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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band.

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Das rührt daher, weil wir die einzelnen Züge des griechischen Lebens, die
wir uns in der Schule gewöhnt haben nur als Epigramm, als Witz, als Anek¬
dote, oder in dem verklärten Reflex der Schiller'schen Elegie zu betrachten, bei
jedem Versuch, sie näher auszumalen, in einem ganz andern Licht ansehen müssen.

Die Vielgötterei, als heiteres Spiel der Poesie betrachtet, gewährt unserer
Einbildung eine angenehme Beschäftigung; aber sehen wir sie plötzlich, mitten in
einem verständigen Leben und Denken, als Ernst hervortreten, so macht sie uns
Grauen. Diogenes in der Tonne als Anekdote ist drollig genng, aber auf dem
Markt vou Athen, neben Demosthenes, Phocion u. s. w., wir können uns die
Scene nicht denken. Die Ekklesiazuseu, Lysistrate, Thesmophoriazuseu in der
Studirstube gelesen, enthalten genng Poesie, um uns für die Cynismen zu ent¬
schädige", aber denken wir sie auf dem Theater, vor einem ungeheuern Publi-
cum aufgeführt, nehmen wir hinzu, daß sich die Satire zum Theil auf eine sehr
handgreifliche Wirklichkeit bezog; vergleichen wir ferner den Bacchus in den Frö¬
schen mit dem Bacchus in den Mysterien und in der Kunst, jo geht uns, auch
uoch ohne daß wir an die Knabenliebe, die Orakel u. tgi. denken, eine solche
Fülle von Romantik ans, daß wir sie mit unsern Erinnerungen aus der Schule
nicht mehr in Einklang zu bringen wissen. Ja selbst eine so populäre Figur wie
Sokrates verliert für unsere Denkweise,an Verständlichkeit, wenn wir ihn uns
näher ausmalen, wie er den Einen nach dem Andern beim Zipfel faßt, ihn zum
Nachdenken anzuregen u. s. w. Wir hatten es vergessen, daß zwischen der Zeit
des Sokrates und der unsrigen zwei Jahrtausende, daß das ganze Mittelalter
dazwischen liegt; in der plastischen Ausführung können wir es aber nicht ver¬
gessen, und daher kommt unsere ttubehülflichkeit der Darstellung.

Je weiter wir uus aus der eigentlich classischen Zeit entfernen, desto weni¬
ger werden wir dnrch den Widerspruch verletzt. Darum ist selbst die wüste Un-
sittlichkeit des römischen Kaiserreichs geeigneter für den historischen Roman, als
das Jahrhundert des Thucydides und Xenophon.

Von deu vorliegenden Romanen, die wir eigentlich nur angeführt haben,
um jene Bemerkungen daran zu knüpfen, ist der schlechteste "Amymone" von Miß
Lynn, welche die Geschichte des Perikles behandelt. Sie ist ohne alles gründ¬
liche Studium und erinnert mit ihrem Dialog zuweilen lebhaft an den Diogenes
von Felix Pyat. -- Die übrigen, mit Ausnahme der Antouiua, verzichten auf
den Ruhm einer poetischen Darstellung; Sertorius ist im Geist einer zur Zeit
des Sallust verfaßten Chronik geschrieben; die Quelle der Arethusa enthält eine
Reihe von Unterredungen, die vou der Grundlage des realen Lebens getrennt
sind; "Perikles" ist eine fleißige und nicht ungeschickte Charakteristik. Die ein¬
zige von diesen Schriften, die eine gewisse Popularität erlaugt hat, und nun
auch in Deutschland durch eine Uebersetzung bekannt geworden ist, ist der Roman
von Wilkie Collins. --


Das rührt daher, weil wir die einzelnen Züge des griechischen Lebens, die
wir uns in der Schule gewöhnt haben nur als Epigramm, als Witz, als Anek¬
dote, oder in dem verklärten Reflex der Schiller'schen Elegie zu betrachten, bei
jedem Versuch, sie näher auszumalen, in einem ganz andern Licht ansehen müssen.

Die Vielgötterei, als heiteres Spiel der Poesie betrachtet, gewährt unserer
Einbildung eine angenehme Beschäftigung; aber sehen wir sie plötzlich, mitten in
einem verständigen Leben und Denken, als Ernst hervortreten, so macht sie uns
Grauen. Diogenes in der Tonne als Anekdote ist drollig genng, aber auf dem
Markt vou Athen, neben Demosthenes, Phocion u. s. w., wir können uns die
Scene nicht denken. Die Ekklesiazuseu, Lysistrate, Thesmophoriazuseu in der
Studirstube gelesen, enthalten genng Poesie, um uns für die Cynismen zu ent¬
schädige«, aber denken wir sie auf dem Theater, vor einem ungeheuern Publi-
cum aufgeführt, nehmen wir hinzu, daß sich die Satire zum Theil auf eine sehr
handgreifliche Wirklichkeit bezog; vergleichen wir ferner den Bacchus in den Frö¬
schen mit dem Bacchus in den Mysterien und in der Kunst, jo geht uns, auch
uoch ohne daß wir an die Knabenliebe, die Orakel u. tgi. denken, eine solche
Fülle von Romantik ans, daß wir sie mit unsern Erinnerungen aus der Schule
nicht mehr in Einklang zu bringen wissen. Ja selbst eine so populäre Figur wie
Sokrates verliert für unsere Denkweise,an Verständlichkeit, wenn wir ihn uns
näher ausmalen, wie er den Einen nach dem Andern beim Zipfel faßt, ihn zum
Nachdenken anzuregen u. s. w. Wir hatten es vergessen, daß zwischen der Zeit
des Sokrates und der unsrigen zwei Jahrtausende, daß das ganze Mittelalter
dazwischen liegt; in der plastischen Ausführung können wir es aber nicht ver¬
gessen, und daher kommt unsere ttubehülflichkeit der Darstellung.

Je weiter wir uus aus der eigentlich classischen Zeit entfernen, desto weni¬
ger werden wir dnrch den Widerspruch verletzt. Darum ist selbst die wüste Un-
sittlichkeit des römischen Kaiserreichs geeigneter für den historischen Roman, als
das Jahrhundert des Thucydides und Xenophon.

Von deu vorliegenden Romanen, die wir eigentlich nur angeführt haben,
um jene Bemerkungen daran zu knüpfen, ist der schlechteste „Amymone" von Miß
Lynn, welche die Geschichte des Perikles behandelt. Sie ist ohne alles gründ¬
liche Studium und erinnert mit ihrem Dialog zuweilen lebhaft an den Diogenes
von Felix Pyat. — Die übrigen, mit Ausnahme der Antouiua, verzichten auf
den Ruhm einer poetischen Darstellung; Sertorius ist im Geist einer zur Zeit
des Sallust verfaßten Chronik geschrieben; die Quelle der Arethusa enthält eine
Reihe von Unterredungen, die vou der Grundlage des realen Lebens getrennt
sind; „Perikles" ist eine fleißige und nicht ungeschickte Charakteristik. Die ein¬
zige von diesen Schriften, die eine gewisse Popularität erlaugt hat, und nun
auch in Deutschland durch eine Uebersetzung bekannt geworden ist, ist der Roman
von Wilkie Collins. —


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[0373] Das rührt daher, weil wir die einzelnen Züge des griechischen Lebens, die wir uns in der Schule gewöhnt haben nur als Epigramm, als Witz, als Anek¬ dote, oder in dem verklärten Reflex der Schiller'schen Elegie zu betrachten, bei jedem Versuch, sie näher auszumalen, in einem ganz andern Licht ansehen müssen. Die Vielgötterei, als heiteres Spiel der Poesie betrachtet, gewährt unserer Einbildung eine angenehme Beschäftigung; aber sehen wir sie plötzlich, mitten in einem verständigen Leben und Denken, als Ernst hervortreten, so macht sie uns Grauen. Diogenes in der Tonne als Anekdote ist drollig genng, aber auf dem Markt vou Athen, neben Demosthenes, Phocion u. s. w., wir können uns die Scene nicht denken. Die Ekklesiazuseu, Lysistrate, Thesmophoriazuseu in der Studirstube gelesen, enthalten genng Poesie, um uns für die Cynismen zu ent¬ schädige«, aber denken wir sie auf dem Theater, vor einem ungeheuern Publi- cum aufgeführt, nehmen wir hinzu, daß sich die Satire zum Theil auf eine sehr handgreifliche Wirklichkeit bezog; vergleichen wir ferner den Bacchus in den Frö¬ schen mit dem Bacchus in den Mysterien und in der Kunst, jo geht uns, auch uoch ohne daß wir an die Knabenliebe, die Orakel u. tgi. denken, eine solche Fülle von Romantik ans, daß wir sie mit unsern Erinnerungen aus der Schule nicht mehr in Einklang zu bringen wissen. Ja selbst eine so populäre Figur wie Sokrates verliert für unsere Denkweise,an Verständlichkeit, wenn wir ihn uns näher ausmalen, wie er den Einen nach dem Andern beim Zipfel faßt, ihn zum Nachdenken anzuregen u. s. w. Wir hatten es vergessen, daß zwischen der Zeit des Sokrates und der unsrigen zwei Jahrtausende, daß das ganze Mittelalter dazwischen liegt; in der plastischen Ausführung können wir es aber nicht ver¬ gessen, und daher kommt unsere ttubehülflichkeit der Darstellung. Je weiter wir uus aus der eigentlich classischen Zeit entfernen, desto weni¬ ger werden wir dnrch den Widerspruch verletzt. Darum ist selbst die wüste Un- sittlichkeit des römischen Kaiserreichs geeigneter für den historischen Roman, als das Jahrhundert des Thucydides und Xenophon. Von deu vorliegenden Romanen, die wir eigentlich nur angeführt haben, um jene Bemerkungen daran zu knüpfen, ist der schlechteste „Amymone" von Miß Lynn, welche die Geschichte des Perikles behandelt. Sie ist ohne alles gründ¬ liche Studium und erinnert mit ihrem Dialog zuweilen lebhaft an den Diogenes von Felix Pyat. — Die übrigen, mit Ausnahme der Antouiua, verzichten auf den Ruhm einer poetischen Darstellung; Sertorius ist im Geist einer zur Zeit des Sallust verfaßten Chronik geschrieben; die Quelle der Arethusa enthält eine Reihe von Unterredungen, die vou der Grundlage des realen Lebens getrennt sind; „Perikles" ist eine fleißige und nicht ungeschickte Charakteristik. Die ein¬ zige von diesen Schriften, die eine gewisse Popularität erlaugt hat, und nun auch in Deutschland durch eine Uebersetzung bekannt geworden ist, ist der Roman von Wilkie Collins. —

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92288/373>, abgerufen am 22.07.2024.