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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band.

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Proceß liegt an sich nichts Großes; es kommt darauf an, mit welcher Gewalt die
neuen Lebenskeime aufbrechen.

Der Held des Romans, der Träger der neuen Zeit und ihrer Ideen, ist,
wie die meisten Figuren unserer modernen Novellisten, eine Molluske ohne alle
Knochen, oder wie wir uns moralisch ausdrücken würden, ein ausgemachter Lump,
dessen blasse Wangen und dunkle Locken uns nicht imponiren; er versteht es
mit eiuer wahren Meisterschaft, in jeder Situation, die für einen leidlich honetten
Menschen gar keine Schwierigkeiten haben würde, sich ans die möglichst nichts-
würdige Weise zu benehmen. Er ist Atheist, ambirt aber ein Pfarramt; er
macht einem guten Mädchen feurige Liebesgestäudnisse, schreibt aber zugleich einem
guten Freunde, sie sei eine dumme Gans, und ihn werde kein Weib verstehen;
mau entdeckt einen atheistischen Aufsah, den er anonym in die Epigonen geschickt,
und zieht ihn deshalb zur Untersuchung; er bettelt bei dem Consistorialrath um
Gnade, besäuft sich aber zugleich mit den Berliner Gottesleugnern, knüpft Ver¬
hältnisse mit emancipirten Weibern an, schreibt aber dabei auch ^einem Aeuucheu,
er sei ewig der ihre u. s. w. Erst wird er deutschkatholischer Pfarrer in Breslau,
dann Haupt der freien Gemeinde, Kommunist, dann wieder Skeptiker -- kurz ein
ausgemachter Lump. Jede Person, die mit ihm irgendwie in Berührung kommt,
führt ihn an der Nase herum. Zuletzt fällt er bei der Wiener Revolution. --
Die andern Demokraten, die episodisch aufgeführt werden, sind womöglich noch
nichtswürdiger.

Es ist gut, wenn die Demokratie auf diese Weise, halb bewußt, halb unbe¬
wußt, in sich geht und ihre Sünden bekennt. Der Ekel an einer schalen Ver¬
gangenheit ist auch schou ein sittliches Moment; nur reicht er nicht ans. Die
Blasirtheit ist ein noch schlechterer Zustand als der Rausch, wenn auch die unver¬
meidliche Folge desselben. Der Dichter, der übrigens nicht ohne Talent ist, und
das namentlich an der Zeichnung (einiger weiblicher Figuren gezeigt hat, wird
hoffentlich diesen Katzenjammer überstehen. --

Ein zweiter Roman:

Georg Volker. Ein Roman aus dem Jahr 1848 von Otto Müller.
3 Bde., Bremen, Schlodtnmnn.

behandelt dasselbe Thema. Diesmal sind es zwei entgegengesetzte Charaktere, die
von der Revolution ergriffen werden; ein jnngdentscher Schwindler, Namens
Germanos, der immer aus einem Extrem in das andere überspringt, und sich von
den ähnlichen Nomansigureu uur dadurch uuterscheidet, daß er wenigstens Anläufe
macht zu einer größern Energie in der Verfolgung seiner Zwecke; und ein braver,
verständiger Mann, Namens Volker, der nnr an dem Uebelstand leidet, des sein
Herz durch eine doppelte Liebe gespalten wird, zu einem guten Bauermädchen
und zu einer Gräfin. Er läßt sich in den ersten badischen Aufstand verwickeln
und erschießt sich, als er arretirt werdeu soll: warum? das erfährt mau uicht.


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Proceß liegt an sich nichts Großes; es kommt darauf an, mit welcher Gewalt die
neuen Lebenskeime aufbrechen.

Der Held des Romans, der Träger der neuen Zeit und ihrer Ideen, ist,
wie die meisten Figuren unserer modernen Novellisten, eine Molluske ohne alle
Knochen, oder wie wir uns moralisch ausdrücken würden, ein ausgemachter Lump,
dessen blasse Wangen und dunkle Locken uns nicht imponiren; er versteht es
mit eiuer wahren Meisterschaft, in jeder Situation, die für einen leidlich honetten
Menschen gar keine Schwierigkeiten haben würde, sich ans die möglichst nichts-
würdige Weise zu benehmen. Er ist Atheist, ambirt aber ein Pfarramt; er
macht einem guten Mädchen feurige Liebesgestäudnisse, schreibt aber zugleich einem
guten Freunde, sie sei eine dumme Gans, und ihn werde kein Weib verstehen;
mau entdeckt einen atheistischen Aufsah, den er anonym in die Epigonen geschickt,
und zieht ihn deshalb zur Untersuchung; er bettelt bei dem Consistorialrath um
Gnade, besäuft sich aber zugleich mit den Berliner Gottesleugnern, knüpft Ver¬
hältnisse mit emancipirten Weibern an, schreibt aber dabei auch ^einem Aeuucheu,
er sei ewig der ihre u. s. w. Erst wird er deutschkatholischer Pfarrer in Breslau,
dann Haupt der freien Gemeinde, Kommunist, dann wieder Skeptiker — kurz ein
ausgemachter Lump. Jede Person, die mit ihm irgendwie in Berührung kommt,
führt ihn an der Nase herum. Zuletzt fällt er bei der Wiener Revolution. —
Die andern Demokraten, die episodisch aufgeführt werden, sind womöglich noch
nichtswürdiger.

Es ist gut, wenn die Demokratie auf diese Weise, halb bewußt, halb unbe¬
wußt, in sich geht und ihre Sünden bekennt. Der Ekel an einer schalen Ver¬
gangenheit ist auch schou ein sittliches Moment; nur reicht er nicht ans. Die
Blasirtheit ist ein noch schlechterer Zustand als der Rausch, wenn auch die unver¬
meidliche Folge desselben. Der Dichter, der übrigens nicht ohne Talent ist, und
das namentlich an der Zeichnung (einiger weiblicher Figuren gezeigt hat, wird
hoffentlich diesen Katzenjammer überstehen. —

Ein zweiter Roman:

Georg Volker. Ein Roman aus dem Jahr 1848 von Otto Müller.
3 Bde., Bremen, Schlodtnmnn.

behandelt dasselbe Thema. Diesmal sind es zwei entgegengesetzte Charaktere, die
von der Revolution ergriffen werden; ein jnngdentscher Schwindler, Namens
Germanos, der immer aus einem Extrem in das andere überspringt, und sich von
den ähnlichen Nomansigureu uur dadurch uuterscheidet, daß er wenigstens Anläufe
macht zu einer größern Energie in der Verfolgung seiner Zwecke; und ein braver,
verständiger Mann, Namens Volker, der nnr an dem Uebelstand leidet, des sein
Herz durch eine doppelte Liebe gespalten wird, zu einem guten Bauermädchen
und zu einer Gräfin. Er läßt sich in den ersten badischen Aufstand verwickeln
und erschießt sich, als er arretirt werdeu soll: warum? das erfährt mau uicht.


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[0435] Proceß liegt an sich nichts Großes; es kommt darauf an, mit welcher Gewalt die neuen Lebenskeime aufbrechen. Der Held des Romans, der Träger der neuen Zeit und ihrer Ideen, ist, wie die meisten Figuren unserer modernen Novellisten, eine Molluske ohne alle Knochen, oder wie wir uns moralisch ausdrücken würden, ein ausgemachter Lump, dessen blasse Wangen und dunkle Locken uns nicht imponiren; er versteht es mit eiuer wahren Meisterschaft, in jeder Situation, die für einen leidlich honetten Menschen gar keine Schwierigkeiten haben würde, sich ans die möglichst nichts- würdige Weise zu benehmen. Er ist Atheist, ambirt aber ein Pfarramt; er macht einem guten Mädchen feurige Liebesgestäudnisse, schreibt aber zugleich einem guten Freunde, sie sei eine dumme Gans, und ihn werde kein Weib verstehen; mau entdeckt einen atheistischen Aufsah, den er anonym in die Epigonen geschickt, und zieht ihn deshalb zur Untersuchung; er bettelt bei dem Consistorialrath um Gnade, besäuft sich aber zugleich mit den Berliner Gottesleugnern, knüpft Ver¬ hältnisse mit emancipirten Weibern an, schreibt aber dabei auch ^einem Aeuucheu, er sei ewig der ihre u. s. w. Erst wird er deutschkatholischer Pfarrer in Breslau, dann Haupt der freien Gemeinde, Kommunist, dann wieder Skeptiker — kurz ein ausgemachter Lump. Jede Person, die mit ihm irgendwie in Berührung kommt, führt ihn an der Nase herum. Zuletzt fällt er bei der Wiener Revolution. — Die andern Demokraten, die episodisch aufgeführt werden, sind womöglich noch nichtswürdiger. Es ist gut, wenn die Demokratie auf diese Weise, halb bewußt, halb unbe¬ wußt, in sich geht und ihre Sünden bekennt. Der Ekel an einer schalen Ver¬ gangenheit ist auch schou ein sittliches Moment; nur reicht er nicht ans. Die Blasirtheit ist ein noch schlechterer Zustand als der Rausch, wenn auch die unver¬ meidliche Folge desselben. Der Dichter, der übrigens nicht ohne Talent ist, und das namentlich an der Zeichnung (einiger weiblicher Figuren gezeigt hat, wird hoffentlich diesen Katzenjammer überstehen. — Ein zweiter Roman: Georg Volker. Ein Roman aus dem Jahr 1848 von Otto Müller. 3 Bde., Bremen, Schlodtnmnn. behandelt dasselbe Thema. Diesmal sind es zwei entgegengesetzte Charaktere, die von der Revolution ergriffen werden; ein jnngdentscher Schwindler, Namens Germanos, der immer aus einem Extrem in das andere überspringt, und sich von den ähnlichen Nomansigureu uur dadurch uuterscheidet, daß er wenigstens Anläufe macht zu einer größern Energie in der Verfolgung seiner Zwecke; und ein braver, verständiger Mann, Namens Volker, der nnr an dem Uebelstand leidet, des sein Herz durch eine doppelte Liebe gespalten wird, zu einem guten Bauermädchen und zu einer Gräfin. Er läßt sich in den ersten badischen Aufstand verwickeln und erschießt sich, als er arretirt werdeu soll: warum? das erfährt mau uicht. 119*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92288/435>, abgerufen am 25.08.2024.