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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band.

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selben Fehlern. -- Bei uns ist der Grund allgemein bekannt: wir sind mehr oder
minder Kleinstädter, unsere Dichter haben keine Gelegenheit, das nationale Leben
concentrirt vor sich zu sehen; das, was man Gesellschaft nennt, sehlt bei uns
gänzlich. -- Es ist nur die Frage, ob man das Lustspiel dadurch hebt, wenn
man häufig französische Stücke ausführt. In ausgedehntem Maaß ist das uicht
gut möglich. Einmal verliert der französische Dialog unendlich auch durch die
beste Übersetzung. Die Feinheit liegt zum großen Theil in der Sprache. Dann
aber ist es nothwendig, daß unsere Kunst, wenn sie etwas Bleibendes leisten soll,
sich ans unserem Leben heraus entwickelt, so kümmerlich dieses vor der Hand
auch sein mag. Die sittliche Grundanschauung der Franzosen bis zu deu Ge¬
bräuchen herunter ist eine andere, als die unsrige, trotz der allgemeinen europäi¬
schen Politur; gerade jene EhebruchSgeschichteu u. s. w., die in Paris uicht deu
geringsten Anstoß erregen, berühren unser Publicum unangenehm, und eS ist das
immer uoch ein gutes Zeichen, welches wir nicht verkümmern wollen, wenn wir
auch mit unserm eigenen sittlichen Wesen uicht zu viel Aufhebens zu machen haben.
Mehr uoch als die Tragödie muß das Lustspiel aus der Natur deö Volkes Herans¬
wachsen, denn es steht ans realem, endlichem Boden. -- Aber unsere Dichter
sollten das französische Theater eifriger studiren, als es bis jetzt geschehen ist,
nicht um einzelne Einfälle zu entlehnen, denn an Einfällen fehlt es uns anch
uicht, sondern um sich für deu Dialog zu Schulen. Mau kann über jeden be¬
liebigen Gegenstand anmuthig und verständig plaudern, und ehe wir das uicht
gelernt haben, wird uns kein Lustspiel gelingen. Ihrerseits werden die Fran¬
zosen in Bezug ans die höhere, ideale Sprache bei uns in die Schule gehen
können, denn den Adel der Gedanken, Bilder, Anschauungen u. s. w., den wir
in den bessern Sachen von Goethe und Schiller finden, hat keiner ihrer Tra¬
göden erreicht.

Ein zweiter Vorzug deö französischen Lustspiels liegt in ihrer lebhafteren,
freien Phantasie. In unserer Motivirung liegt ein viel zu ängstlicher Pragmatis¬
mus. Es kommt bei der Intrigue eines Lustspiels gar nicht ans die größere oder
geringere Wahrscheinlichkeit der äußerlichen Zufälle an, deren sie sich bedient,
wenn nnr die psychologische Wahrheit und das ästhetische Gesetz der Steigerung
beobachtet wird. Um von Dumas gar nicht zu reden, dessen celtische Phantasie,
allzuhäufig ins Ungeheuerliche übergeht, so ist der Leichtsinn, mit dem selbst Seribe
combinirt, für einen Deutschen wahrhaft erschreckend. Wo er im ,,Glas Wasser",
der "Fessel," der Cameraderie u. s. w. irgend eine seiner Personen gebraucht,
siud sie auch da. Wir können nicht umhin, jede neu eintretende Person sich
gleichsam entschuldigend darüber aussprechen zu lassen, warum sie überhaupt kommt,
und warum sie gerade jeht kommt. Diese pedantische Gewissenhaftigkeit bedingt
auch den häufigen Seeueuwechsel, der mitunter geradezu unerträglich wird. Wir
siud gar nicht daran gewöhnt, einander ohne große Anmeldung und Vorbereitung


selben Fehlern. — Bei uns ist der Grund allgemein bekannt: wir sind mehr oder
minder Kleinstädter, unsere Dichter haben keine Gelegenheit, das nationale Leben
concentrirt vor sich zu sehen; das, was man Gesellschaft nennt, sehlt bei uns
gänzlich. — Es ist nur die Frage, ob man das Lustspiel dadurch hebt, wenn
man häufig französische Stücke ausführt. In ausgedehntem Maaß ist das uicht
gut möglich. Einmal verliert der französische Dialog unendlich auch durch die
beste Übersetzung. Die Feinheit liegt zum großen Theil in der Sprache. Dann
aber ist es nothwendig, daß unsere Kunst, wenn sie etwas Bleibendes leisten soll,
sich ans unserem Leben heraus entwickelt, so kümmerlich dieses vor der Hand
auch sein mag. Die sittliche Grundanschauung der Franzosen bis zu deu Ge¬
bräuchen herunter ist eine andere, als die unsrige, trotz der allgemeinen europäi¬
schen Politur; gerade jene EhebruchSgeschichteu u. s. w., die in Paris uicht deu
geringsten Anstoß erregen, berühren unser Publicum unangenehm, und eS ist das
immer uoch ein gutes Zeichen, welches wir nicht verkümmern wollen, wenn wir
auch mit unserm eigenen sittlichen Wesen uicht zu viel Aufhebens zu machen haben.
Mehr uoch als die Tragödie muß das Lustspiel aus der Natur deö Volkes Herans¬
wachsen, denn es steht ans realem, endlichem Boden. — Aber unsere Dichter
sollten das französische Theater eifriger studiren, als es bis jetzt geschehen ist,
nicht um einzelne Einfälle zu entlehnen, denn an Einfällen fehlt es uns anch
uicht, sondern um sich für deu Dialog zu Schulen. Mau kann über jeden be¬
liebigen Gegenstand anmuthig und verständig plaudern, und ehe wir das uicht
gelernt haben, wird uns kein Lustspiel gelingen. Ihrerseits werden die Fran¬
zosen in Bezug ans die höhere, ideale Sprache bei uns in die Schule gehen
können, denn den Adel der Gedanken, Bilder, Anschauungen u. s. w., den wir
in den bessern Sachen von Goethe und Schiller finden, hat keiner ihrer Tra¬
göden erreicht.

Ein zweiter Vorzug deö französischen Lustspiels liegt in ihrer lebhafteren,
freien Phantasie. In unserer Motivirung liegt ein viel zu ängstlicher Pragmatis¬
mus. Es kommt bei der Intrigue eines Lustspiels gar nicht ans die größere oder
geringere Wahrscheinlichkeit der äußerlichen Zufälle an, deren sie sich bedient,
wenn nnr die psychologische Wahrheit und das ästhetische Gesetz der Steigerung
beobachtet wird. Um von Dumas gar nicht zu reden, dessen celtische Phantasie,
allzuhäufig ins Ungeheuerliche übergeht, so ist der Leichtsinn, mit dem selbst Seribe
combinirt, für einen Deutschen wahrhaft erschreckend. Wo er im ,,Glas Wasser",
der „Fessel," der Cameraderie u. s. w. irgend eine seiner Personen gebraucht,
siud sie auch da. Wir können nicht umhin, jede neu eintretende Person sich
gleichsam entschuldigend darüber aussprechen zu lassen, warum sie überhaupt kommt,
und warum sie gerade jeht kommt. Diese pedantische Gewissenhaftigkeit bedingt
auch den häufigen Seeueuwechsel, der mitunter geradezu unerträglich wird. Wir
siud gar nicht daran gewöhnt, einander ohne große Anmeldung und Vorbereitung


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92288/32>, abgerufen am 22.07.2024.