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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band.

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Ohnehin sind die polnischen Advocaten unter den europäischen Advocaten die
ärmste Classe. Ost entscheiden die Gerichte ohne alle Verhandlungen, ans den Macht-
spruch des Chefs des Gerichtshofs, oder auf Befehl eiues hohen Militärs, und dann
hat der Advocat nichts zu thun; oft werden die Processe, weil sie dem Gerichtshof
unangenehm siud, verhindert, indem man es nicht zu einem Termin kommen läßt,
und daun hat der Advocat ebenso wenig etwas zu thun. Immer aber ist das
Verfahren so unmethodisch, verworren und leichtfertig, daß das ganze Geschäft
des Advocaten in wenig mehr als in Ueberreden und Unterhandeln besteht. Von
den Bauern oder kleinen Bürgern wird sast nie ein Rechtsanwalt zu Hilfe ge-
zogen. Erstens haben diese Leute keinen Begriff vou seiner Bedeutung, zwei¬
tens keine Mittel, seine Hilfe zu bezahlen. Daher werdeu Rechtsansprüche der
Lellte ans deu untersten Volksclassen kurz titres deu Ausspruch deö Oberrichters,
der in solchem Falle die Form eines Befehls hat, abgemacht und unverweilt die
Execution u. s. w. vollstreckt. Viel mehr als der Proceß beschäftigt den Advo-
caten eine Art Agentur für die Edelleute; er besorgt dem Edelmann, mit dem
er gewöhnlich für eine bestimmte Zeit Contract geschlossen hat, alle Geschäfte,
er verkauft seiue Heuvorräthe, verhandelt das Getreide, Häuser, Grundstücke,
kauft ein, was der Herr wünscht, und bekommt dafür jährlich eine bestimmte
Summe, Getreide, Hafer, Hen, geräucherte Fleischwaaren u. tgi.

Diese Bemerkungen sollen deutsche Kolonisten und Geschäftsleute war neu.
Sie ließen sich durch eine Meuge von auffallenden Beispielen unterstützen. Denn
kaum lebt ein Deutscher in Polen, der nicht unheimliche Erfahrungen gemacht hat.
Ich will uur zwei Processe erzählen, welche mir gerade ihrer Einfachheit wegen
besonders lehrreich scheinen.

Der Widerwille der Polen gegen Handwerk und Künste, und dazu die
wachsende" Bedürfnisse der Bevölkerung, hatte einen großen Mangel an Hand¬
werkern aller Art veranlaßt. Tuchweber fehlten in früherer Zeit fast gänzlich.
Nur in Warschau und Krakau befanden sich einige. Die Folge davou war,
daß die Edelleute ihre Wolle, die im Lande nicht verarbeitet werden konnte,
an das Ausland verkaufen mußten. England nahm sie förmlich in Beschlag.
Zur Zeit der Wollschur kreuzten Schaaren von englischen Aufkäufern im Lande,'
wie anch jetzt noch der Fall ist, und was hio bei ihren Handelsreisen über¬
sehen oder nicht bekommen hatten, das siel dann auf den Wollmärkten in Warschau,
Krakau, Plock u. s. w. in ihre Hände. Die polnische Wolle ging über See
nach England, ans England kam das fertige Tuch zurück, 'und die Polen bezahlten
nicht blos die theure englische Fabrikarbeit, sondern auch deu Transport ihrer
eigeuen Wolle nach England und wieder zurück.

Dieses Mißverhältniß machten sich vor etwa zwanzig Jahren zuerst mehrere
deutsche Kolonien zu Nutzen, legten ihre Wolle auf ein Gemeindelager und ließen
aus dem Vaterlande Tuchweber zu sich kommen, denen sie Hütten und Feld schenk


Ohnehin sind die polnischen Advocaten unter den europäischen Advocaten die
ärmste Classe. Ost entscheiden die Gerichte ohne alle Verhandlungen, ans den Macht-
spruch des Chefs des Gerichtshofs, oder auf Befehl eiues hohen Militärs, und dann
hat der Advocat nichts zu thun; oft werden die Processe, weil sie dem Gerichtshof
unangenehm siud, verhindert, indem man es nicht zu einem Termin kommen läßt,
und daun hat der Advocat ebenso wenig etwas zu thun. Immer aber ist das
Verfahren so unmethodisch, verworren und leichtfertig, daß das ganze Geschäft
des Advocaten in wenig mehr als in Ueberreden und Unterhandeln besteht. Von
den Bauern oder kleinen Bürgern wird sast nie ein Rechtsanwalt zu Hilfe ge-
zogen. Erstens haben diese Leute keinen Begriff vou seiner Bedeutung, zwei¬
tens keine Mittel, seine Hilfe zu bezahlen. Daher werdeu Rechtsansprüche der
Lellte ans deu untersten Volksclassen kurz titres deu Ausspruch deö Oberrichters,
der in solchem Falle die Form eines Befehls hat, abgemacht und unverweilt die
Execution u. s. w. vollstreckt. Viel mehr als der Proceß beschäftigt den Advo-
caten eine Art Agentur für die Edelleute; er besorgt dem Edelmann, mit dem
er gewöhnlich für eine bestimmte Zeit Contract geschlossen hat, alle Geschäfte,
er verkauft seiue Heuvorräthe, verhandelt das Getreide, Häuser, Grundstücke,
kauft ein, was der Herr wünscht, und bekommt dafür jährlich eine bestimmte
Summe, Getreide, Hafer, Hen, geräucherte Fleischwaaren u. tgi.

Diese Bemerkungen sollen deutsche Kolonisten und Geschäftsleute war neu.
Sie ließen sich durch eine Meuge von auffallenden Beispielen unterstützen. Denn
kaum lebt ein Deutscher in Polen, der nicht unheimliche Erfahrungen gemacht hat.
Ich will uur zwei Processe erzählen, welche mir gerade ihrer Einfachheit wegen
besonders lehrreich scheinen.

Der Widerwille der Polen gegen Handwerk und Künste, und dazu die
wachsende» Bedürfnisse der Bevölkerung, hatte einen großen Mangel an Hand¬
werkern aller Art veranlaßt. Tuchweber fehlten in früherer Zeit fast gänzlich.
Nur in Warschau und Krakau befanden sich einige. Die Folge davou war,
daß die Edelleute ihre Wolle, die im Lande nicht verarbeitet werden konnte,
an das Ausland verkaufen mußten. England nahm sie förmlich in Beschlag.
Zur Zeit der Wollschur kreuzten Schaaren von englischen Aufkäufern im Lande,'
wie anch jetzt noch der Fall ist, und was hio bei ihren Handelsreisen über¬
sehen oder nicht bekommen hatten, das siel dann auf den Wollmärkten in Warschau,
Krakau, Plock u. s. w. in ihre Hände. Die polnische Wolle ging über See
nach England, ans England kam das fertige Tuch zurück, 'und die Polen bezahlten
nicht blos die theure englische Fabrikarbeit, sondern auch deu Transport ihrer
eigeuen Wolle nach England und wieder zurück.

Dieses Mißverhältniß machten sich vor etwa zwanzig Jahren zuerst mehrere
deutsche Kolonien zu Nutzen, legten ihre Wolle auf ein Gemeindelager und ließen
aus dem Vaterlande Tuchweber zu sich kommen, denen sie Hütten und Feld schenk


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[0349] Ohnehin sind die polnischen Advocaten unter den europäischen Advocaten die ärmste Classe. Ost entscheiden die Gerichte ohne alle Verhandlungen, ans den Macht- spruch des Chefs des Gerichtshofs, oder auf Befehl eiues hohen Militärs, und dann hat der Advocat nichts zu thun; oft werden die Processe, weil sie dem Gerichtshof unangenehm siud, verhindert, indem man es nicht zu einem Termin kommen läßt, und daun hat der Advocat ebenso wenig etwas zu thun. Immer aber ist das Verfahren so unmethodisch, verworren und leichtfertig, daß das ganze Geschäft des Advocaten in wenig mehr als in Ueberreden und Unterhandeln besteht. Von den Bauern oder kleinen Bürgern wird sast nie ein Rechtsanwalt zu Hilfe ge- zogen. Erstens haben diese Leute keinen Begriff vou seiner Bedeutung, zwei¬ tens keine Mittel, seine Hilfe zu bezahlen. Daher werdeu Rechtsansprüche der Lellte ans deu untersten Volksclassen kurz titres deu Ausspruch deö Oberrichters, der in solchem Falle die Form eines Befehls hat, abgemacht und unverweilt die Execution u. s. w. vollstreckt. Viel mehr als der Proceß beschäftigt den Advo- caten eine Art Agentur für die Edelleute; er besorgt dem Edelmann, mit dem er gewöhnlich für eine bestimmte Zeit Contract geschlossen hat, alle Geschäfte, er verkauft seiue Heuvorräthe, verhandelt das Getreide, Häuser, Grundstücke, kauft ein, was der Herr wünscht, und bekommt dafür jährlich eine bestimmte Summe, Getreide, Hafer, Hen, geräucherte Fleischwaaren u. tgi. Diese Bemerkungen sollen deutsche Kolonisten und Geschäftsleute war neu. Sie ließen sich durch eine Meuge von auffallenden Beispielen unterstützen. Denn kaum lebt ein Deutscher in Polen, der nicht unheimliche Erfahrungen gemacht hat. Ich will uur zwei Processe erzählen, welche mir gerade ihrer Einfachheit wegen besonders lehrreich scheinen. Der Widerwille der Polen gegen Handwerk und Künste, und dazu die wachsende» Bedürfnisse der Bevölkerung, hatte einen großen Mangel an Hand¬ werkern aller Art veranlaßt. Tuchweber fehlten in früherer Zeit fast gänzlich. Nur in Warschau und Krakau befanden sich einige. Die Folge davou war, daß die Edelleute ihre Wolle, die im Lande nicht verarbeitet werden konnte, an das Ausland verkaufen mußten. England nahm sie förmlich in Beschlag. Zur Zeit der Wollschur kreuzten Schaaren von englischen Aufkäufern im Lande,' wie anch jetzt noch der Fall ist, und was hio bei ihren Handelsreisen über¬ sehen oder nicht bekommen hatten, das siel dann auf den Wollmärkten in Warschau, Krakau, Plock u. s. w. in ihre Hände. Die polnische Wolle ging über See nach England, ans England kam das fertige Tuch zurück, 'und die Polen bezahlten nicht blos die theure englische Fabrikarbeit, sondern auch deu Transport ihrer eigeuen Wolle nach England und wieder zurück. Dieses Mißverhältniß machten sich vor etwa zwanzig Jahren zuerst mehrere deutsche Kolonien zu Nutzen, legten ihre Wolle auf ein Gemeindelager und ließen aus dem Vaterlande Tuchweber zu sich kommen, denen sie Hütten und Feld schenk

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92288/349>, abgerufen am 04.07.2024.