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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band.

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Polnische Processe.

Die Gerichte in Polen haben eine so vortreffliche Gliederung in Geschäfts¬
classen und Beamtengrade, daß man vor aller Organisation die Ordnung nicht
mehr entdecken kann; Oberrichter, Mitrichter, Unterrichter, Assessoren, AdjuncM,
Actuarien, Registratoren, Schreiber und Präsidenten sind überall zu finden; wer
aber glauben wollte, daß die amtlichen Arbeiten diesen Classen angemessen streng
getheilt sind, der würde sich sehr täuschen. Niemand ist auf eine bestimmte Partie
der Geschäfte des Gerichtshofs angewiesen, Alles hängt von der Bestimmung
des Präsidenten oder Oberrichters (des Noezeluik) ab. Jeder-Beamte wartet,
bis seine Gnaden der Herr Präsident, der natürlich allemal ein Mann von mos¬
kowitischer Abkunft ist, erscheint und befiehlt: Jetzt machen Sie nur Dies oder
Jenes. Wären die Chefs der Justizhöfe uuterichtete und gesetzkuudige Beamten,
denen es möglich wäre, jedem ihrer Untergebenen die angemessene Arbeit zuzu-
theilen, so wäre die Sache sür Polen ganz in der Ordnung. Allein die meisten
sind so kenntnißlose, unpraktische und bornirte Geselle", daß sie die amtlichen Ge¬
schäfte uur sehr unvollständig kennen. Mau frage, wie die Herren zu ihrer
Stellung gekommen sind. "Wer waren Sie, Herr Präsident des Obwodschaftö-
gerichteö zu L. von Hans ans?" Er antwortet: "Ob ich überhaupt in einem
Hanse geboren bin, ist ungewiß; ich wurde Gärtnergehilfe, dann schickte mich ein
Kaufmann in eine Schrcibschule und machte mich zum Markthelfer, aus dieser
Stellung wurde ich wegen eiues zarten Verhältnisses weggejagt, ich wurde Graben¬
stecher, wanderte mit einem kleinen Trupp vou Kazapcu in Litthauen umher und
verbarg mich und uieiu Grabscheit vcrschiedeuek Herren, zum Dämmeaufwerfen,
Gräbenziehen und Sümpfetrockenlegen; dann meldete ich mich, weil ich schreiben
gelernt hatte und dem Dienst mit der Muskete entgehen wollte, in einem Com-
pagniebnrean des Regiments Galizin als Schreiber, und schrieb hier drei-Jahre
laug Formulare. Da hatte es der Zufall gefügt, daß meine Schwester, die von
ihrem Manne getrennt war, das Glück hatte, dem General in Warschau zu ge¬
fallen und von ihm unterhalten zu werdeu. Durch dies glückliche Ereigniß
wurde ich plötzlich, Actuarius bei dem Kreiögericht zu Saudomir, dessen Chef
ein früherer Adjutant des-Generals war, und drei Vierteljahre danach wurde ich
als Chef hier an dieses Gericht-versetzt, bei dem ich zur Stunde an Kaisers-
statt "das Gesetz zu üben und Recht zu sprechen habe." -- In dem Falle liegt
nichts Ungewöhnliches.

Nach kaiserlicher Verordnung sollen zwar wenigstens die Chefs der Justiz¬
ämter eine russische Universität besucht haben. Aber die wenigen Universitäten
reichen nicht aus, und schickten anch Rußlands Acadcmien alljährlich Millionen von
gelehrten Juristen in das Land, so würden deshalb doch Fälle, wie der erzählte,


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Polnische Processe.

Die Gerichte in Polen haben eine so vortreffliche Gliederung in Geschäfts¬
classen und Beamtengrade, daß man vor aller Organisation die Ordnung nicht
mehr entdecken kann; Oberrichter, Mitrichter, Unterrichter, Assessoren, AdjuncM,
Actuarien, Registratoren, Schreiber und Präsidenten sind überall zu finden; wer
aber glauben wollte, daß die amtlichen Arbeiten diesen Classen angemessen streng
getheilt sind, der würde sich sehr täuschen. Niemand ist auf eine bestimmte Partie
der Geschäfte des Gerichtshofs angewiesen, Alles hängt von der Bestimmung
des Präsidenten oder Oberrichters (des Noezeluik) ab. Jeder-Beamte wartet,
bis seine Gnaden der Herr Präsident, der natürlich allemal ein Mann von mos¬
kowitischer Abkunft ist, erscheint und befiehlt: Jetzt machen Sie nur Dies oder
Jenes. Wären die Chefs der Justizhöfe uuterichtete und gesetzkuudige Beamten,
denen es möglich wäre, jedem ihrer Untergebenen die angemessene Arbeit zuzu-
theilen, so wäre die Sache sür Polen ganz in der Ordnung. Allein die meisten
sind so kenntnißlose, unpraktische und bornirte Geselle», daß sie die amtlichen Ge¬
schäfte uur sehr unvollständig kennen. Mau frage, wie die Herren zu ihrer
Stellung gekommen sind. „Wer waren Sie, Herr Präsident des Obwodschaftö-
gerichteö zu L. von Hans ans?" Er antwortet: „Ob ich überhaupt in einem
Hanse geboren bin, ist ungewiß; ich wurde Gärtnergehilfe, dann schickte mich ein
Kaufmann in eine Schrcibschule und machte mich zum Markthelfer, aus dieser
Stellung wurde ich wegen eiues zarten Verhältnisses weggejagt, ich wurde Graben¬
stecher, wanderte mit einem kleinen Trupp vou Kazapcu in Litthauen umher und
verbarg mich und uieiu Grabscheit vcrschiedeuek Herren, zum Dämmeaufwerfen,
Gräbenziehen und Sümpfetrockenlegen; dann meldete ich mich, weil ich schreiben
gelernt hatte und dem Dienst mit der Muskete entgehen wollte, in einem Com-
pagniebnrean des Regiments Galizin als Schreiber, und schrieb hier drei-Jahre
laug Formulare. Da hatte es der Zufall gefügt, daß meine Schwester, die von
ihrem Manne getrennt war, das Glück hatte, dem General in Warschau zu ge¬
fallen und von ihm unterhalten zu werdeu. Durch dies glückliche Ereigniß
wurde ich plötzlich, Actuarius bei dem Kreiögericht zu Saudomir, dessen Chef
ein früherer Adjutant des-Generals war, und drei Vierteljahre danach wurde ich
als Chef hier an dieses Gericht-versetzt, bei dem ich zur Stunde an Kaisers-
statt „das Gesetz zu üben und Recht zu sprechen habe." — In dem Falle liegt
nichts Ungewöhnliches.

Nach kaiserlicher Verordnung sollen zwar wenigstens die Chefs der Justiz¬
ämter eine russische Universität besucht haben. Aber die wenigen Universitäten
reichen nicht aus, und schickten anch Rußlands Acadcmien alljährlich Millionen von
gelehrten Juristen in das Land, so würden deshalb doch Fälle, wie der erzählte,


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[0347] Polnische Processe. Die Gerichte in Polen haben eine so vortreffliche Gliederung in Geschäfts¬ classen und Beamtengrade, daß man vor aller Organisation die Ordnung nicht mehr entdecken kann; Oberrichter, Mitrichter, Unterrichter, Assessoren, AdjuncM, Actuarien, Registratoren, Schreiber und Präsidenten sind überall zu finden; wer aber glauben wollte, daß die amtlichen Arbeiten diesen Classen angemessen streng getheilt sind, der würde sich sehr täuschen. Niemand ist auf eine bestimmte Partie der Geschäfte des Gerichtshofs angewiesen, Alles hängt von der Bestimmung des Präsidenten oder Oberrichters (des Noezeluik) ab. Jeder-Beamte wartet, bis seine Gnaden der Herr Präsident, der natürlich allemal ein Mann von mos¬ kowitischer Abkunft ist, erscheint und befiehlt: Jetzt machen Sie nur Dies oder Jenes. Wären die Chefs der Justizhöfe uuterichtete und gesetzkuudige Beamten, denen es möglich wäre, jedem ihrer Untergebenen die angemessene Arbeit zuzu- theilen, so wäre die Sache sür Polen ganz in der Ordnung. Allein die meisten sind so kenntnißlose, unpraktische und bornirte Geselle», daß sie die amtlichen Ge¬ schäfte uur sehr unvollständig kennen. Mau frage, wie die Herren zu ihrer Stellung gekommen sind. „Wer waren Sie, Herr Präsident des Obwodschaftö- gerichteö zu L. von Hans ans?" Er antwortet: „Ob ich überhaupt in einem Hanse geboren bin, ist ungewiß; ich wurde Gärtnergehilfe, dann schickte mich ein Kaufmann in eine Schrcibschule und machte mich zum Markthelfer, aus dieser Stellung wurde ich wegen eiues zarten Verhältnisses weggejagt, ich wurde Graben¬ stecher, wanderte mit einem kleinen Trupp vou Kazapcu in Litthauen umher und verbarg mich und uieiu Grabscheit vcrschiedeuek Herren, zum Dämmeaufwerfen, Gräbenziehen und Sümpfetrockenlegen; dann meldete ich mich, weil ich schreiben gelernt hatte und dem Dienst mit der Muskete entgehen wollte, in einem Com- pagniebnrean des Regiments Galizin als Schreiber, und schrieb hier drei-Jahre laug Formulare. Da hatte es der Zufall gefügt, daß meine Schwester, die von ihrem Manne getrennt war, das Glück hatte, dem General in Warschau zu ge¬ fallen und von ihm unterhalten zu werdeu. Durch dies glückliche Ereigniß wurde ich plötzlich, Actuarius bei dem Kreiögericht zu Saudomir, dessen Chef ein früherer Adjutant des-Generals war, und drei Vierteljahre danach wurde ich als Chef hier an dieses Gericht-versetzt, bei dem ich zur Stunde an Kaisers- statt „das Gesetz zu üben und Recht zu sprechen habe." — In dem Falle liegt nichts Ungewöhnliches. Nach kaiserlicher Verordnung sollen zwar wenigstens die Chefs der Justiz¬ ämter eine russische Universität besucht haben. Aber die wenigen Universitäten reichen nicht aus, und schickten anch Rußlands Acadcmien alljährlich Millionen von gelehrten Juristen in das Land, so würden deshalb doch Fälle, wie der erzählte, 108"

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92288/347>, abgerufen am 02.07.2024.