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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band.

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dieses Idealismus, gegenüber einer neuen, dämonischen Schule, mehr von Kritikern
als von Dichtern, verkennen wollten, die nur die Kraft feiern und in ihrer genialen
Paradoxie eine vollkommene Gleichgültigkeit gegen Gut und Böse zur Schau
tragen; die, auf deu Vorgang eines großen Denkers sich stützend, die Freiheits¬
liebe der Athener als unberechtigt gegen den historischen Beruf eines Alexander
proclamiren, die Innocenz, Robespierre und Alba als Helden verehren, weil sie
sich in der Verfolgung ihrer fixen Ideen durch kein Blut irre machen ließen,
ja die zuletzt die Höhe des Heldenthums nach dem Grade abmessen, in welchem man
die Menschlichkeit von sich abstreift. Gegen diese toll gewordene Genialität sollen
uns Göthe's und Schiller's Ideale ewige Warnungszeichen bleiben, die uns darau
erinnern, daß, wo die Menschheit aufhört, auch der Dichter nichts zu thun hat.

Ich beschränke mich auf diese kurze Andeutung, und gehe auf die zweite
Frage über: wie sich Schiller's Kunstform zu der Anforderung unserer Zeit verhält?

In einer Seite seiner Thätigkeit ist er noch immer zu wenig gewürdigt: ich
meine die ästhetischen Abhandlungen. Mit Recht hat man diesen einen zu großen
Aufwand von rhetorischen Pathos vorgeworfen; man kann noch hinzufügen, daß
der Tact, den er in seinem Urtheil bewährt, nicht immer so treffend ist, als seine
Reflexion, z. B. in seiner Kritik über Matthison's Gedichte, aber trotz dieser
Vorwürfe ist er noch ziemlich allen unsern Kritikern als Muster aufzustellen.
Unsere heutigen Kritiker, wenn sie nicht als gute Feuilletonisten sich damit begnügen,
über den vorliegenden Gegenstand allerlei schöne Dinge zu sagen, die uicht zur
Sache gehören, urtheilen entweder, wie Tieck und Börne, nach dem bloßen In-
stinct, nach Einfällen, Launen und Stimmungen; oder sie haben eine solche Virtuo¬
sität im Construiren einer poetischen Idee, daß sie mit gleicher Vorliebe das Gute
wie das Schlechte reproduciren, daß sie vollständig vergessen, wie die Hauptaufgabe
der Kritik ist, zu billigen oder zu mißbilligen, die Hauptaufgabe der ästhetischen
Theorie, die leitenden Grundsätze für diese Kritik herzugeben; daß, wenn sie ein¬
mal urtheilen, dieses Urtheil nicht ans ihrer Construction, sondern wieder ans
Laune und Stimmung entspringt. In dieser falschen Objectivität sind nicht nur
unsere halbgebildeter Philosophen befangen, sondern auch Männer, wie Gewinns,
der in seiner Reproduction der Shakespeareschen Stücke vollständig vergißt, daß
er es nicht mit Naturphänomenen, sondern mit Erftndnngen des menschlichen
Witzes zu thun hat. --

Die lyrischen, oder, wenn man will, didactischen Gedichte Schiller's sind
in ihrer Art ein Maximum. So reiche Gedanken, mit vollkommener Methode
entwickelt, und doch in einer wesentlich poetischen Form ausgedrückt, wie die
Götter Griechenlands, die Künstler, das Ideal und das Leben, der Spazier¬
gang u. s. w., stehen über der capriciösen Neflexiouslyrik unserer Tage, die alles
Maaß und alle Form verloren hat, die den Gedanken in Bildern erstickt, statt
ihn auszudrücken, ebenso erhaben, als Schiller überhaupt über unsern Poeten.


dieses Idealismus, gegenüber einer neuen, dämonischen Schule, mehr von Kritikern
als von Dichtern, verkennen wollten, die nur die Kraft feiern und in ihrer genialen
Paradoxie eine vollkommene Gleichgültigkeit gegen Gut und Böse zur Schau
tragen; die, auf deu Vorgang eines großen Denkers sich stützend, die Freiheits¬
liebe der Athener als unberechtigt gegen den historischen Beruf eines Alexander
proclamiren, die Innocenz, Robespierre und Alba als Helden verehren, weil sie
sich in der Verfolgung ihrer fixen Ideen durch kein Blut irre machen ließen,
ja die zuletzt die Höhe des Heldenthums nach dem Grade abmessen, in welchem man
die Menschlichkeit von sich abstreift. Gegen diese toll gewordene Genialität sollen
uns Göthe's und Schiller's Ideale ewige Warnungszeichen bleiben, die uns darau
erinnern, daß, wo die Menschheit aufhört, auch der Dichter nichts zu thun hat.

Ich beschränke mich auf diese kurze Andeutung, und gehe auf die zweite
Frage über: wie sich Schiller's Kunstform zu der Anforderung unserer Zeit verhält?

In einer Seite seiner Thätigkeit ist er noch immer zu wenig gewürdigt: ich
meine die ästhetischen Abhandlungen. Mit Recht hat man diesen einen zu großen
Aufwand von rhetorischen Pathos vorgeworfen; man kann noch hinzufügen, daß
der Tact, den er in seinem Urtheil bewährt, nicht immer so treffend ist, als seine
Reflexion, z. B. in seiner Kritik über Matthison's Gedichte, aber trotz dieser
Vorwürfe ist er noch ziemlich allen unsern Kritikern als Muster aufzustellen.
Unsere heutigen Kritiker, wenn sie nicht als gute Feuilletonisten sich damit begnügen,
über den vorliegenden Gegenstand allerlei schöne Dinge zu sagen, die uicht zur
Sache gehören, urtheilen entweder, wie Tieck und Börne, nach dem bloßen In-
stinct, nach Einfällen, Launen und Stimmungen; oder sie haben eine solche Virtuo¬
sität im Construiren einer poetischen Idee, daß sie mit gleicher Vorliebe das Gute
wie das Schlechte reproduciren, daß sie vollständig vergessen, wie die Hauptaufgabe
der Kritik ist, zu billigen oder zu mißbilligen, die Hauptaufgabe der ästhetischen
Theorie, die leitenden Grundsätze für diese Kritik herzugeben; daß, wenn sie ein¬
mal urtheilen, dieses Urtheil nicht ans ihrer Construction, sondern wieder ans
Laune und Stimmung entspringt. In dieser falschen Objectivität sind nicht nur
unsere halbgebildeter Philosophen befangen, sondern auch Männer, wie Gewinns,
der in seiner Reproduction der Shakespeareschen Stücke vollständig vergißt, daß
er es nicht mit Naturphänomenen, sondern mit Erftndnngen des menschlichen
Witzes zu thun hat. —

Die lyrischen, oder, wenn man will, didactischen Gedichte Schiller's sind
in ihrer Art ein Maximum. So reiche Gedanken, mit vollkommener Methode
entwickelt, und doch in einer wesentlich poetischen Form ausgedrückt, wie die
Götter Griechenlands, die Künstler, das Ideal und das Leben, der Spazier¬
gang u. s. w., stehen über der capriciösen Neflexiouslyrik unserer Tage, die alles
Maaß und alle Form verloren hat, die den Gedanken in Bildern erstickt, statt
ihn auszudrücken, ebenso erhaben, als Schiller überhaupt über unsern Poeten.


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[0294] dieses Idealismus, gegenüber einer neuen, dämonischen Schule, mehr von Kritikern als von Dichtern, verkennen wollten, die nur die Kraft feiern und in ihrer genialen Paradoxie eine vollkommene Gleichgültigkeit gegen Gut und Böse zur Schau tragen; die, auf deu Vorgang eines großen Denkers sich stützend, die Freiheits¬ liebe der Athener als unberechtigt gegen den historischen Beruf eines Alexander proclamiren, die Innocenz, Robespierre und Alba als Helden verehren, weil sie sich in der Verfolgung ihrer fixen Ideen durch kein Blut irre machen ließen, ja die zuletzt die Höhe des Heldenthums nach dem Grade abmessen, in welchem man die Menschlichkeit von sich abstreift. Gegen diese toll gewordene Genialität sollen uns Göthe's und Schiller's Ideale ewige Warnungszeichen bleiben, die uns darau erinnern, daß, wo die Menschheit aufhört, auch der Dichter nichts zu thun hat. Ich beschränke mich auf diese kurze Andeutung, und gehe auf die zweite Frage über: wie sich Schiller's Kunstform zu der Anforderung unserer Zeit verhält? In einer Seite seiner Thätigkeit ist er noch immer zu wenig gewürdigt: ich meine die ästhetischen Abhandlungen. Mit Recht hat man diesen einen zu großen Aufwand von rhetorischen Pathos vorgeworfen; man kann noch hinzufügen, daß der Tact, den er in seinem Urtheil bewährt, nicht immer so treffend ist, als seine Reflexion, z. B. in seiner Kritik über Matthison's Gedichte, aber trotz dieser Vorwürfe ist er noch ziemlich allen unsern Kritikern als Muster aufzustellen. Unsere heutigen Kritiker, wenn sie nicht als gute Feuilletonisten sich damit begnügen, über den vorliegenden Gegenstand allerlei schöne Dinge zu sagen, die uicht zur Sache gehören, urtheilen entweder, wie Tieck und Börne, nach dem bloßen In- stinct, nach Einfällen, Launen und Stimmungen; oder sie haben eine solche Virtuo¬ sität im Construiren einer poetischen Idee, daß sie mit gleicher Vorliebe das Gute wie das Schlechte reproduciren, daß sie vollständig vergessen, wie die Hauptaufgabe der Kritik ist, zu billigen oder zu mißbilligen, die Hauptaufgabe der ästhetischen Theorie, die leitenden Grundsätze für diese Kritik herzugeben; daß, wenn sie ein¬ mal urtheilen, dieses Urtheil nicht ans ihrer Construction, sondern wieder ans Laune und Stimmung entspringt. In dieser falschen Objectivität sind nicht nur unsere halbgebildeter Philosophen befangen, sondern auch Männer, wie Gewinns, der in seiner Reproduction der Shakespeareschen Stücke vollständig vergißt, daß er es nicht mit Naturphänomenen, sondern mit Erftndnngen des menschlichen Witzes zu thun hat. — Die lyrischen, oder, wenn man will, didactischen Gedichte Schiller's sind in ihrer Art ein Maximum. So reiche Gedanken, mit vollkommener Methode entwickelt, und doch in einer wesentlich poetischen Form ausgedrückt, wie die Götter Griechenlands, die Künstler, das Ideal und das Leben, der Spazier¬ gang u. s. w., stehen über der capriciösen Neflexiouslyrik unserer Tage, die alles Maaß und alle Form verloren hat, die den Gedanken in Bildern erstickt, statt ihn auszudrücken, ebenso erhaben, als Schiller überhaupt über unsern Poeten.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92288/294>, abgerufen am 25.08.2024.