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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band.

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auch, wie sie sich unterhalten, wie sie sich aus ihren Märkten bewegen. Eine
unerschöpfliche Fülle von Kunstdenkmälern versetzt uns in das Innere ihrer Häuser,
auf ihre öffentlichen Plätze, in ihre Tempel; Jahrhunderte unserer Cultur haben
aus diesen heiligen Quellen getrunken.

Und dennoch ist bis jetzt jeder Versuch, dieses Bild, zu dem uns die einzelnen
Züge so reichlich gegeben sind, zu einer Totalität zu gestalten, verunglückt. Ob¬
gleich wir die vortrefflichsten Muster des Dialogs und der. Rede aus dem Alter¬
thum selber haben, ist es uns unmöglich, in Prosa die Griechen in einen Dialog
zu bringen, der nicht geradezu lächerlich und abgeschmackt wäre. Ich erinnere z. B.
an den Charikles von Becker, einen Versuch, die sämmtlichen Sitten und
Gebräuche Griechenlands in einem Gemälde zu vereinigen, in welchem die novel¬
listische Unterlage nichts weiter sein sollte, als der gleichgültige Leitfaden für die
Excurse. Diese Excurse selbst siud so gelehrt und scharfsinnig, als man nur
immer wünschen kaun, aber der Text ist eine wüste Mosaikarbeit aus antiquarischen
Brocken, der hohler und gespreizter aussieht, als irgend ein schlechter Roman von
Clauren oder Schilling. An solche Versuche, wie die Unterredungen der Homeriden
in den Märtyrern von Chateaubriand, erinnere ich gar nicht, denn wo sich die
Gelehrsamkeit auf Schulreminiscenzen beschränkt, ist freilich eine befriedigende
Darstellung nicht zu erwarten.

In der Poesie geht es eher. Goethe's Iphigenie und seine Elegien haben
zwar in ihren geheimen sittlichen Fäden soviel moderne Beziehungen, daß sie ein
Grieche schwerlich verstehen würde, aber es ist doch eine abgerundete Welt darin,
die mit der griechischen einige Aehnlichkeit hat.

Wie gesagt, die Zeit des Sokrates liegt uus in den höhern Gebieten des
Geistes näher, als irgend eine Periode deö Mittelalters. Aber einmal wissen
wir uus mit dieser in jedem Augenblick in Contrast; wir haben in unserm Geist
noch die Narben, die jene wilde Vergangenheit ihm schlug, und wenn wir diese
darstellen, so überfliegen wir in unserer Erinnerung den Lauf der Geschichte, die
von da zu uus leitet, und freuen uus der Siege, die wir erfochten haben.
Sodann ist uns überall klar, daß wir es mit einer verworrenen, widerspruchsvollen,
romantischen Zeit zu thun haben, deren Bildung aus deu entgegengesetzten Mo¬
menten hervorgegangen war, und so befremdet es uns nicht, wenn die eine Er¬
scheinung des Lebens die andere Lügen straft.

Aber in Hellas ist soviel Harmonie, eine so hohe Bildung mit einer so rei¬
zenden Naivität verknüpft, daß wir überzeugt siud, wir müssen darin zu Hause sein,
und daß es uns unangenehm berührt, wenn wir uns nicht zu Hause finden,
ja wenn wir erkennen müssen, daß auch die Griechen, trotz ihres hohen und kla¬
ren Verstandes, uicht ganz bei sich zu Hause siud. Romantik bei deu Gothen kann
uns nicht überraschen, aber bei den Griechen ist sie uns unverständlich und un¬
heimlich.


auch, wie sie sich unterhalten, wie sie sich aus ihren Märkten bewegen. Eine
unerschöpfliche Fülle von Kunstdenkmälern versetzt uns in das Innere ihrer Häuser,
auf ihre öffentlichen Plätze, in ihre Tempel; Jahrhunderte unserer Cultur haben
aus diesen heiligen Quellen getrunken.

Und dennoch ist bis jetzt jeder Versuch, dieses Bild, zu dem uns die einzelnen
Züge so reichlich gegeben sind, zu einer Totalität zu gestalten, verunglückt. Ob¬
gleich wir die vortrefflichsten Muster des Dialogs und der. Rede aus dem Alter¬
thum selber haben, ist es uns unmöglich, in Prosa die Griechen in einen Dialog
zu bringen, der nicht geradezu lächerlich und abgeschmackt wäre. Ich erinnere z. B.
an den Charikles von Becker, einen Versuch, die sämmtlichen Sitten und
Gebräuche Griechenlands in einem Gemälde zu vereinigen, in welchem die novel¬
listische Unterlage nichts weiter sein sollte, als der gleichgültige Leitfaden für die
Excurse. Diese Excurse selbst siud so gelehrt und scharfsinnig, als man nur
immer wünschen kaun, aber der Text ist eine wüste Mosaikarbeit aus antiquarischen
Brocken, der hohler und gespreizter aussieht, als irgend ein schlechter Roman von
Clauren oder Schilling. An solche Versuche, wie die Unterredungen der Homeriden
in den Märtyrern von Chateaubriand, erinnere ich gar nicht, denn wo sich die
Gelehrsamkeit auf Schulreminiscenzen beschränkt, ist freilich eine befriedigende
Darstellung nicht zu erwarten.

In der Poesie geht es eher. Goethe's Iphigenie und seine Elegien haben
zwar in ihren geheimen sittlichen Fäden soviel moderne Beziehungen, daß sie ein
Grieche schwerlich verstehen würde, aber es ist doch eine abgerundete Welt darin,
die mit der griechischen einige Aehnlichkeit hat.

Wie gesagt, die Zeit des Sokrates liegt uus in den höhern Gebieten des
Geistes näher, als irgend eine Periode deö Mittelalters. Aber einmal wissen
wir uus mit dieser in jedem Augenblick in Contrast; wir haben in unserm Geist
noch die Narben, die jene wilde Vergangenheit ihm schlug, und wenn wir diese
darstellen, so überfliegen wir in unserer Erinnerung den Lauf der Geschichte, die
von da zu uus leitet, und freuen uus der Siege, die wir erfochten haben.
Sodann ist uns überall klar, daß wir es mit einer verworrenen, widerspruchsvollen,
romantischen Zeit zu thun haben, deren Bildung aus deu entgegengesetzten Mo¬
menten hervorgegangen war, und so befremdet es uns nicht, wenn die eine Er¬
scheinung des Lebens die andere Lügen straft.

Aber in Hellas ist soviel Harmonie, eine so hohe Bildung mit einer so rei¬
zenden Naivität verknüpft, daß wir überzeugt siud, wir müssen darin zu Hause sein,
und daß es uns unangenehm berührt, wenn wir uns nicht zu Hause finden,
ja wenn wir erkennen müssen, daß auch die Griechen, trotz ihres hohen und kla¬
ren Verstandes, uicht ganz bei sich zu Hause siud. Romantik bei deu Gothen kann
uns nicht überraschen, aber bei den Griechen ist sie uns unverständlich und un¬
heimlich.


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[0372] auch, wie sie sich unterhalten, wie sie sich aus ihren Märkten bewegen. Eine unerschöpfliche Fülle von Kunstdenkmälern versetzt uns in das Innere ihrer Häuser, auf ihre öffentlichen Plätze, in ihre Tempel; Jahrhunderte unserer Cultur haben aus diesen heiligen Quellen getrunken. Und dennoch ist bis jetzt jeder Versuch, dieses Bild, zu dem uns die einzelnen Züge so reichlich gegeben sind, zu einer Totalität zu gestalten, verunglückt. Ob¬ gleich wir die vortrefflichsten Muster des Dialogs und der. Rede aus dem Alter¬ thum selber haben, ist es uns unmöglich, in Prosa die Griechen in einen Dialog zu bringen, der nicht geradezu lächerlich und abgeschmackt wäre. Ich erinnere z. B. an den Charikles von Becker, einen Versuch, die sämmtlichen Sitten und Gebräuche Griechenlands in einem Gemälde zu vereinigen, in welchem die novel¬ listische Unterlage nichts weiter sein sollte, als der gleichgültige Leitfaden für die Excurse. Diese Excurse selbst siud so gelehrt und scharfsinnig, als man nur immer wünschen kaun, aber der Text ist eine wüste Mosaikarbeit aus antiquarischen Brocken, der hohler und gespreizter aussieht, als irgend ein schlechter Roman von Clauren oder Schilling. An solche Versuche, wie die Unterredungen der Homeriden in den Märtyrern von Chateaubriand, erinnere ich gar nicht, denn wo sich die Gelehrsamkeit auf Schulreminiscenzen beschränkt, ist freilich eine befriedigende Darstellung nicht zu erwarten. In der Poesie geht es eher. Goethe's Iphigenie und seine Elegien haben zwar in ihren geheimen sittlichen Fäden soviel moderne Beziehungen, daß sie ein Grieche schwerlich verstehen würde, aber es ist doch eine abgerundete Welt darin, die mit der griechischen einige Aehnlichkeit hat. Wie gesagt, die Zeit des Sokrates liegt uus in den höhern Gebieten des Geistes näher, als irgend eine Periode deö Mittelalters. Aber einmal wissen wir uus mit dieser in jedem Augenblick in Contrast; wir haben in unserm Geist noch die Narben, die jene wilde Vergangenheit ihm schlug, und wenn wir diese darstellen, so überfliegen wir in unserer Erinnerung den Lauf der Geschichte, die von da zu uus leitet, und freuen uus der Siege, die wir erfochten haben. Sodann ist uns überall klar, daß wir es mit einer verworrenen, widerspruchsvollen, romantischen Zeit zu thun haben, deren Bildung aus deu entgegengesetzten Mo¬ menten hervorgegangen war, und so befremdet es uns nicht, wenn die eine Er¬ scheinung des Lebens die andere Lügen straft. Aber in Hellas ist soviel Harmonie, eine so hohe Bildung mit einer so rei¬ zenden Naivität verknüpft, daß wir überzeugt siud, wir müssen darin zu Hause sein, und daß es uns unangenehm berührt, wenn wir uns nicht zu Hause finden, ja wenn wir erkennen müssen, daß auch die Griechen, trotz ihres hohen und kla¬ ren Verstandes, uicht ganz bei sich zu Hause siud. Romantik bei deu Gothen kann uns nicht überraschen, aber bei den Griechen ist sie uns unverständlich und un¬ heimlich.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92288/372>, abgerufen am 22.07.2024.