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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band.

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rectnr dieses eiren1u3 vilosus. Und doch ist unser Wahlgesetz, welches dnrch
ein Compromiß widerstreitender Parteien und Ansichten unter großen Kämpfen
entstanden ist, uoch weit besser ausgefallen, als die meisten übrigen nachmärzlichen
Wahlgesetze. Unsere Kammer besteht zu einem Drittel ans Abgeordneten der
Städte, zum Drittel aus Abgeordneten der Landbevölkerung und zum Drittel aus
Abgeordneten der höchstbesteuerten Grundbesitzer und Gewerbtreibenden. Dem¬
nach besitzen wir eine gegliederte Interessenvertretung. Auch fehlen keineswegs
alle conservativen Garantien. Das Wahlrecht ist bedingt neben der Unbe¬
scholtenheit dnrch das zurückgelegte dreißigste Lebensjahr (ein sehr cmpfehlens-
wertheS, keinem Neid unterworfenes, aus dem alten Wahlgesetz in das neue
herübergeuommenes Privilegium!) und dnrch die bürgerliche Selbständigkeit.
Als selbstständig gilt, wer als Ortöbürger oder Besitzer einen eignen Haus¬
halt führt oder eine directe StaatSstener entrichtet. Das sind offenbar zweck¬
mäßige Beschränkungen. Daher wurde auch das neue Wahlgesetz nicht blos von
den conservativsten Mitgliedern der Ritterschaft, sondern auch von mehrern Stan-
desherren, namentlich vom Grafen Ferd. Max zu Useuburg-Büdingen, Schwie¬
gersohn des Kurfürsten, der Ständeversammlung in einem besondern Schreiben
dringend zur Annahme empfohlen. Die Einführung der directen Wahl, ob¬
wohl entschuldigt dnrch die vielen hierauf gerichteten Petitionen,^) und dnrch das
befriedigende Ergebniß der ebenfalls ans directem Wege vollzognen knrhessischen
Wahlen zum Parlament, bleibt dennoch ein großer Uebelstand, den wir
auf verfassungsmäßigen Wege wieder zu beseitign: streben müssen. Das
letzte vom Märzuünisterinm vorgelegte Gesetz, über die Wahl der Bezirks¬
räthe, (dessen Trefflichkeit Hassenpflng alsbald durch Publicirung desselben an¬
erkannt hat) zeigt deutlich, daß das Ministerium: die gemachten Erfahrungen zu
nützen verstanden hat. Aber klar ist anch, daß, wenn man sogar für Bezirkswahlen
das indirecte Verfahren vorzieht und Beisitzer und Taglöhner ausschließt, dieser
Wahlmodus uoch weit dringender für solche Angelegenheiten geboten ist, die den
ganzen Staat betreffen, also einen sehr erweiterten politischen Horizont voraus¬
setzen. Ueberdies hat das directe Wahlverfahren bei der dadurch herbeigeführten
Stimmenzersplitterung fast lauter MiuoritätSwahleu zur Folge gehabt. Die größte
Stadt, das größte Dorf eines Wahlbezirks kann dnrch planmäßige Concentri-
rung der Stimmen für sich allein schon den Ausschlag geben; kein Wunder,
daß die Demokraten bei ihrer bekannten großen Rührigkeit selbst in vorwie¬
gend conservativen Bezirken Wahlsiege errungen haben. Ein anderer Mangel
des Wahlgesetzes ist, daß bei der Berechnung des Wahlcensus der Höchstbe-



5) Sogar Vilmar, jetzt der heftigste Gegner unsres neuen Wahlgesetzes, hattte sich
in Ur. 7 deS "VottöfreundcS" von 5848 ganz entschieden für directe Ständelvahten aus-
gesprochen, in Ur. 47 desselben Jahrganges sagt er sogar, daß er in den Artikeln der
Neuen Hess. Ztg. über den Wahlgesetz-Entwurf "seine eigne Ansicht ausgedrückt" finde.

rectnr dieses eiren1u3 vilosus. Und doch ist unser Wahlgesetz, welches dnrch
ein Compromiß widerstreitender Parteien und Ansichten unter großen Kämpfen
entstanden ist, uoch weit besser ausgefallen, als die meisten übrigen nachmärzlichen
Wahlgesetze. Unsere Kammer besteht zu einem Drittel ans Abgeordneten der
Städte, zum Drittel aus Abgeordneten der Landbevölkerung und zum Drittel aus
Abgeordneten der höchstbesteuerten Grundbesitzer und Gewerbtreibenden. Dem¬
nach besitzen wir eine gegliederte Interessenvertretung. Auch fehlen keineswegs
alle conservativen Garantien. Das Wahlrecht ist bedingt neben der Unbe¬
scholtenheit dnrch das zurückgelegte dreißigste Lebensjahr (ein sehr cmpfehlens-
wertheS, keinem Neid unterworfenes, aus dem alten Wahlgesetz in das neue
herübergeuommenes Privilegium!) und dnrch die bürgerliche Selbständigkeit.
Als selbstständig gilt, wer als Ortöbürger oder Besitzer einen eignen Haus¬
halt führt oder eine directe StaatSstener entrichtet. Das sind offenbar zweck¬
mäßige Beschränkungen. Daher wurde auch das neue Wahlgesetz nicht blos von
den conservativsten Mitgliedern der Ritterschaft, sondern auch von mehrern Stan-
desherren, namentlich vom Grafen Ferd. Max zu Useuburg-Büdingen, Schwie¬
gersohn des Kurfürsten, der Ständeversammlung in einem besondern Schreiben
dringend zur Annahme empfohlen. Die Einführung der directen Wahl, ob¬
wohl entschuldigt dnrch die vielen hierauf gerichteten Petitionen,^) und dnrch das
befriedigende Ergebniß der ebenfalls ans directem Wege vollzognen knrhessischen
Wahlen zum Parlament, bleibt dennoch ein großer Uebelstand, den wir
auf verfassungsmäßigen Wege wieder zu beseitign: streben müssen. Das
letzte vom Märzuünisterinm vorgelegte Gesetz, über die Wahl der Bezirks¬
räthe, (dessen Trefflichkeit Hassenpflng alsbald durch Publicirung desselben an¬
erkannt hat) zeigt deutlich, daß das Ministerium: die gemachten Erfahrungen zu
nützen verstanden hat. Aber klar ist anch, daß, wenn man sogar für Bezirkswahlen
das indirecte Verfahren vorzieht und Beisitzer und Taglöhner ausschließt, dieser
Wahlmodus uoch weit dringender für solche Angelegenheiten geboten ist, die den
ganzen Staat betreffen, also einen sehr erweiterten politischen Horizont voraus¬
setzen. Ueberdies hat das directe Wahlverfahren bei der dadurch herbeigeführten
Stimmenzersplitterung fast lauter MiuoritätSwahleu zur Folge gehabt. Die größte
Stadt, das größte Dorf eines Wahlbezirks kann dnrch planmäßige Concentri-
rung der Stimmen für sich allein schon den Ausschlag geben; kein Wunder,
daß die Demokraten bei ihrer bekannten großen Rührigkeit selbst in vorwie¬
gend conservativen Bezirken Wahlsiege errungen haben. Ein anderer Mangel
des Wahlgesetzes ist, daß bei der Berechnung des Wahlcensus der Höchstbe-



5) Sogar Vilmar, jetzt der heftigste Gegner unsres neuen Wahlgesetzes, hattte sich
in Ur. 7 deS „VottöfreundcS" von 5848 ganz entschieden für directe Ständelvahten aus-
gesprochen, in Ur. 47 desselben Jahrganges sagt er sogar, daß er in den Artikeln der
Neuen Hess. Ztg. über den Wahlgesetz-Entwurf „seine eigne Ansicht ausgedrückt" finde.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92288/508>, abgerufen am 22.07.2024.