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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band.

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waffnete und unbewaffnete Gruppen, die sich eilig durch Seitengassen und Durch¬
häuser jagten, während auf dem leerbleibcnden großen Raume des Platzes
Scherben zertrümmerter Fensterscheiben und kleine Blntpfützen eine stattgefundene
Straßenschlacht erzählten. Aufwärts nach dein Mehlmarkt eilend, begegneten wir
einem Gardisten, der, das Gewehr auf der Schulter, langsam und matt vorüber¬
stampfend, ans Misere Fragen mit heiserer, kaum verständlicher Stimme antwortete:
"Kartätschen!" -- "Wer schießt mit Kartätschen?" -- "Jetzt nit mehr!" krächzte
er, mit einem wilden Lächeln auf die Mitte des Grabens deutend; "er hat
schießen lassen mit Kartätschen, hier und dort, der Latour -- gehn's nur nach'n
Hof -- sie hängen ihn grad." -- Ich prallte zurück, aber Kurt riß mich mit
starker Hand weiter. "Es ist unmöglich!" rief ich. -- Mein Begleiter wurde
blaß, und schweigend blieben wir eine Weile stehen. Die böse Ahnung, es
könnte wahr sein, und die Angst vor dem Eindruck eines abscheulichen Schauspiels
hielt uus zurück; die Begierde, Gewißheit zu erlangen, und die Hoffnung, es
sei ein Mißverständniß, trieb uns der verhängnißvollen Stätte entgegen. Gewiß,
dachte ich, es ist ein leeres Gestbrei, ein Mißverständniß, -- aber vielleicht ein
blutiges; das dumme Volk hat in seiner Hundstollheit den ersten besten armen
Schneider, der ihm in den Weg kam, gepackt und -- da faßte uus eine un¬
gestüme Volkswoge, die sich vom Kohlmarkt hcrwälzte, wir waren mitten im Ge¬
dränge; es steuerte dnrch eine schmale Seitengasse am Kriegsgebände vorüber
nach dem Hof und trug uus mit. Jetzt erst fiel mir auf, daß bereits dunkle
Dämmerung herrschte; in meinen 'Gedanken war es höchstens zwei Uhr nach
Mittag gewesen. Wie inhaltsvoll und endlos manche einzelne Minute, eben so
zauberschuell war der ganze Tag entflohen. Vom Hof her drängte sich uns ein
Menschenstrom entgegen, die Fluth durchfurchend, in der wir schwammen; ein
untersetzter, behaglich aussehender Mann in schmucker blauer Uniform, mit purpur¬
rothen Gesicht, hielt einen schwarzen Fetzen zwischen den Fingern in die Höhe
und rief mit entsetzlich naiver Lustigkeit, wie etwa ein Spanier, der eine Trophäe
vom Stiergefecht heimträgt: "Henkt scho, i hoob a Stückerl von sein' Kult!"
Und im nächsten Moment standen wir ungefähr zehn Schritt von dem revolutionären
Schaffott, umbraust von einer Sündfluth infernalischer Gestalten, die den ganzen
weiten Hof anfüllte. Ueber der grün angestrichenen hohen Erzsäule des Cande-
labers vor dem KriegSgebäude hackten und handelten zwei Kerle, von denen einer
ein Soldat schien, und als sie unter dem trunkenen Zuruf des Pöbels herunter¬
sprangen, wirbelte eine formlose Masse, in ein weißes Laken gehüllt, mehrmals
in der Luft herum, bis über den zerfetzten Ueberresten der aufgeheukteu Menschen¬
gestalt ein Kopf sichtbar wurde, ein schwarzer, kraushaariger Negerkopf! Wieder
blitzte mir der Gedanke von vorhin durch'ö Hirn: es ist ein Blendwerk der Hölle,
der Satan hat dem Volke einen Unglücklichen in die Hand gespielt, der vielleicht
Latour ähnlich sah, nur um es zum Mord zu verleiten. Aber nein, er ist


waffnete und unbewaffnete Gruppen, die sich eilig durch Seitengassen und Durch¬
häuser jagten, während auf dem leerbleibcnden großen Raume des Platzes
Scherben zertrümmerter Fensterscheiben und kleine Blntpfützen eine stattgefundene
Straßenschlacht erzählten. Aufwärts nach dein Mehlmarkt eilend, begegneten wir
einem Gardisten, der, das Gewehr auf der Schulter, langsam und matt vorüber¬
stampfend, ans Misere Fragen mit heiserer, kaum verständlicher Stimme antwortete:
„Kartätschen!" — „Wer schießt mit Kartätschen?" — „Jetzt nit mehr!" krächzte
er, mit einem wilden Lächeln auf die Mitte des Grabens deutend; „er hat
schießen lassen mit Kartätschen, hier und dort, der Latour — gehn's nur nach'n
Hof — sie hängen ihn grad." — Ich prallte zurück, aber Kurt riß mich mit
starker Hand weiter. „Es ist unmöglich!" rief ich. — Mein Begleiter wurde
blaß, und schweigend blieben wir eine Weile stehen. Die böse Ahnung, es
könnte wahr sein, und die Angst vor dem Eindruck eines abscheulichen Schauspiels
hielt uus zurück; die Begierde, Gewißheit zu erlangen, und die Hoffnung, es
sei ein Mißverständniß, trieb uns der verhängnißvollen Stätte entgegen. Gewiß,
dachte ich, es ist ein leeres Gestbrei, ein Mißverständniß, — aber vielleicht ein
blutiges; das dumme Volk hat in seiner Hundstollheit den ersten besten armen
Schneider, der ihm in den Weg kam, gepackt und — da faßte uus eine un¬
gestüme Volkswoge, die sich vom Kohlmarkt hcrwälzte, wir waren mitten im Ge¬
dränge; es steuerte dnrch eine schmale Seitengasse am Kriegsgebände vorüber
nach dem Hof und trug uus mit. Jetzt erst fiel mir auf, daß bereits dunkle
Dämmerung herrschte; in meinen 'Gedanken war es höchstens zwei Uhr nach
Mittag gewesen. Wie inhaltsvoll und endlos manche einzelne Minute, eben so
zauberschuell war der ganze Tag entflohen. Vom Hof her drängte sich uns ein
Menschenstrom entgegen, die Fluth durchfurchend, in der wir schwammen; ein
untersetzter, behaglich aussehender Mann in schmucker blauer Uniform, mit purpur¬
rothen Gesicht, hielt einen schwarzen Fetzen zwischen den Fingern in die Höhe
und rief mit entsetzlich naiver Lustigkeit, wie etwa ein Spanier, der eine Trophäe
vom Stiergefecht heimträgt: „Henkt scho, i hoob a Stückerl von sein' Kult!"
Und im nächsten Moment standen wir ungefähr zehn Schritt von dem revolutionären
Schaffott, umbraust von einer Sündfluth infernalischer Gestalten, die den ganzen
weiten Hof anfüllte. Ueber der grün angestrichenen hohen Erzsäule des Cande-
labers vor dem KriegSgebäude hackten und handelten zwei Kerle, von denen einer
ein Soldat schien, und als sie unter dem trunkenen Zuruf des Pöbels herunter¬
sprangen, wirbelte eine formlose Masse, in ein weißes Laken gehüllt, mehrmals
in der Luft herum, bis über den zerfetzten Ueberresten der aufgeheukteu Menschen¬
gestalt ein Kopf sichtbar wurde, ein schwarzer, kraushaariger Negerkopf! Wieder
blitzte mir der Gedanke von vorhin durch'ö Hirn: es ist ein Blendwerk der Hölle,
der Satan hat dem Volke einen Unglücklichen in die Hand gespielt, der vielleicht
Latour ähnlich sah, nur um es zum Mord zu verleiten. Aber nein, er ist


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92288/230>, abgerufen am 25.07.2024.