig und rein. Hängt Gott an den Galgen, und ihr habt das Kreuz. — So oft er die Wunden und das Elend der Menschheit entfaltet, so wird er auf die häßliche Nacktheit den Schleier einer tröstenden und ernsthaften Idee werfen." Wenn er Marion de Lorme auf die Scene bringt, so reinigt er die Courtisane durch ein wenig Liebe. In den Saal des Festgelages stellt er den Sarg, den Refrain der Orgie unter- bricht er durch Todtengesänge. „Nehmt die häßlichste Mißgestalt, gebt ihr eine Seele, und legt in diese Seele das heiligste Gefühl des Menschen, die Vater¬ liebe, und durch diese erhabene Empfindung verwandelt sich vor euern Augen die entartete Kreatur." So reinigt in Lucrezia das mütterliche Gefühl die moralische Difformität, n. s. w. Die Grundlage dieses modernen Dramas findet Victor Hugo im Christen¬ thum. „Als erste Wahrheit lehrt es (Vorrede zum Cromwell), daß der Mensch ein zweifaches Leben hat, in seiner Anlage wie in seiner Bestimmung. Er ist zu¬ gleich Bestie und Geist. Er ist der Knotenpunkt, der gemeinsame Ring zweier Ketten von Wesen, welche die ganze Schöpfung umfassen: vom Stein auf bis zum Menschen, vom Menschen ans bis zu Gott." Wenn man den allgemeinen Gedanken dieser ziemlich verworrenen Deduction festhält, so bleibt übrig, was wir falschen Idealismus nennen, eine Verirrung der Poesie, die sich bei unsern Dichtern häufig genug findet, namentlich bei Schiller. Weil man sich ein verkehrtes, rosenblutwangiges Ideal ausmalt, ein Ideal, in welchem die widersprechendsten Eigenschaften, z. B. Unschuld und Tugend sich harmonisch vereinigen sollen, so wird das Leben zu einem geistlosen Gewebe end¬ licher Beziehungen. Eo hat das Christenthum durch deit Gegensatz des Himmels 36*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92822/291>, abgerufen am 27.06.2024.