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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band.

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Man hat sich in früherer Zeit mit den sogenannten aristotelischen Einheiten
in unfruchtbarem Streit abgequält, weil mau diese Einheiten immer abstract auf¬
faßte. Die Einheiten des Orts (bei den Griechen durch den Chor bedingt) und
der Zeit sind jedenfalls secundärer Natur, und nur quantitativ zu verstehen.
Mail kann sich dnrch die erste beste Erfahrung überzeugen, daß ein beständiger
Scenenwechsel, indem er die Anfmerksamkeit zerstreut, auf die Länge unerträglich
wird, während eine mäßige Anwendung desselben zuweilen sogar nützlich wirken
kann, weil sie der Spannung einen Ruhepunkt gewährt. Die Regel kann aber
nichts enthalten als fixirte Erfahrung. Was ferner die Willkür in den Zeitbe¬
stimmungen betrifft, so wird auch hier ein gewisses Maaß uicht wohl überschritten
werden dürfen. Vor Allem muß mau deu Unterschied zwischen dem Lustspiel und
der Tragödie festhalte". Wenn z. B. Shakespeare in seinem Othello, wie es
ein englischer Kritiker aus der Successivität der einzelnen Scenen sehr scharfsinnig
nachweist, zwischen der Ankunft Othello's auf Cypern und der Ermordung
Desdemona's keinen längern Zeitraum verstreichen läßt, als ungefähr 48 Stunden,
währeud der Inhalt der in diesen Zeitraum eingerahmten Ereignisse wenigstens
die Dauer mehrerer Monate erfordert, so wird diese doppelte Zeitrechnung durch
die tragische Spannung vollkommen versteckt und dadurch gerechtfertigt, denn das
Ungeheure, was im Gemüth vorgeht, läßt die äußern Begebenheiten und deren
Gesetz als blos accideutell erscheinen. Im Lustspiel, wo wir uus in endlichen
Bestimmungen bewegen, ist das uicht möglich; wir siud zu pragmatisch gestimmt,
um uns der äußerlichen Wahrscheinlichkeitsrechnung entschlagen zu können. Durch
die Bearbeitung, welche deu Sceueuwcchsel vermeidet, wird diese Unwahrschein-
lichkeit nur noch gesteigert. So sollen wir z. B. in unserm Stück die Intrigue
von der Ankunft des Prinzen mit seinem Gefolge bis zu dem Augenblicke, wo
Benedict und Beatrix durch die Einbildung gegenseitiger Liebe sich wirklich in
einander verlieben, in der Continuität Eines Actes, d. h. in der Zeit einiger
Stunden verfolgen. Das geht nicht, wir glauben nicht daran.

Indessen diese Einheiten des Acts und der Zeit sind, wie bemerkt, secundärer
Natur; es ist da uur ein relatives Maaß festzuhalten. Ein Gesetz dagegen, von
dem man nichts abhandeln kann, welches unbedingt befolgt werden muß, wenn
der ästhetische Eindruck ein reiner sein soll, ist die Einheit der Handlung (oder
im Lustspiel besser: der Intrigue) und der Stimmung. Gegen Beides versün¬
digt sich Shakespeare mehrfach in seinen Komödien.

Der beständige Scenenwechsel wird dadurch uicht gebessert, daß man die
Handlung auf neutralem Boden vor sich gehen läßt, und dadurch die Verände¬
rung der Decorationen vermeidet. Die Hauptsache ist das Zerhackte der Dar¬
stellung. Es treten einige Leute auf, unterhalten sich mit einander in Beziehung
auf den Gegenstand des Lustspiels, gehen dann wieder ab, und geben andern


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Man hat sich in früherer Zeit mit den sogenannten aristotelischen Einheiten
in unfruchtbarem Streit abgequält, weil mau diese Einheiten immer abstract auf¬
faßte. Die Einheiten des Orts (bei den Griechen durch den Chor bedingt) und
der Zeit sind jedenfalls secundärer Natur, und nur quantitativ zu verstehen.
Mail kann sich dnrch die erste beste Erfahrung überzeugen, daß ein beständiger
Scenenwechsel, indem er die Anfmerksamkeit zerstreut, auf die Länge unerträglich
wird, während eine mäßige Anwendung desselben zuweilen sogar nützlich wirken
kann, weil sie der Spannung einen Ruhepunkt gewährt. Die Regel kann aber
nichts enthalten als fixirte Erfahrung. Was ferner die Willkür in den Zeitbe¬
stimmungen betrifft, so wird auch hier ein gewisses Maaß uicht wohl überschritten
werden dürfen. Vor Allem muß mau deu Unterschied zwischen dem Lustspiel und
der Tragödie festhalte«. Wenn z. B. Shakespeare in seinem Othello, wie es
ein englischer Kritiker aus der Successivität der einzelnen Scenen sehr scharfsinnig
nachweist, zwischen der Ankunft Othello's auf Cypern und der Ermordung
Desdemona's keinen längern Zeitraum verstreichen läßt, als ungefähr 48 Stunden,
währeud der Inhalt der in diesen Zeitraum eingerahmten Ereignisse wenigstens
die Dauer mehrerer Monate erfordert, so wird diese doppelte Zeitrechnung durch
die tragische Spannung vollkommen versteckt und dadurch gerechtfertigt, denn das
Ungeheure, was im Gemüth vorgeht, läßt die äußern Begebenheiten und deren
Gesetz als blos accideutell erscheinen. Im Lustspiel, wo wir uus in endlichen
Bestimmungen bewegen, ist das uicht möglich; wir siud zu pragmatisch gestimmt,
um uns der äußerlichen Wahrscheinlichkeitsrechnung entschlagen zu können. Durch
die Bearbeitung, welche deu Sceueuwcchsel vermeidet, wird diese Unwahrschein-
lichkeit nur noch gesteigert. So sollen wir z. B. in unserm Stück die Intrigue
von der Ankunft des Prinzen mit seinem Gefolge bis zu dem Augenblicke, wo
Benedict und Beatrix durch die Einbildung gegenseitiger Liebe sich wirklich in
einander verlieben, in der Continuität Eines Actes, d. h. in der Zeit einiger
Stunden verfolgen. Das geht nicht, wir glauben nicht daran.

Indessen diese Einheiten des Acts und der Zeit sind, wie bemerkt, secundärer
Natur; es ist da uur ein relatives Maaß festzuhalten. Ein Gesetz dagegen, von
dem man nichts abhandeln kann, welches unbedingt befolgt werden muß, wenn
der ästhetische Eindruck ein reiner sein soll, ist die Einheit der Handlung (oder
im Lustspiel besser: der Intrigue) und der Stimmung. Gegen Beides versün¬
digt sich Shakespeare mehrfach in seinen Komödien.

Der beständige Scenenwechsel wird dadurch uicht gebessert, daß man die
Handlung auf neutralem Boden vor sich gehen läßt, und dadurch die Verände¬
rung der Decorationen vermeidet. Die Hauptsache ist das Zerhackte der Dar¬
stellung. Es treten einige Leute auf, unterhalten sich mit einander in Beziehung
auf den Gegenstand des Lustspiels, gehen dann wieder ab, und geben andern


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[0203] Man hat sich in früherer Zeit mit den sogenannten aristotelischen Einheiten in unfruchtbarem Streit abgequält, weil mau diese Einheiten immer abstract auf¬ faßte. Die Einheiten des Orts (bei den Griechen durch den Chor bedingt) und der Zeit sind jedenfalls secundärer Natur, und nur quantitativ zu verstehen. Mail kann sich dnrch die erste beste Erfahrung überzeugen, daß ein beständiger Scenenwechsel, indem er die Anfmerksamkeit zerstreut, auf die Länge unerträglich wird, während eine mäßige Anwendung desselben zuweilen sogar nützlich wirken kann, weil sie der Spannung einen Ruhepunkt gewährt. Die Regel kann aber nichts enthalten als fixirte Erfahrung. Was ferner die Willkür in den Zeitbe¬ stimmungen betrifft, so wird auch hier ein gewisses Maaß uicht wohl überschritten werden dürfen. Vor Allem muß mau deu Unterschied zwischen dem Lustspiel und der Tragödie festhalte«. Wenn z. B. Shakespeare in seinem Othello, wie es ein englischer Kritiker aus der Successivität der einzelnen Scenen sehr scharfsinnig nachweist, zwischen der Ankunft Othello's auf Cypern und der Ermordung Desdemona's keinen längern Zeitraum verstreichen läßt, als ungefähr 48 Stunden, währeud der Inhalt der in diesen Zeitraum eingerahmten Ereignisse wenigstens die Dauer mehrerer Monate erfordert, so wird diese doppelte Zeitrechnung durch die tragische Spannung vollkommen versteckt und dadurch gerechtfertigt, denn das Ungeheure, was im Gemüth vorgeht, läßt die äußern Begebenheiten und deren Gesetz als blos accideutell erscheinen. Im Lustspiel, wo wir uus in endlichen Bestimmungen bewegen, ist das uicht möglich; wir siud zu pragmatisch gestimmt, um uns der äußerlichen Wahrscheinlichkeitsrechnung entschlagen zu können. Durch die Bearbeitung, welche deu Sceueuwcchsel vermeidet, wird diese Unwahrschein- lichkeit nur noch gesteigert. So sollen wir z. B. in unserm Stück die Intrigue von der Ankunft des Prinzen mit seinem Gefolge bis zu dem Augenblicke, wo Benedict und Beatrix durch die Einbildung gegenseitiger Liebe sich wirklich in einander verlieben, in der Continuität Eines Actes, d. h. in der Zeit einiger Stunden verfolgen. Das geht nicht, wir glauben nicht daran. Indessen diese Einheiten des Acts und der Zeit sind, wie bemerkt, secundärer Natur; es ist da uur ein relatives Maaß festzuhalten. Ein Gesetz dagegen, von dem man nichts abhandeln kann, welches unbedingt befolgt werden muß, wenn der ästhetische Eindruck ein reiner sein soll, ist die Einheit der Handlung (oder im Lustspiel besser: der Intrigue) und der Stimmung. Gegen Beides versün¬ digt sich Shakespeare mehrfach in seinen Komödien. Der beständige Scenenwechsel wird dadurch uicht gebessert, daß man die Handlung auf neutralem Boden vor sich gehen läßt, und dadurch die Verände¬ rung der Decorationen vermeidet. Die Hauptsache ist das Zerhackte der Dar¬ stellung. Es treten einige Leute auf, unterhalten sich mit einander in Beziehung auf den Gegenstand des Lustspiels, gehen dann wieder ab, und geben andern 90*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92288/203>, abgerufen am 22.07.2024.