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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band.

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Imperativ der von Leidenschaften, Wünschen und Hoffnungen in beständigen
Widersprüchen bewegten Menschheit ein so hartes Gebot der Tugend entgegenstellt,
daß schon das Zusammenfallen der Neigung mit der Pflicht als eine Entheiligung der
letztern gilt; wenn Fichte die Verkehrtheit der gegenwärtigen Welt nicht anders
begreifen kann, als indem er in ihr den nothwendigen, aber häßlichen Uebergang
zu dem Reich der vollkommenen Glückseligkeit steht, in dessen idealem Bilde die
Wirklichkeit ihren vollkommenen Gegensatz erkennen muß; wenn man in Romanen,
Monologen, und Philosophien ans dieser Welt der Lüge in das verlorene Para¬
dies der Kindheit, der Unschuld, der Natur zurückzukehren trachtet, einer Natur,
die nirgend anders vorhanden ist, als in der eigenen Phantasie: --so findet sich
bei Schiller dieser Gegensatz der vollkommenen Welt und der wirklichen nicht
blos in den lyrischen Gedichten, in Hener dem Menschen, um glücklich zu werden,
kein anderer Rath geboten werden kann, als aus der Sinne Schranken zu
fliehen, dem Genuß und der Begierde zu entsagen, und das Reich der Schatten
zu suchen; in denen die strahlenden Göttergestalten der Ideale, die noch dem
jugendlichen Gemüth als Traumbilder leuchteten, sich bang und schüchtern von der
Erde abwenden, die sür ihren zarten Bau zu wild bewegt und zu sinnlich ist;
sondern auch in den Dramen: denn so tüchtig sich der Dichter in der geschicht¬
lichen Welt zu bewegen weiß, so ist es doch uicht die Ueberwindung der Wider¬
sprüche durch die geschichtliche Kraft, welche ihn begeistert, sondern das in sich
vollkommene Gemüth, das von der Welt nur befleckt werden kann, und das je
eher je lieber ihrer Verwirrung entfliehen muß: so stehen dem in den Leiden¬
schaften der Zeit befangenen und darum unvollkommenen Wallenstein nicht allein
die vollkommenen Gestalten von Max und Theela gegenüber, die über den histo¬
rischen Widerspruch hinaus sind, sondern eigentlich auel/ die stillen, idyllischen Na¬
turen, wie der alte Gordon; so verlangt die heilige Jungfrau vou der Heldin,
die ihr als Werkzeug dienen soll, vollständige Reinheit von den menschlichen
Trieben, so sind Maria Stuart, Don Carlos, Beatrice u. s. w. bloße Leidens¬
gestalten, die in dieser Welt der Gegensätze untergehen, weil sie zu gilt sind für
sie; so müssen endlich ein König Philipp, ein Wallenstein, ein Geßler u. s. w.
wenigstens eiuen Punkt haben, an dem die Menschheit sie ergreift, um Gegenstand
der Poesie zu werdeu, und uur personificirte Abstractionen, wie der Großinqui¬
sitor, bleiben frei davon.

Dieses Ideal der Humanität, welches Göthe in seinem Egmont, Iphigenie,
natürlicher Tochter ?c. den geschichtlichen Mächten entgegenstellt, welches Herder,
Jean Paul, Jacobi, Schleiermacher zu. predigen nicht müde wurden, kann nicht
das unsrige sein. Unsere Götter siud uicht die seligen, thatlosen des Olymp,
sondern die kämpfenden und schuldig leidenden Erlöser der Menschheit, Prome>
theils, Herkules, Christus.

Wir würden aber in unserm Urtheil einseitig sein, wenn wir die Berechtigung


Imperativ der von Leidenschaften, Wünschen und Hoffnungen in beständigen
Widersprüchen bewegten Menschheit ein so hartes Gebot der Tugend entgegenstellt,
daß schon das Zusammenfallen der Neigung mit der Pflicht als eine Entheiligung der
letztern gilt; wenn Fichte die Verkehrtheit der gegenwärtigen Welt nicht anders
begreifen kann, als indem er in ihr den nothwendigen, aber häßlichen Uebergang
zu dem Reich der vollkommenen Glückseligkeit steht, in dessen idealem Bilde die
Wirklichkeit ihren vollkommenen Gegensatz erkennen muß; wenn man in Romanen,
Monologen, und Philosophien ans dieser Welt der Lüge in das verlorene Para¬
dies der Kindheit, der Unschuld, der Natur zurückzukehren trachtet, einer Natur,
die nirgend anders vorhanden ist, als in der eigenen Phantasie: —so findet sich
bei Schiller dieser Gegensatz der vollkommenen Welt und der wirklichen nicht
blos in den lyrischen Gedichten, in Hener dem Menschen, um glücklich zu werden,
kein anderer Rath geboten werden kann, als aus der Sinne Schranken zu
fliehen, dem Genuß und der Begierde zu entsagen, und das Reich der Schatten
zu suchen; in denen die strahlenden Göttergestalten der Ideale, die noch dem
jugendlichen Gemüth als Traumbilder leuchteten, sich bang und schüchtern von der
Erde abwenden, die sür ihren zarten Bau zu wild bewegt und zu sinnlich ist;
sondern auch in den Dramen: denn so tüchtig sich der Dichter in der geschicht¬
lichen Welt zu bewegen weiß, so ist es doch uicht die Ueberwindung der Wider¬
sprüche durch die geschichtliche Kraft, welche ihn begeistert, sondern das in sich
vollkommene Gemüth, das von der Welt nur befleckt werden kann, und das je
eher je lieber ihrer Verwirrung entfliehen muß: so stehen dem in den Leiden¬
schaften der Zeit befangenen und darum unvollkommenen Wallenstein nicht allein
die vollkommenen Gestalten von Max und Theela gegenüber, die über den histo¬
rischen Widerspruch hinaus sind, sondern eigentlich auel/ die stillen, idyllischen Na¬
turen, wie der alte Gordon; so verlangt die heilige Jungfrau vou der Heldin,
die ihr als Werkzeug dienen soll, vollständige Reinheit von den menschlichen
Trieben, so sind Maria Stuart, Don Carlos, Beatrice u. s. w. bloße Leidens¬
gestalten, die in dieser Welt der Gegensätze untergehen, weil sie zu gilt sind für
sie; so müssen endlich ein König Philipp, ein Wallenstein, ein Geßler u. s. w.
wenigstens eiuen Punkt haben, an dem die Menschheit sie ergreift, um Gegenstand
der Poesie zu werdeu, und uur personificirte Abstractionen, wie der Großinqui¬
sitor, bleiben frei davon.

Dieses Ideal der Humanität, welches Göthe in seinem Egmont, Iphigenie,
natürlicher Tochter ?c. den geschichtlichen Mächten entgegenstellt, welches Herder,
Jean Paul, Jacobi, Schleiermacher zu. predigen nicht müde wurden, kann nicht
das unsrige sein. Unsere Götter siud uicht die seligen, thatlosen des Olymp,
sondern die kämpfenden und schuldig leidenden Erlöser der Menschheit, Prome>
theils, Herkules, Christus.

Wir würden aber in unserm Urtheil einseitig sein, wenn wir die Berechtigung


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[0293] Imperativ der von Leidenschaften, Wünschen und Hoffnungen in beständigen Widersprüchen bewegten Menschheit ein so hartes Gebot der Tugend entgegenstellt, daß schon das Zusammenfallen der Neigung mit der Pflicht als eine Entheiligung der letztern gilt; wenn Fichte die Verkehrtheit der gegenwärtigen Welt nicht anders begreifen kann, als indem er in ihr den nothwendigen, aber häßlichen Uebergang zu dem Reich der vollkommenen Glückseligkeit steht, in dessen idealem Bilde die Wirklichkeit ihren vollkommenen Gegensatz erkennen muß; wenn man in Romanen, Monologen, und Philosophien ans dieser Welt der Lüge in das verlorene Para¬ dies der Kindheit, der Unschuld, der Natur zurückzukehren trachtet, einer Natur, die nirgend anders vorhanden ist, als in der eigenen Phantasie: —so findet sich bei Schiller dieser Gegensatz der vollkommenen Welt und der wirklichen nicht blos in den lyrischen Gedichten, in Hener dem Menschen, um glücklich zu werden, kein anderer Rath geboten werden kann, als aus der Sinne Schranken zu fliehen, dem Genuß und der Begierde zu entsagen, und das Reich der Schatten zu suchen; in denen die strahlenden Göttergestalten der Ideale, die noch dem jugendlichen Gemüth als Traumbilder leuchteten, sich bang und schüchtern von der Erde abwenden, die sür ihren zarten Bau zu wild bewegt und zu sinnlich ist; sondern auch in den Dramen: denn so tüchtig sich der Dichter in der geschicht¬ lichen Welt zu bewegen weiß, so ist es doch uicht die Ueberwindung der Wider¬ sprüche durch die geschichtliche Kraft, welche ihn begeistert, sondern das in sich vollkommene Gemüth, das von der Welt nur befleckt werden kann, und das je eher je lieber ihrer Verwirrung entfliehen muß: so stehen dem in den Leiden¬ schaften der Zeit befangenen und darum unvollkommenen Wallenstein nicht allein die vollkommenen Gestalten von Max und Theela gegenüber, die über den histo¬ rischen Widerspruch hinaus sind, sondern eigentlich auel/ die stillen, idyllischen Na¬ turen, wie der alte Gordon; so verlangt die heilige Jungfrau vou der Heldin, die ihr als Werkzeug dienen soll, vollständige Reinheit von den menschlichen Trieben, so sind Maria Stuart, Don Carlos, Beatrice u. s. w. bloße Leidens¬ gestalten, die in dieser Welt der Gegensätze untergehen, weil sie zu gilt sind für sie; so müssen endlich ein König Philipp, ein Wallenstein, ein Geßler u. s. w. wenigstens eiuen Punkt haben, an dem die Menschheit sie ergreift, um Gegenstand der Poesie zu werdeu, und uur personificirte Abstractionen, wie der Großinqui¬ sitor, bleiben frei davon. Dieses Ideal der Humanität, welches Göthe in seinem Egmont, Iphigenie, natürlicher Tochter ?c. den geschichtlichen Mächten entgegenstellt, welches Herder, Jean Paul, Jacobi, Schleiermacher zu. predigen nicht müde wurden, kann nicht das unsrige sein. Unsere Götter siud uicht die seligen, thatlosen des Olymp, sondern die kämpfenden und schuldig leidenden Erlöser der Menschheit, Prome> theils, Herkules, Christus. Wir würden aber in unserm Urtheil einseitig sein, wenn wir die Berechtigung

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92288/293>, abgerufen am 22.07.2024.