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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band.

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sind, um etwas zu schaffen, oder auch uur ein eigenes Schicksal zu haben, com-
binirt, um die Ansichten des Autors über verschiedene Gegenstände des Menschen¬
lebens anzusprechen. In diese Classe fallen z. B. Voltaire's Memoiren des
Freiherrn von S -- a, Goethe's Wanderjahre, Tieck'ö Novellen zum größten Theil,
Immermann's Münchhausen und Epigonen, das Haus Düsterwcg von Wilibald
Alexis, Laube's junges Europa, die frühern Romane von Gutzkow und Munde,
zum Theil auch die Sachen der Hahn-Hahn, Nadowitz Gespräche ans der Gegen¬
wart über Staat und Kirche u. s. w. -- Jean Paul's sentimentaler Humor und
die Mosaik seines Raisonnements ist das erste, wenn anch noch naive Muster
dieser Richtung. -- Es wird zwar nicht wenig novellistischer Apparat, Genre¬
malerei, Abenteurer n. tgi. bei der Gelegenheit angebracht, die Hauptsache aber
sind jene Gespräche. Ob die besprochenen Zustände vor oder nach dem März
fallen, thut nichts zur Sache. -- Diese Methode des Romans ist in ihrem Ein¬
fluß ans Inhalt und Form sehr mißlich.

Was die Form betrifft, so befördert sie jenen Dilettantismus des Denkens,
der sich begnügt, eine Meinung zu haben, und so das Seinige zu der Aufspeiche¬
rung des allgemeinen Meinnngsvorraths beizutragen, ohne sich zu ihrer Begrün-
dung herbeizulassen; und jenes Verwaschene, Unbestimmte, nebelhafte der Zeichnung,
welche die Personen zu Trägern vou Absichten herabsetzt, und die vermeintliche
Unklarheit, Hohlheit und Langeweile des Zeitalters dadurch zu ironisiren glaubt,
daß sie unklare, schattenhafte und langweilige Charaktere und Ereignisse malt;
eine Absicht, die Immermann in seinen Epigonen geradezu eingesteht.

Mit dem Inhalt ist es uoch schlimmer. Mit Recht wirft man es den fran¬
zösischen Romantikern vor, daß man nach ihren Schilderungen die Pariser Gesell¬
schaft für einen Auswurf vou Lastern und Verbrechen halten muß. Aber unsere
Novellisten machen es noch schlimmer. Wer uns ans ihnen kennen lernen wollte,
müßte uus für ein Volk vou Cretins halten, Cretins, die weder zu lieben noch zu
hassen, weder zusammenhängend zu denken, noch richtig zu empfinden, weder mit
Energie zu handeln, noch mit Anstand zu leiden verstehen. Mit dieser siechen
Novellistik verbündet sich die sophistische Philosophie, die den Unwerth der Zeit
a pi-wi-i nachzuweisen sucht -- jene sogenannte kritische Schule, die wir so häufig
zu bekämpfen Gelegenheit haben. Wir können unsern Belletristen und unsern
Propheten zum Trotz wohl behaupten, daß wir besser sind als unser Ruf, und
daß sie mit ihren wüsten Bildern Niemand schildern als sich selbst, ihre unreife
Sentimentalität, ihre kindische Altklugheit und ihren Mangel an Gestaltungskraft. --

Mau athmet auf, wenn man aus dieser verpesteten Atmosphäre des Lazareths
in die scharfe, heitre Alpenluft des Schweizer Dichters versetzt wird. -- Ich habe
an dem neuen Buch von Jeremias G o tthelf große Freude gehabt; er hat ganz
die alte Frische und ist in der Ausführung besser als seine letzten Schriften. --
In Gotthelf und Gutzkow sind die beiden Momente auseinandergelegt, welche


sind, um etwas zu schaffen, oder auch uur ein eigenes Schicksal zu haben, com-
binirt, um die Ansichten des Autors über verschiedene Gegenstände des Menschen¬
lebens anzusprechen. In diese Classe fallen z. B. Voltaire's Memoiren des
Freiherrn von S — a, Goethe's Wanderjahre, Tieck'ö Novellen zum größten Theil,
Immermann's Münchhausen und Epigonen, das Haus Düsterwcg von Wilibald
Alexis, Laube's junges Europa, die frühern Romane von Gutzkow und Munde,
zum Theil auch die Sachen der Hahn-Hahn, Nadowitz Gespräche ans der Gegen¬
wart über Staat und Kirche u. s. w. — Jean Paul's sentimentaler Humor und
die Mosaik seines Raisonnements ist das erste, wenn anch noch naive Muster
dieser Richtung. — Es wird zwar nicht wenig novellistischer Apparat, Genre¬
malerei, Abenteurer n. tgi. bei der Gelegenheit angebracht, die Hauptsache aber
sind jene Gespräche. Ob die besprochenen Zustände vor oder nach dem März
fallen, thut nichts zur Sache. — Diese Methode des Romans ist in ihrem Ein¬
fluß ans Inhalt und Form sehr mißlich.

Was die Form betrifft, so befördert sie jenen Dilettantismus des Denkens,
der sich begnügt, eine Meinung zu haben, und so das Seinige zu der Aufspeiche¬
rung des allgemeinen Meinnngsvorraths beizutragen, ohne sich zu ihrer Begrün-
dung herbeizulassen; und jenes Verwaschene, Unbestimmte, nebelhafte der Zeichnung,
welche die Personen zu Trägern vou Absichten herabsetzt, und die vermeintliche
Unklarheit, Hohlheit und Langeweile des Zeitalters dadurch zu ironisiren glaubt,
daß sie unklare, schattenhafte und langweilige Charaktere und Ereignisse malt;
eine Absicht, die Immermann in seinen Epigonen geradezu eingesteht.

Mit dem Inhalt ist es uoch schlimmer. Mit Recht wirft man es den fran¬
zösischen Romantikern vor, daß man nach ihren Schilderungen die Pariser Gesell¬
schaft für einen Auswurf vou Lastern und Verbrechen halten muß. Aber unsere
Novellisten machen es noch schlimmer. Wer uns ans ihnen kennen lernen wollte,
müßte uus für ein Volk vou Cretins halten, Cretins, die weder zu lieben noch zu
hassen, weder zusammenhängend zu denken, noch richtig zu empfinden, weder mit
Energie zu handeln, noch mit Anstand zu leiden verstehen. Mit dieser siechen
Novellistik verbündet sich die sophistische Philosophie, die den Unwerth der Zeit
a pi-wi-i nachzuweisen sucht — jene sogenannte kritische Schule, die wir so häufig
zu bekämpfen Gelegenheit haben. Wir können unsern Belletristen und unsern
Propheten zum Trotz wohl behaupten, daß wir besser sind als unser Ruf, und
daß sie mit ihren wüsten Bildern Niemand schildern als sich selbst, ihre unreife
Sentimentalität, ihre kindische Altklugheit und ihren Mangel an Gestaltungskraft. —

Mau athmet auf, wenn man aus dieser verpesteten Atmosphäre des Lazareths
in die scharfe, heitre Alpenluft des Schweizer Dichters versetzt wird. — Ich habe
an dem neuen Buch von Jeremias G o tthelf große Freude gehabt; er hat ganz
die alte Frische und ist in der Ausführung besser als seine letzten Schriften. —
In Gotthelf und Gutzkow sind die beiden Momente auseinandergelegt, welche


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92288/93>, abgerufen am 21.06.2024.