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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band.

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wohlgemeinten Missiouswerke unserer frommen Pastoren. Aber wenn in diesem
atomistischen Kreislauf der materiellen Interessen das höhere geistige Leben nicht
ersticken soll, so sind als Gegengewicht geschlossene Individualitäten nothwendig, in
denen ein eigenes Leben herrscht. Die Wissenschaft wird anch ohne das gedeihen,
aber die Kunst bedarf ein Vaterland, und zwar ein Vaterland, das mächtig genng
ist, um festzustehen in diesem Wirbel der Interessen und des Erkennens.

Die Freihändler wollen die Staaten aufheben, die Schutzzöllner wollen sie
zu großen Haudelscvmpagnien herabsetzen. Das Letztere ist noch materialistischer,
noch beschränkter als das Erste. Die staatliche Centralisation soll mehr umfassen,
als die bloßen Interessen. Selbst was man in der deutschen Entwickelung so zu
rühmen und zu Gunsten der Decentralisation anzuführen pflegt, die eigentliche
Blüthe unserer Literatur, spricht gerade für das Gegentheil. In der Zeit, als
sie wirklich blühte, war sie auch centralisirt; Weimar war damals die Hauptstadt
von dem Deutschland, welches allein in Betracht kam, und was unsere Poesie
Krankhaftes hatte, kommt einzig und allein davon her, daß diese Hauptstadt eine
willkürliche, künstliche, eingebildete war. Wo die Kunst den großen Weltbegeben-
heiten fern liegt, verliert sie sich in Hofdienst oder in einsamen Grübeleien. Seit¬
dem strebt unsere gesammte Literatur in nnhaltsamem Drange nach Berlin, und
weil sie auch dort mehr Tendenzen als Wirklichkeit findet, bleibt sie ebenfalls in
der Tendenz stecken. Sie leidet am Berlinerthum, sobald sie aufhört, zu schwäbeln
oder in der Dorfsprache zu stammeln. Mit dem Augenblick, wo Berlin als reale
Hauptstadt von Deutschland das specifische Berlinerthum abwerfen wird, kauu erst
die eigentliche Entwickelung unserer Literatur beginnen.

Wir mögen auf die jetzigen Zustände Frankreichs lästern so viel wir wollen,
im Grund des Herzens beneiden wir doch jeden Franzoseu. Selbst jene Unbe-
hilflichkeit in höhern politischen Dingen, die Naudot aus der zu weit getriebenen
Theilung der Arbeit ableitet, darf doch uur sehr relativ verstanden werden, denn
trotz ihrer augenscheinlichen ttnsittlichkeit hat die Revolution von 18-48 gezeigt, wie
schnell und behend die Franzosen sich in mißlichen Umständen zu organisiren ver¬
stehen. Sie lernen es freilich zum Theil in ihren Conspirationen, durch die sie
sich eine bewunderungswerthe Disciplin aneignen. Zuerst hat ein Hause von
Journalisten ein paar Monate lang den Staat regiert, so gut oder so schlecht als
es gehen wollte, kurz, er hat ihn regiert -- ich möchte scheu, was bei uus in
ähnlichen Fällen Herauskommen würde; nachher hat sich die Reaction, ohne eigent¬
liches Haupt, und mit sehr divergirenden Interessen, einen Feldzugsplan ausge¬
arbeitet, deu sie mit unerschütterlicher Consequenz festgehalten hat, ohne dabei die
rechtlichen Formen der Verfassung, das Erbtheil der Revolution, zu verletzen, ob¬
gleich diese unendlich beschwerlicher für sie waren, als die Nechtöinstitutiouen un¬
serer Demokraten, währeud unsere Machthaber überall nur dnrch brutale Verletzung
der letzten Nechtsentwickelnng, die doch auch eine war, vorgehen zu t'öuucu glaubten.


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wohlgemeinten Missiouswerke unserer frommen Pastoren. Aber wenn in diesem
atomistischen Kreislauf der materiellen Interessen das höhere geistige Leben nicht
ersticken soll, so sind als Gegengewicht geschlossene Individualitäten nothwendig, in
denen ein eigenes Leben herrscht. Die Wissenschaft wird anch ohne das gedeihen,
aber die Kunst bedarf ein Vaterland, und zwar ein Vaterland, das mächtig genng
ist, um festzustehen in diesem Wirbel der Interessen und des Erkennens.

Die Freihändler wollen die Staaten aufheben, die Schutzzöllner wollen sie
zu großen Haudelscvmpagnien herabsetzen. Das Letztere ist noch materialistischer,
noch beschränkter als das Erste. Die staatliche Centralisation soll mehr umfassen,
als die bloßen Interessen. Selbst was man in der deutschen Entwickelung so zu
rühmen und zu Gunsten der Decentralisation anzuführen pflegt, die eigentliche
Blüthe unserer Literatur, spricht gerade für das Gegentheil. In der Zeit, als
sie wirklich blühte, war sie auch centralisirt; Weimar war damals die Hauptstadt
von dem Deutschland, welches allein in Betracht kam, und was unsere Poesie
Krankhaftes hatte, kommt einzig und allein davon her, daß diese Hauptstadt eine
willkürliche, künstliche, eingebildete war. Wo die Kunst den großen Weltbegeben-
heiten fern liegt, verliert sie sich in Hofdienst oder in einsamen Grübeleien. Seit¬
dem strebt unsere gesammte Literatur in nnhaltsamem Drange nach Berlin, und
weil sie auch dort mehr Tendenzen als Wirklichkeit findet, bleibt sie ebenfalls in
der Tendenz stecken. Sie leidet am Berlinerthum, sobald sie aufhört, zu schwäbeln
oder in der Dorfsprache zu stammeln. Mit dem Augenblick, wo Berlin als reale
Hauptstadt von Deutschland das specifische Berlinerthum abwerfen wird, kauu erst
die eigentliche Entwickelung unserer Literatur beginnen.

Wir mögen auf die jetzigen Zustände Frankreichs lästern so viel wir wollen,
im Grund des Herzens beneiden wir doch jeden Franzoseu. Selbst jene Unbe-
hilflichkeit in höhern politischen Dingen, die Naudot aus der zu weit getriebenen
Theilung der Arbeit ableitet, darf doch uur sehr relativ verstanden werden, denn
trotz ihrer augenscheinlichen ttnsittlichkeit hat die Revolution von 18-48 gezeigt, wie
schnell und behend die Franzosen sich in mißlichen Umständen zu organisiren ver¬
stehen. Sie lernen es freilich zum Theil in ihren Conspirationen, durch die sie
sich eine bewunderungswerthe Disciplin aneignen. Zuerst hat ein Hause von
Journalisten ein paar Monate lang den Staat regiert, so gut oder so schlecht als
es gehen wollte, kurz, er hat ihn regiert — ich möchte scheu, was bei uus in
ähnlichen Fällen Herauskommen würde; nachher hat sich die Reaction, ohne eigent¬
liches Haupt, und mit sehr divergirenden Interessen, einen Feldzugsplan ausge¬
arbeitet, deu sie mit unerschütterlicher Consequenz festgehalten hat, ohne dabei die
rechtlichen Formen der Verfassung, das Erbtheil der Revolution, zu verletzen, ob¬
gleich diese unendlich beschwerlicher für sie waren, als die Nechtöinstitutiouen un¬
serer Demokraten, währeud unsere Machthaber überall nur dnrch brutale Verletzung
der letzten Nechtsentwickelnng, die doch auch eine war, vorgehen zu t'öuucu glaubten.


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[0147] wohlgemeinten Missiouswerke unserer frommen Pastoren. Aber wenn in diesem atomistischen Kreislauf der materiellen Interessen das höhere geistige Leben nicht ersticken soll, so sind als Gegengewicht geschlossene Individualitäten nothwendig, in denen ein eigenes Leben herrscht. Die Wissenschaft wird anch ohne das gedeihen, aber die Kunst bedarf ein Vaterland, und zwar ein Vaterland, das mächtig genng ist, um festzustehen in diesem Wirbel der Interessen und des Erkennens. Die Freihändler wollen die Staaten aufheben, die Schutzzöllner wollen sie zu großen Haudelscvmpagnien herabsetzen. Das Letztere ist noch materialistischer, noch beschränkter als das Erste. Die staatliche Centralisation soll mehr umfassen, als die bloßen Interessen. Selbst was man in der deutschen Entwickelung so zu rühmen und zu Gunsten der Decentralisation anzuführen pflegt, die eigentliche Blüthe unserer Literatur, spricht gerade für das Gegentheil. In der Zeit, als sie wirklich blühte, war sie auch centralisirt; Weimar war damals die Hauptstadt von dem Deutschland, welches allein in Betracht kam, und was unsere Poesie Krankhaftes hatte, kommt einzig und allein davon her, daß diese Hauptstadt eine willkürliche, künstliche, eingebildete war. Wo die Kunst den großen Weltbegeben- heiten fern liegt, verliert sie sich in Hofdienst oder in einsamen Grübeleien. Seit¬ dem strebt unsere gesammte Literatur in nnhaltsamem Drange nach Berlin, und weil sie auch dort mehr Tendenzen als Wirklichkeit findet, bleibt sie ebenfalls in der Tendenz stecken. Sie leidet am Berlinerthum, sobald sie aufhört, zu schwäbeln oder in der Dorfsprache zu stammeln. Mit dem Augenblick, wo Berlin als reale Hauptstadt von Deutschland das specifische Berlinerthum abwerfen wird, kauu erst die eigentliche Entwickelung unserer Literatur beginnen. Wir mögen auf die jetzigen Zustände Frankreichs lästern so viel wir wollen, im Grund des Herzens beneiden wir doch jeden Franzoseu. Selbst jene Unbe- hilflichkeit in höhern politischen Dingen, die Naudot aus der zu weit getriebenen Theilung der Arbeit ableitet, darf doch uur sehr relativ verstanden werden, denn trotz ihrer augenscheinlichen ttnsittlichkeit hat die Revolution von 18-48 gezeigt, wie schnell und behend die Franzosen sich in mißlichen Umständen zu organisiren ver¬ stehen. Sie lernen es freilich zum Theil in ihren Conspirationen, durch die sie sich eine bewunderungswerthe Disciplin aneignen. Zuerst hat ein Hause von Journalisten ein paar Monate lang den Staat regiert, so gut oder so schlecht als es gehen wollte, kurz, er hat ihn regiert — ich möchte scheu, was bei uus in ähnlichen Fällen Herauskommen würde; nachher hat sich die Reaction, ohne eigent¬ liches Haupt, und mit sehr divergirenden Interessen, einen Feldzugsplan ausge¬ arbeitet, deu sie mit unerschütterlicher Consequenz festgehalten hat, ohne dabei die rechtlichen Formen der Verfassung, das Erbtheil der Revolution, zu verletzen, ob¬ gleich diese unendlich beschwerlicher für sie waren, als die Nechtöinstitutiouen un¬ serer Demokraten, währeud unsere Machthaber überall nur dnrch brutale Verletzung der letzten Nechtsentwickelnng, die doch auch eine war, vorgehen zu t'öuucu glaubten. 83"

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92288/147>, abgerufen am 25.08.2024.