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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band.

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haben. Was kann uns der grünliche Drache mit seinem feurigen rothen Maul
ängstigen, oder der schändliche Oger, welcher sich bemüßigt sieht, kleine Kinder zu
fressen? Wir wissen recht gut, daß diesen nichtswürdigell Bösewichtern von unsern
Lieblingen der Kopf abgeschlagen wird. -- Nein, und gar die kleinen braunen
Männchen, und die Feen und die guten Zauberer! Wie freundlich sie hiu und her
trippeln, wie sie immer grade zu rechter Zeit erscheinen, wenn'S Noth thut, welche
vortrefflichen Geschenke sie zu geben wissen, kleine Nüsse, in denen ungeheure Zelte
stecken, und ambulante Stecknadeln, welche selbstständig unsere Feinde in die Beine
stechen. O es ist eine allerliebste, höchst gutmüthige und tugendhafte Welt, die
sich vor meinen Augen ausbreiter. Und selbst für den verstocktesten Herrn ist es
unmöglich, beim Anblick dieser Kinderlectüre finster zu bleiben und sich nicht an
die Jahre zu erinnern, wo er selbst klein, fröhlich und unschuldig war.

Ans dem Bücherhaufen vor mir fallen mir zwei Bücher in die Hand. Sie
sind von einer Frau geschrieben, die seit mehreren Jahren todt ist, und die von
dem, der dies schreibt, herzlich geliebt wurde. Diese Frau ist die schlestsche Dichterin
Agnes Franz. Wer sie gekannt hat und an sie denkt, der sieht sie vor sich, wie
ein schöner grüner Christbaum Ueber ihr brennt und viele Kiuder im Weihnachts-
jnbel um sie herumtanzen. Von Aussehn war sie ein ältliches verwachsenes Fräu¬
lein, mit einem etwas großen Kopf und etwas kurzem Hals, sie trug eine
schwarzseidene Malltille mit Krausen, welche leise lind geisterhaft raschelten,
wenn sie in Bewegung gerieth. Eine Schwester hatte ihr auf dem Todtenbett
vier kleine Waisen vermacht, welche ihre Familie bildeten; sie bewohnte daher drei
Treppen hoch eine Kinderstube und eine gute Stube, welche als Gescllschafts-
salou betrachtet wurde. Ein großes Mansardeufenster mit Epheu umzogen, ein
altes Fortepiano, ein Bücherschrank nad ein freundlichgläuzender gelber Schreibtisch
gaben dem bescheidenen Raum ein respectables, gleichsam poetisches Aussehn. In
der Stube erzog sie die Kinder, schrieb ihre Gedichte, Parabeln und Novellen
und empfing ihre Freunde beim Thee. Mochte sie aber thun, was sie wollte, es
lag sehr viel Frieden, Freude und Seligkeit ans ihrem gar nicht hübschen Gesicht.
Das war das Eigenthümliche an ihr. Auch wenn sie weinte, sah sie glücklich und
zufrieden ans. Und was noch merkwürdiger war, wer in ihre Nähe kam, gerieth in
eine ähnliche zufriedene Stimmung. Es war eine ewige Weihnachtslnft um sie
herum, und wenn man bei ihr Thee trank, glaubte man das leibhaftige Christ¬
kind zu erblicken, oder wenigstens eine gute Frau Holle oder einen entsprechenden
WeihnachtSgeist. Ju der Stube roch es ordentlich nach Wachsstock und Tannen,
die Bretzeln auf dem Teller hatten ein so pfiffiges Aussehn wie Zauberbrillen, die
man uur auf die Nase zu schen braucht, um Elfen tanzen zu sehen, und matt



Buch der Kindheit und Jugend und Buch für Mädchen von Agnes
Franz. -Breslau, Ferd. Hirt.

haben. Was kann uns der grünliche Drache mit seinem feurigen rothen Maul
ängstigen, oder der schändliche Oger, welcher sich bemüßigt sieht, kleine Kinder zu
fressen? Wir wissen recht gut, daß diesen nichtswürdigell Bösewichtern von unsern
Lieblingen der Kopf abgeschlagen wird. — Nein, und gar die kleinen braunen
Männchen, und die Feen und die guten Zauberer! Wie freundlich sie hiu und her
trippeln, wie sie immer grade zu rechter Zeit erscheinen, wenn'S Noth thut, welche
vortrefflichen Geschenke sie zu geben wissen, kleine Nüsse, in denen ungeheure Zelte
stecken, und ambulante Stecknadeln, welche selbstständig unsere Feinde in die Beine
stechen. O es ist eine allerliebste, höchst gutmüthige und tugendhafte Welt, die
sich vor meinen Augen ausbreiter. Und selbst für den verstocktesten Herrn ist es
unmöglich, beim Anblick dieser Kinderlectüre finster zu bleiben und sich nicht an
die Jahre zu erinnern, wo er selbst klein, fröhlich und unschuldig war.

Ans dem Bücherhaufen vor mir fallen mir zwei Bücher in die Hand. Sie
sind von einer Frau geschrieben, die seit mehreren Jahren todt ist, und die von
dem, der dies schreibt, herzlich geliebt wurde. Diese Frau ist die schlestsche Dichterin
Agnes Franz. Wer sie gekannt hat und an sie denkt, der sieht sie vor sich, wie
ein schöner grüner Christbaum Ueber ihr brennt und viele Kiuder im Weihnachts-
jnbel um sie herumtanzen. Von Aussehn war sie ein ältliches verwachsenes Fräu¬
lein, mit einem etwas großen Kopf und etwas kurzem Hals, sie trug eine
schwarzseidene Malltille mit Krausen, welche leise lind geisterhaft raschelten,
wenn sie in Bewegung gerieth. Eine Schwester hatte ihr auf dem Todtenbett
vier kleine Waisen vermacht, welche ihre Familie bildeten; sie bewohnte daher drei
Treppen hoch eine Kinderstube und eine gute Stube, welche als Gescllschafts-
salou betrachtet wurde. Ein großes Mansardeufenster mit Epheu umzogen, ein
altes Fortepiano, ein Bücherschrank nad ein freundlichgläuzender gelber Schreibtisch
gaben dem bescheidenen Raum ein respectables, gleichsam poetisches Aussehn. In
der Stube erzog sie die Kinder, schrieb ihre Gedichte, Parabeln und Novellen
und empfing ihre Freunde beim Thee. Mochte sie aber thun, was sie wollte, es
lag sehr viel Frieden, Freude und Seligkeit ans ihrem gar nicht hübschen Gesicht.
Das war das Eigenthümliche an ihr. Auch wenn sie weinte, sah sie glücklich und
zufrieden ans. Und was noch merkwürdiger war, wer in ihre Nähe kam, gerieth in
eine ähnliche zufriedene Stimmung. Es war eine ewige Weihnachtslnft um sie
herum, und wenn man bei ihr Thee trank, glaubte man das leibhaftige Christ¬
kind zu erblicken, oder wenigstens eine gute Frau Holle oder einen entsprechenden
WeihnachtSgeist. Ju der Stube roch es ordentlich nach Wachsstock und Tannen,
die Bretzeln auf dem Teller hatten ein so pfiffiges Aussehn wie Zauberbrillen, die
man uur auf die Nase zu schen braucht, um Elfen tanzen zu sehen, und matt



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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92288/222>, abgerufen am 24.07.2024.