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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band.

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Man pflegt in Polen diese saubere Menschenclasse in Stämmen oder Horden
von wenigstens vier Familien zu finden. Stämme von sieben Familien kommen
nie vor. Die Sieben scheint bei den Zigeunern eine gefürchtete Zahl zu sein.
Sind beim Stamme schon sechs Familien, so wird keine Trauung weiter vollzogen,
dem Liebespaare aber ist es ganz unverwehrt, im Genusse derjenigen Vertraulichkeit
zu leben, die nach unsern Begriffen nur ehelich verbundenen Personen geziemt.
Befinden sich bei dem Stamme acht Ehestände und eiuer geht durch einen
Sterbefall verloren, so muß von den übrigen sieben einer den Stamm nach dem
Loose verlassen, wenn kein anderer freiwillig dazu bereit ist, oder der vom Loose
Getroffene muß eine Familie von einem andern Stamme zum Anschluß an diesen
vermögen, so daß die Zahl Acht wieder hergestellt wird. Ist weder der Rücktritt,
uoch die Herbeischaffung eiuer Familie leicht möglich zu macheu, so hilft mau sich,
indem mau eine Trauung vollzieht, so daß die achte Familie wieder ersetzt wird.
Ju diesem Falle kommt es vor, daß man selbst unerwachsene Personen mit ein¬
ander verbindet. Der Begriff vou der Fähigkeit zur Ehe ist übrigens bei den
Zigeunern noch umfassender als bei den polnischen Juden. Diese verlangen auf
Seite des männlichen Geschlechts ein Alter von vierzehn, auf Seite des weiblichen
von zwölf Jahren; die Zigeuner dagegen setzen für beide Geschlechter das zehnte
Jahr für die Berechtigung sowohl zur Ehe, als auch zu geschlechtlichen Genüssen
fest. Eine Person von uoch uicht zehn Lebensjahren würde sich durch jenen Genuß
eine thätliche Züchtigung zuziehen. Ueberhaupt wird bei deu Zigeunern Alles
körperlich und zwar durch Prügel bestraft und die Strafe stets durch die ältern
Personen gleichen Geschlechtes vollzogen. Die Kinder über sieben Jahre sind eine
Art Gemeingut; nur uuter sieben Jahren sind sie Eigenthum ihrer Aeltern, und
an ihnen vergreift sich nie eine andere Person.

Von einer Erziehung ist durchaus die Rede uicht. Wie die Erwachsenen
keinen andern Lebenögrundsatz kennen als deu niedrigsten Instinkt, so läßt man
anch die Kiuder ganz thierisch erwachsen. Schon daraus geht hervor, wie es
um die Religion dieser seltsamen Menschenclasse steht, wenn gleich sie in Polen
zu deu Gläubigen der römisch-katholischen, wie in der Türkei zu denen der mo-
hamedanischen, wie in Rußland zu denen der griechischen Kirche gerechnet werden.
Aber nur ein kirchliches Gebot, das der Taufe, pflegen sie zu beachten, und zwar
aus Gewinnsucht. Daher versäumen sie nie, eine ganze Ortschaft zum Zeugniß
der christlichen Taufe ihres Kindes einzuladen, was ihnen eine Menge von Ge¬
schenken verschafft. Häufig genügt ihnen dieser Gewinn uicht und sie bringen
dasselbe Kind in einem andern Kirchspiele abermals zur Taufe. Auf solche Weise
hatte im Jahre 1839 ein Zigeuner Namens Jbfin sein Kind nicht weniger als
fünf Mal taufen lassen. Die Sache kam durch einen Bauer, der, seinem Grund-
herrn entflohen, sich dem Stamme angeschlossen und durch eine Art Schwur ver¬
pflichtet hatte, zur Anzeige. Allein man konnte des tanfgierigeu Vaters nicht


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Man pflegt in Polen diese saubere Menschenclasse in Stämmen oder Horden
von wenigstens vier Familien zu finden. Stämme von sieben Familien kommen
nie vor. Die Sieben scheint bei den Zigeunern eine gefürchtete Zahl zu sein.
Sind beim Stamme schon sechs Familien, so wird keine Trauung weiter vollzogen,
dem Liebespaare aber ist es ganz unverwehrt, im Genusse derjenigen Vertraulichkeit
zu leben, die nach unsern Begriffen nur ehelich verbundenen Personen geziemt.
Befinden sich bei dem Stamme acht Ehestände und eiuer geht durch einen
Sterbefall verloren, so muß von den übrigen sieben einer den Stamm nach dem
Loose verlassen, wenn kein anderer freiwillig dazu bereit ist, oder der vom Loose
Getroffene muß eine Familie von einem andern Stamme zum Anschluß an diesen
vermögen, so daß die Zahl Acht wieder hergestellt wird. Ist weder der Rücktritt,
uoch die Herbeischaffung eiuer Familie leicht möglich zu macheu, so hilft mau sich,
indem mau eine Trauung vollzieht, so daß die achte Familie wieder ersetzt wird.
Ju diesem Falle kommt es vor, daß man selbst unerwachsene Personen mit ein¬
ander verbindet. Der Begriff vou der Fähigkeit zur Ehe ist übrigens bei den
Zigeunern noch umfassender als bei den polnischen Juden. Diese verlangen auf
Seite des männlichen Geschlechts ein Alter von vierzehn, auf Seite des weiblichen
von zwölf Jahren; die Zigeuner dagegen setzen für beide Geschlechter das zehnte
Jahr für die Berechtigung sowohl zur Ehe, als auch zu geschlechtlichen Genüssen
fest. Eine Person von uoch uicht zehn Lebensjahren würde sich durch jenen Genuß
eine thätliche Züchtigung zuziehen. Ueberhaupt wird bei deu Zigeunern Alles
körperlich und zwar durch Prügel bestraft und die Strafe stets durch die ältern
Personen gleichen Geschlechtes vollzogen. Die Kinder über sieben Jahre sind eine
Art Gemeingut; nur uuter sieben Jahren sind sie Eigenthum ihrer Aeltern, und
an ihnen vergreift sich nie eine andere Person.

Von einer Erziehung ist durchaus die Rede uicht. Wie die Erwachsenen
keinen andern Lebenögrundsatz kennen als deu niedrigsten Instinkt, so läßt man
anch die Kiuder ganz thierisch erwachsen. Schon daraus geht hervor, wie es
um die Religion dieser seltsamen Menschenclasse steht, wenn gleich sie in Polen
zu deu Gläubigen der römisch-katholischen, wie in der Türkei zu denen der mo-
hamedanischen, wie in Rußland zu denen der griechischen Kirche gerechnet werden.
Aber nur ein kirchliches Gebot, das der Taufe, pflegen sie zu beachten, und zwar
aus Gewinnsucht. Daher versäumen sie nie, eine ganze Ortschaft zum Zeugniß
der christlichen Taufe ihres Kindes einzuladen, was ihnen eine Menge von Ge¬
schenken verschafft. Häufig genügt ihnen dieser Gewinn uicht und sie bringen
dasselbe Kind in einem andern Kirchspiele abermals zur Taufe. Auf solche Weise
hatte im Jahre 1839 ein Zigeuner Namens Jbfin sein Kind nicht weniger als
fünf Mal taufen lassen. Die Sache kam durch einen Bauer, der, seinem Grund-
herrn entflohen, sich dem Stamme angeschlossen und durch eine Art Schwur ver¬
pflichtet hatte, zur Anzeige. Allein man konnte des tanfgierigeu Vaters nicht


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[0131] Man pflegt in Polen diese saubere Menschenclasse in Stämmen oder Horden von wenigstens vier Familien zu finden. Stämme von sieben Familien kommen nie vor. Die Sieben scheint bei den Zigeunern eine gefürchtete Zahl zu sein. Sind beim Stamme schon sechs Familien, so wird keine Trauung weiter vollzogen, dem Liebespaare aber ist es ganz unverwehrt, im Genusse derjenigen Vertraulichkeit zu leben, die nach unsern Begriffen nur ehelich verbundenen Personen geziemt. Befinden sich bei dem Stamme acht Ehestände und eiuer geht durch einen Sterbefall verloren, so muß von den übrigen sieben einer den Stamm nach dem Loose verlassen, wenn kein anderer freiwillig dazu bereit ist, oder der vom Loose Getroffene muß eine Familie von einem andern Stamme zum Anschluß an diesen vermögen, so daß die Zahl Acht wieder hergestellt wird. Ist weder der Rücktritt, uoch die Herbeischaffung eiuer Familie leicht möglich zu macheu, so hilft mau sich, indem mau eine Trauung vollzieht, so daß die achte Familie wieder ersetzt wird. Ju diesem Falle kommt es vor, daß man selbst unerwachsene Personen mit ein¬ ander verbindet. Der Begriff vou der Fähigkeit zur Ehe ist übrigens bei den Zigeunern noch umfassender als bei den polnischen Juden. Diese verlangen auf Seite des männlichen Geschlechts ein Alter von vierzehn, auf Seite des weiblichen von zwölf Jahren; die Zigeuner dagegen setzen für beide Geschlechter das zehnte Jahr für die Berechtigung sowohl zur Ehe, als auch zu geschlechtlichen Genüssen fest. Eine Person von uoch uicht zehn Lebensjahren würde sich durch jenen Genuß eine thätliche Züchtigung zuziehen. Ueberhaupt wird bei deu Zigeunern Alles körperlich und zwar durch Prügel bestraft und die Strafe stets durch die ältern Personen gleichen Geschlechtes vollzogen. Die Kinder über sieben Jahre sind eine Art Gemeingut; nur uuter sieben Jahren sind sie Eigenthum ihrer Aeltern, und an ihnen vergreift sich nie eine andere Person. Von einer Erziehung ist durchaus die Rede uicht. Wie die Erwachsenen keinen andern Lebenögrundsatz kennen als deu niedrigsten Instinkt, so läßt man anch die Kiuder ganz thierisch erwachsen. Schon daraus geht hervor, wie es um die Religion dieser seltsamen Menschenclasse steht, wenn gleich sie in Polen zu deu Gläubigen der römisch-katholischen, wie in der Türkei zu denen der mo- hamedanischen, wie in Rußland zu denen der griechischen Kirche gerechnet werden. Aber nur ein kirchliches Gebot, das der Taufe, pflegen sie zu beachten, und zwar aus Gewinnsucht. Daher versäumen sie nie, eine ganze Ortschaft zum Zeugniß der christlichen Taufe ihres Kindes einzuladen, was ihnen eine Menge von Ge¬ schenken verschafft. Häufig genügt ihnen dieser Gewinn uicht und sie bringen dasselbe Kind in einem andern Kirchspiele abermals zur Taufe. Auf solche Weise hatte im Jahre 1839 ein Zigeuner Namens Jbfin sein Kind nicht weniger als fünf Mal taufen lassen. Die Sache kam durch einen Bauer, der, seinem Grund- herrn entflohen, sich dem Stamme angeschlossen und durch eine Art Schwur ver¬ pflichtet hatte, zur Anzeige. Allein man konnte des tanfgierigeu Vaters nicht 81*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92288/131>, abgerufen am 25.08.2024.