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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band.

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haltbar sind. Wir Deutsche sind schon ohnehin so aphoristische Naturen, daß
unsere Gedanken, Geschichten und Empfindungen gerade so in Duodezform aus-
einanderfallen, wie unsere Staaten und unsere Kirchen; wir sollen vor alleu
Dingen dahin trachten, uns zu concentriren, ans der Zerflossen!)an unsers Lebens
und Denkens mit einem energischen Entschluß uus aufzuraffen. Statt dessen for-
ciren wir uus in eine iuuuer haltlosere und trübere Verwirrung hinein.

Die allerneuste Form des Romans trägt viel dazu bei. Bei dem Roman
wie bei der Geschichte vergessen wir allzuleicht, daß, wie man auch sonst darüber
denken mag, die Hauptsache ist, daß etwas erzählt wird. Seitdem wir aber an
deu gescheiterten Versuchen uuserer Revolution eine willkommene Beziehung für
unsern Weltschmerz gefunden haben, überheben wir uus vollends der Mühe, zu¬
sammenhängende Geschichte und zusammenhängende Charaktere zu erfinden, wir
beziehen uus auf bekannte Ereignisse, auf bekannte politische und literarische Per¬
sönlichkeiten, und die Romantik schlingt sich wie ein schales, unselbststäudigeö
Naukeugewächs um die ohnehin schon sehr formlosen Ruinen uuserer jüngsten
Träume. Austatt zu schildern und zu erzählen, wird gestichelt.

Schon in Glltzkow's Ritter vom Geist sind diese Sticheleien, die ein Un-
eingeweihter gar nicht verstehen kann, sehr unbequem; Gutzkow beobachtet aber
wenigstens den Austand, nur gewisse Eigenschaften öffentlicher Charaktere zu be¬
nutzen und diese zu freien Compositionen zu verarbeiten. -- Der Verfasser des
"Tannhäuser" mißbraucht schou diese Beziehungen; am rohesten treibt es aber der
Verfasser des Romans:

Moderne Titanen, kleine Leute in großer Zeit. 3 Bde. Leipzig, Brockhaus.
Was irgend in den letzten Jahren von bekannten Persönlichkeiten in Berlin,
Wien und Breslau aufgetaucht ist, kommt in irgend einer Verkleidung als Epi¬
sode in diesen drei Bänden vor. Diese Benutzung der Wirklichkeit ist weder künst-
lerisch noch sittlich zu rechtfertigen. Dergleichen beiläufige Charakteristiken sind
immer unwahr, weil sie eine beliebige hervorspringende Seite ergreifen und sich
doch den Anschein geben, als wollten sie die Totalität des Menschen darstellen,
und sie siud unschicklich, denn will man lebende Personen angreifen, belehren,
tadeln oder lächerlich macheu, so thue man es offen, mit ihrem und seinem Na¬
men, man motivire sein Urtheil und mau vertrete es.

Der Roman hat aber in anderer Beziehung ein Interesse. Es sind nämlich
höchst eigenthümliche Geständnisse der Demokratie, die uicht allem an ihrem Er¬
folg, sondern auch an ihrem Recht verzweifelt. "Kleine Menschen in einer gro¬
ßen Zeit!" Worin liegt aber die Größe einer Zeit anders, als in den Men¬
schen? Eine Periode des Uebergangs, in der eine alte Form des Lebens
allmälig abstirbt, um eiuer neuen Platz zu machen, hat leicht den Schein der
Größe, weil sie große Contraste zeigt. Aber in dem chemischen Anflösungs-


haltbar sind. Wir Deutsche sind schon ohnehin so aphoristische Naturen, daß
unsere Gedanken, Geschichten und Empfindungen gerade so in Duodezform aus-
einanderfallen, wie unsere Staaten und unsere Kirchen; wir sollen vor alleu
Dingen dahin trachten, uns zu concentriren, ans der Zerflossen!)an unsers Lebens
und Denkens mit einem energischen Entschluß uus aufzuraffen. Statt dessen for-
ciren wir uus in eine iuuuer haltlosere und trübere Verwirrung hinein.

Die allerneuste Form des Romans trägt viel dazu bei. Bei dem Roman
wie bei der Geschichte vergessen wir allzuleicht, daß, wie man auch sonst darüber
denken mag, die Hauptsache ist, daß etwas erzählt wird. Seitdem wir aber an
deu gescheiterten Versuchen uuserer Revolution eine willkommene Beziehung für
unsern Weltschmerz gefunden haben, überheben wir uus vollends der Mühe, zu¬
sammenhängende Geschichte und zusammenhängende Charaktere zu erfinden, wir
beziehen uus auf bekannte Ereignisse, auf bekannte politische und literarische Per¬
sönlichkeiten, und die Romantik schlingt sich wie ein schales, unselbststäudigeö
Naukeugewächs um die ohnehin schon sehr formlosen Ruinen uuserer jüngsten
Träume. Austatt zu schildern und zu erzählen, wird gestichelt.

Schon in Glltzkow's Ritter vom Geist sind diese Sticheleien, die ein Un-
eingeweihter gar nicht verstehen kann, sehr unbequem; Gutzkow beobachtet aber
wenigstens den Austand, nur gewisse Eigenschaften öffentlicher Charaktere zu be¬
nutzen und diese zu freien Compositionen zu verarbeiten. — Der Verfasser des
„Tannhäuser" mißbraucht schou diese Beziehungen; am rohesten treibt es aber der
Verfasser des Romans:

Moderne Titanen, kleine Leute in großer Zeit. 3 Bde. Leipzig, Brockhaus.
Was irgend in den letzten Jahren von bekannten Persönlichkeiten in Berlin,
Wien und Breslau aufgetaucht ist, kommt in irgend einer Verkleidung als Epi¬
sode in diesen drei Bänden vor. Diese Benutzung der Wirklichkeit ist weder künst-
lerisch noch sittlich zu rechtfertigen. Dergleichen beiläufige Charakteristiken sind
immer unwahr, weil sie eine beliebige hervorspringende Seite ergreifen und sich
doch den Anschein geben, als wollten sie die Totalität des Menschen darstellen,
und sie siud unschicklich, denn will man lebende Personen angreifen, belehren,
tadeln oder lächerlich macheu, so thue man es offen, mit ihrem und seinem Na¬
men, man motivire sein Urtheil und mau vertrete es.

Der Roman hat aber in anderer Beziehung ein Interesse. Es sind nämlich
höchst eigenthümliche Geständnisse der Demokratie, die uicht allem an ihrem Er¬
folg, sondern auch an ihrem Recht verzweifelt. „Kleine Menschen in einer gro¬
ßen Zeit!" Worin liegt aber die Größe einer Zeit anders, als in den Men¬
schen? Eine Periode des Uebergangs, in der eine alte Form des Lebens
allmälig abstirbt, um eiuer neuen Platz zu machen, hat leicht den Schein der
Größe, weil sie große Contraste zeigt. Aber in dem chemischen Anflösungs-


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[0434] haltbar sind. Wir Deutsche sind schon ohnehin so aphoristische Naturen, daß unsere Gedanken, Geschichten und Empfindungen gerade so in Duodezform aus- einanderfallen, wie unsere Staaten und unsere Kirchen; wir sollen vor alleu Dingen dahin trachten, uns zu concentriren, ans der Zerflossen!)an unsers Lebens und Denkens mit einem energischen Entschluß uus aufzuraffen. Statt dessen for- ciren wir uus in eine iuuuer haltlosere und trübere Verwirrung hinein. Die allerneuste Form des Romans trägt viel dazu bei. Bei dem Roman wie bei der Geschichte vergessen wir allzuleicht, daß, wie man auch sonst darüber denken mag, die Hauptsache ist, daß etwas erzählt wird. Seitdem wir aber an deu gescheiterten Versuchen uuserer Revolution eine willkommene Beziehung für unsern Weltschmerz gefunden haben, überheben wir uus vollends der Mühe, zu¬ sammenhängende Geschichte und zusammenhängende Charaktere zu erfinden, wir beziehen uus auf bekannte Ereignisse, auf bekannte politische und literarische Per¬ sönlichkeiten, und die Romantik schlingt sich wie ein schales, unselbststäudigeö Naukeugewächs um die ohnehin schon sehr formlosen Ruinen uuserer jüngsten Träume. Austatt zu schildern und zu erzählen, wird gestichelt. Schon in Glltzkow's Ritter vom Geist sind diese Sticheleien, die ein Un- eingeweihter gar nicht verstehen kann, sehr unbequem; Gutzkow beobachtet aber wenigstens den Austand, nur gewisse Eigenschaften öffentlicher Charaktere zu be¬ nutzen und diese zu freien Compositionen zu verarbeiten. — Der Verfasser des „Tannhäuser" mißbraucht schou diese Beziehungen; am rohesten treibt es aber der Verfasser des Romans: Moderne Titanen, kleine Leute in großer Zeit. 3 Bde. Leipzig, Brockhaus. Was irgend in den letzten Jahren von bekannten Persönlichkeiten in Berlin, Wien und Breslau aufgetaucht ist, kommt in irgend einer Verkleidung als Epi¬ sode in diesen drei Bänden vor. Diese Benutzung der Wirklichkeit ist weder künst- lerisch noch sittlich zu rechtfertigen. Dergleichen beiläufige Charakteristiken sind immer unwahr, weil sie eine beliebige hervorspringende Seite ergreifen und sich doch den Anschein geben, als wollten sie die Totalität des Menschen darstellen, und sie siud unschicklich, denn will man lebende Personen angreifen, belehren, tadeln oder lächerlich macheu, so thue man es offen, mit ihrem und seinem Na¬ men, man motivire sein Urtheil und mau vertrete es. Der Roman hat aber in anderer Beziehung ein Interesse. Es sind nämlich höchst eigenthümliche Geständnisse der Demokratie, die uicht allem an ihrem Er¬ folg, sondern auch an ihrem Recht verzweifelt. „Kleine Menschen in einer gro¬ ßen Zeit!" Worin liegt aber die Größe einer Zeit anders, als in den Men¬ schen? Eine Periode des Uebergangs, in der eine alte Form des Lebens allmälig abstirbt, um eiuer neuen Platz zu machen, hat leicht den Schein der Größe, weil sie große Contraste zeigt. Aber in dem chemischen Anflösungs-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92288/434>, abgerufen am 24.08.2024.