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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band.

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Studien zur Geschichte der französischen Romantik.
Die Poesie des Kontrastes.



^ttavde-i Dien an gibst, vous ave? la croix.
V. UnZo.

Man wird sich aus meinen früheren Aufsätzen über die französische Romantik
erinnern, wie ich das wesentliche Moment, durch welches der erste derselben, Vic¬
tor Hugo, die Poesie bereichert, in der Emancipation des Häßlichen für das Reich
der Kunst gefunden habe. In der ersten Auffassung wird es durch naive Neben¬
einanderstellung neben das Schöne, oder auch geradezu für sich allein eingebürgert.
Allein auch in dem verkehrtesten Gemüth treibt die Dissonanz zu dem Versuch ei¬
ner Auflösung. Die Auflösung, bei welcher Victor Hugo stehen geblieben ist, be¬
ruht in der Combination des Schönen und Häßlichen in demselben Subjekt. Der
bis dahin äußerliche Contrast wird aus diese Weise in das Innerliche gelegt, und
freilich durch einen wieder sehr äußerlichen Prozeß identificirt. .

Daß dieser Prozeß nicht willkürlich von dem Dichter erfunden ist, lehrt ein
kurzer Hinblick auf die gleichzeitige Literatur. Von den Dramen Victor Hugo's,
die vorzugsweise in diese Richtung einschlagen, fällt Marion de Lorme in das
Jahr 1829, I^e Ka s'Sanho 1832, Lucreze Borgia und Marie Tudor 1833.
Heine's Reisebilder, die in einer anderem Gattung denselben Zweck verfolgen, er¬
schienen 1826, Bulwer's Engen Aram 1831, das Compendium der Se. Simo¬
nistischen Religion, worin die Anbetung Lucifers ungefähr aus den nämlichen
Grundgedanken herauskam, den die französische Romantik überhaupt festhielt, 1830,
die Scenen aus dem Pariser Leben von Balzac 1832, G. Sand's Jndiane und
Valentine 1832 , I^o secretmre intimo und Lelia 1835 , Jaques 1834, Leone
Leoni 1835. In derselben Zeit erfolgt denn auch der Stoß des jungen Deutsch¬
land. --

Victor Hugo unterscheidet sich von den nebligen dadurch, daß er seine poeti¬
schen Einfälle mit einem größern Ernst durch die Theorie zu rechtfertigen sucht.
Aber in der Theorie, wenn sie auf's Mystische ausgeht, bleibt der Franzose immer
ein Kind neben dem Deutschen. Ich führe daher die Worte eines deutschen Dich-


Gmizbotm. >> 18S0. 36
Studien zur Geschichte der französischen Romantik.
Die Poesie des Kontrastes.



^ttavde-i Dien an gibst, vous ave? la croix.
V. UnZo.

Man wird sich aus meinen früheren Aufsätzen über die französische Romantik
erinnern, wie ich das wesentliche Moment, durch welches der erste derselben, Vic¬
tor Hugo, die Poesie bereichert, in der Emancipation des Häßlichen für das Reich
der Kunst gefunden habe. In der ersten Auffassung wird es durch naive Neben¬
einanderstellung neben das Schöne, oder auch geradezu für sich allein eingebürgert.
Allein auch in dem verkehrtesten Gemüth treibt die Dissonanz zu dem Versuch ei¬
ner Auflösung. Die Auflösung, bei welcher Victor Hugo stehen geblieben ist, be¬
ruht in der Combination des Schönen und Häßlichen in demselben Subjekt. Der
bis dahin äußerliche Contrast wird aus diese Weise in das Innerliche gelegt, und
freilich durch einen wieder sehr äußerlichen Prozeß identificirt. .

Daß dieser Prozeß nicht willkürlich von dem Dichter erfunden ist, lehrt ein
kurzer Hinblick auf die gleichzeitige Literatur. Von den Dramen Victor Hugo's,
die vorzugsweise in diese Richtung einschlagen, fällt Marion de Lorme in das
Jahr 1829, I^e Ka s'Sanho 1832, Lucreze Borgia und Marie Tudor 1833.
Heine's Reisebilder, die in einer anderem Gattung denselben Zweck verfolgen, er¬
schienen 1826, Bulwer's Engen Aram 1831, das Compendium der Se. Simo¬
nistischen Religion, worin die Anbetung Lucifers ungefähr aus den nämlichen
Grundgedanken herauskam, den die französische Romantik überhaupt festhielt, 1830,
die Scenen aus dem Pariser Leben von Balzac 1832, G. Sand's Jndiane und
Valentine 1832 , I^o secretmre intimo und Lelia 1835 , Jaques 1834, Leone
Leoni 1835. In derselben Zeit erfolgt denn auch der Stoß des jungen Deutsch¬
land. —

Victor Hugo unterscheidet sich von den nebligen dadurch, daß er seine poeti¬
schen Einfälle mit einem größern Ernst durch die Theorie zu rechtfertigen sucht.
Aber in der Theorie, wenn sie auf's Mystische ausgeht, bleibt der Franzose immer
ein Kind neben dem Deutschen. Ich führe daher die Worte eines deutschen Dich-


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[0289] Studien zur Geschichte der französischen Romantik. Die Poesie des Kontrastes. ^ttavde-i Dien an gibst, vous ave? la croix. V. UnZo. Man wird sich aus meinen früheren Aufsätzen über die französische Romantik erinnern, wie ich das wesentliche Moment, durch welches der erste derselben, Vic¬ tor Hugo, die Poesie bereichert, in der Emancipation des Häßlichen für das Reich der Kunst gefunden habe. In der ersten Auffassung wird es durch naive Neben¬ einanderstellung neben das Schöne, oder auch geradezu für sich allein eingebürgert. Allein auch in dem verkehrtesten Gemüth treibt die Dissonanz zu dem Versuch ei¬ ner Auflösung. Die Auflösung, bei welcher Victor Hugo stehen geblieben ist, be¬ ruht in der Combination des Schönen und Häßlichen in demselben Subjekt. Der bis dahin äußerliche Contrast wird aus diese Weise in das Innerliche gelegt, und freilich durch einen wieder sehr äußerlichen Prozeß identificirt. . Daß dieser Prozeß nicht willkürlich von dem Dichter erfunden ist, lehrt ein kurzer Hinblick auf die gleichzeitige Literatur. Von den Dramen Victor Hugo's, die vorzugsweise in diese Richtung einschlagen, fällt Marion de Lorme in das Jahr 1829, I^e Ka s'Sanho 1832, Lucreze Borgia und Marie Tudor 1833. Heine's Reisebilder, die in einer anderem Gattung denselben Zweck verfolgen, er¬ schienen 1826, Bulwer's Engen Aram 1831, das Compendium der Se. Simo¬ nistischen Religion, worin die Anbetung Lucifers ungefähr aus den nämlichen Grundgedanken herauskam, den die französische Romantik überhaupt festhielt, 1830, die Scenen aus dem Pariser Leben von Balzac 1832, G. Sand's Jndiane und Valentine 1832 , I^o secretmre intimo und Lelia 1835 , Jaques 1834, Leone Leoni 1835. In derselben Zeit erfolgt denn auch der Stoß des jungen Deutsch¬ land. — Victor Hugo unterscheidet sich von den nebligen dadurch, daß er seine poeti¬ schen Einfälle mit einem größern Ernst durch die Theorie zu rechtfertigen sucht. Aber in der Theorie, wenn sie auf's Mystische ausgeht, bleibt der Franzose immer ein Kind neben dem Deutschen. Ich führe daher die Worte eines deutschen Dich- Gmizbotm. >> 18S0. 36

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92822/289>, abgerufen am 24.07.2024.