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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band.

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blinder Kampfeswuth sich losstürzen: es gilt fortan mit Beobachtung der Regeln .
der Courtoisie zu turnieren. Schon das Beisammensein mit vielen zum Theil
ausgezeichneten Jüngern derselben Wissenschaft gibt ein erhöhtes Bewußtsein von
der Bedeutung derselben. Nie wohl ist diese Bedeutung einfacher, edler, erhabener
entwickelt wordeu, als in der Antrittsrede, mit der Böckh am Morgen des
30. Sept. die Versammlung begrüßte: im Gegensatze der Auffassung, die die
Philologie als ein äußerliches Aggregat vou Kenntnissen darstellen möchte, vindi-
cirte er ihr eine lebensvolle und organische Einheit in der Erkenntniß des ge¬
stimmten Lebens der antiken Welt und vertheidigte sie siegreich als ein nothwen¬
diges und heilsames, Bildungselement gegen Pietisten und Realisten. War hier
die Form der Festrede die geziemende, so hätten wir dagegen gewünscht, daß die
Verhandlungen über wissenschaftliche Gegenstände an den folgenden Tagen mehr
in freier Discussion bestanden hätten, als im Ablesen lauger, uur mit getheilter
Aufmerksamkeit angehörter Vorträge: noch nie waren die Sitzungen in dieser Be¬
ziehung so dürr und leblos, als diesmal, so daß man es Rellstab kaum ernstlich
übel nehmen kann, wenn er in der Mittwochsnnmmer der Vossischen Zeitung
referirte, daß Mullach in der Dieustagssitzung "der Bestimmung des Programms
entsprechend" deu angekündigten Vortrag über Ducange'ö Wörterbuch gehalten
habe, und in der Donnerstagönummer in dem Berichte über die Mittwochssitznng
ganz naiv meldete, daß in dieser "der schon gestern im Programm bemerkte und
auch bereits in diesen Blättern erwähnte Vortrag des Prof. Mnllach" gehalten
worden sei; die Redner oder vielmehr Leser hatten zum Theil bekannte und
vielfach behandelte Gegenstände gewählt, ohne ihnen wesentlich neue Gesichts¬
punkte abzugewinnen; anregend waren dagegen die in eiuer besouders berufenen
Zusammenkunft weiter ausgeführten Betrachtungen über das archäologische Stu¬
dium vou Gerhard, ein bedeutendes Unternehmen stellte Mnllach's eben genannter,
im Einzelnen freilich ermüdender Vortrag über eine neu zu veranstaltende Bear¬
beitung des großen Ducange'schen Wörterbuchs über den Sprachschatz der späten
Gräcität in Aussicht, die frischeste und lebendigste Aufforderung aber zu weiterer
Thätigkeit bot ein Vertrag eines Theologen, deö Prof. Piper, der vou der durch
ihn mit Sorgfalt und Eifer vorbereiteten Gründung eines christlich-archäologischen
Museums Gelegenheit nahm, die Verwandtschaft dieser Studien mit denen des
Alterthums nachzuweisen, von dem die Denkmäler christlicher Kunst in Bezug ans
Stoff wie auf Form der Darstellung in mannigfacher Beziehung eben so abhängig
sind, als andererseits beide Abschnitte der Kunstentwicklung auf einem neutralen,
von beideu Seiten her gleichmäßig zu erforschenden Grenzgebiete sich berühren.

Höhere geistige Anregung als die Verhandlungen im Allgemeinen gewährten
die dargebotenen Genüsse künstlerischer Art. Abgesehen von dem dnrch Gerhard's,
Lepsius' und Bopp's Leitung erhöhten Interesse an der Besichtigung unserer
mannigfaltigen Sammlungen, gehören Hieher namentlich eine treffliche von der


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blinder Kampfeswuth sich losstürzen: es gilt fortan mit Beobachtung der Regeln .
der Courtoisie zu turnieren. Schon das Beisammensein mit vielen zum Theil
ausgezeichneten Jüngern derselben Wissenschaft gibt ein erhöhtes Bewußtsein von
der Bedeutung derselben. Nie wohl ist diese Bedeutung einfacher, edler, erhabener
entwickelt wordeu, als in der Antrittsrede, mit der Böckh am Morgen des
30. Sept. die Versammlung begrüßte: im Gegensatze der Auffassung, die die
Philologie als ein äußerliches Aggregat vou Kenntnissen darstellen möchte, vindi-
cirte er ihr eine lebensvolle und organische Einheit in der Erkenntniß des ge¬
stimmten Lebens der antiken Welt und vertheidigte sie siegreich als ein nothwen¬
diges und heilsames, Bildungselement gegen Pietisten und Realisten. War hier
die Form der Festrede die geziemende, so hätten wir dagegen gewünscht, daß die
Verhandlungen über wissenschaftliche Gegenstände an den folgenden Tagen mehr
in freier Discussion bestanden hätten, als im Ablesen lauger, uur mit getheilter
Aufmerksamkeit angehörter Vorträge: noch nie waren die Sitzungen in dieser Be¬
ziehung so dürr und leblos, als diesmal, so daß man es Rellstab kaum ernstlich
übel nehmen kann, wenn er in der Mittwochsnnmmer der Vossischen Zeitung
referirte, daß Mullach in der Dieustagssitzung „der Bestimmung des Programms
entsprechend" deu angekündigten Vortrag über Ducange'ö Wörterbuch gehalten
habe, und in der Donnerstagönummer in dem Berichte über die Mittwochssitznng
ganz naiv meldete, daß in dieser „der schon gestern im Programm bemerkte und
auch bereits in diesen Blättern erwähnte Vortrag des Prof. Mnllach" gehalten
worden sei; die Redner oder vielmehr Leser hatten zum Theil bekannte und
vielfach behandelte Gegenstände gewählt, ohne ihnen wesentlich neue Gesichts¬
punkte abzugewinnen; anregend waren dagegen die in eiuer besouders berufenen
Zusammenkunft weiter ausgeführten Betrachtungen über das archäologische Stu¬
dium vou Gerhard, ein bedeutendes Unternehmen stellte Mnllach's eben genannter,
im Einzelnen freilich ermüdender Vortrag über eine neu zu veranstaltende Bear¬
beitung des großen Ducange'schen Wörterbuchs über den Sprachschatz der späten
Gräcität in Aussicht, die frischeste und lebendigste Aufforderung aber zu weiterer
Thätigkeit bot ein Vertrag eines Theologen, deö Prof. Piper, der vou der durch
ihn mit Sorgfalt und Eifer vorbereiteten Gründung eines christlich-archäologischen
Museums Gelegenheit nahm, die Verwandtschaft dieser Studien mit denen des
Alterthums nachzuweisen, von dem die Denkmäler christlicher Kunst in Bezug ans
Stoff wie auf Form der Darstellung in mannigfacher Beziehung eben so abhängig
sind, als andererseits beide Abschnitte der Kunstentwicklung auf einem neutralen,
von beideu Seiten her gleichmäßig zu erforschenden Grenzgebiete sich berühren.

Höhere geistige Anregung als die Verhandlungen im Allgemeinen gewährten
die dargebotenen Genüsse künstlerischer Art. Abgesehen von dem dnrch Gerhard's,
Lepsius' und Bopp's Leitung erhöhten Interesse an der Besichtigung unserer
mannigfaltigen Sammlungen, gehören Hieher namentlich eine treffliche von der


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92288/99>, abgerufen am 25.08.2024.