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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band.

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kaum in den Sinn käme. -- Ein Beispiel: Ich war mit einem Freunde von Lon¬
don nach Richmond auf dem Dampfschiffe gefahren. Wir hatten hinwärts die
Billets zugleich für die Rückkehr genommen, saßen während der Rückfahrt einander
gegenüber, als der Capitän bei Einsammlung der Fahrgelder an meinen Freund
kam und -- ob er sich vom Morgen her seines Gesichts erinnerte oder nicht --
statt ihm das Geld abzufordern, ihn ör"g, ob er bereits ein Billet habe? Mein
Freund bejahte. "So zeigen Sie es," sagte jener. Mein englischer Freund ist
nicht warmblütig. Aber er runzelte die Stirn, ein scharfer Blick maß den Ca¬
pitän, und er antwortete, daß er das nicht thun werde -- "5 pill 6o no Snell
UunK." Der Capitän wiederholte sein Begehren mit dein ganz vernünftigen Zu¬
satze, daß Jeder sagen könne, er habe ein Billet, auch wenn er keins habe. Mein
Freund würdigte ihn keiner Antwort, sagte keine Silbe, als jener kategorisch
fragte, ob er das Billet zeigen wolle oder nicht, und verzog keinen Muskel, während
ich Mühe hatte, das Lachen zu unterdrücken, und der Capitän zornglühend und
weiter gehend ihm die Warnung zurief, daß er nicht von Deck kommen solle,
ohne sein Billet gezeigt zu haben. Jetzt frug ich meinen Freund, warum er dem
Manne nicht den Gefallen thue, das Billet aus der Westentasche zu nehmen, das
Verlangen sei ja sehr in der Ordnung. ,M, it ihn't," versetzte mein Freund und
erläuterte, daß, nachdem er gesagt, er habe ein Bittet, jener sich nicht unterfangen
dürfe, sein Wort zu bezweifeln; ein Recht für jenen, das Billet zu sehen, und
die Verbindlichkeit für ihn, es zu zeigen, erwachse erst beim Landen; "habe ich es
dann nicht," fügte er hinzu, "und hätte ich es vorher zehnmal gezeigt, muß ich
das Fahrgeld no.ehmals bezahlen; also ist das frühere Vorzeigen nutzlos." -- Die
Logik leuchtete mir ein. Aber es ist englische Logik, die, wie gesagt, einem
geschulten Deutschen nicht in den Sinn käme. Und der Capitän mit seiner Zorn¬
glut? Nach zehn oder fünfzehn Minuten kam er wieder heran, blieb vor mei¬
nem Freunde stehen und sagte: "Hab' ich Sie beleidigt, so bitt' ich um Ver¬
zeihung." Er wisperte das nicht, er sprach es ebenso laut, wie er vorher die
Drohung ausgerufen, und das war wieder englisch. Desgleichen die kurze, offene
Antwort meines Freundes: "llover mira -- Lassen Sie's gut sein."

Ich weiß, daß es lächerlich werden kann, aus einzelnen Zügen einen Natio¬
nalcharakter zu construiren. Aber das weiß ich nicht, wie durch Anschauung im
Gegensätze zum Gcschichtsstndium ein Nationalcharakter zu erkennen ist, wenn nicht
aus einzelnen Zügen. Sehe ich eine von einer andern Nationalität abweichende
Eigenthümlichkeit unter verschiedenen Verhältnissen und in verschiedenen Ständen sich
wiederholen, so bin ich wohl zu dem Schlusse berechtigt, daß es eine Eigenthüm¬
lichkeit, ein Charakterzug der Nation sei. Als auönahmlose Regel kann der na¬
türlich nicht gelten. Niemand erwartet eine solche, am wenigsten bei Vergleichung
civilisirter Völker, denn mehr oder weniger nivellirt die Civilisation, schleift zu
gleicher Glätte ab und impft dieselben Laster und Thorheiten ein.


kaum in den Sinn käme. — Ein Beispiel: Ich war mit einem Freunde von Lon¬
don nach Richmond auf dem Dampfschiffe gefahren. Wir hatten hinwärts die
Billets zugleich für die Rückkehr genommen, saßen während der Rückfahrt einander
gegenüber, als der Capitän bei Einsammlung der Fahrgelder an meinen Freund
kam und — ob er sich vom Morgen her seines Gesichts erinnerte oder nicht —
statt ihm das Geld abzufordern, ihn ör»g, ob er bereits ein Billet habe? Mein
Freund bejahte. „So zeigen Sie es," sagte jener. Mein englischer Freund ist
nicht warmblütig. Aber er runzelte die Stirn, ein scharfer Blick maß den Ca¬
pitän, und er antwortete, daß er das nicht thun werde — „5 pill 6o no Snell
UunK." Der Capitän wiederholte sein Begehren mit dein ganz vernünftigen Zu¬
satze, daß Jeder sagen könne, er habe ein Billet, auch wenn er keins habe. Mein
Freund würdigte ihn keiner Antwort, sagte keine Silbe, als jener kategorisch
fragte, ob er das Billet zeigen wolle oder nicht, und verzog keinen Muskel, während
ich Mühe hatte, das Lachen zu unterdrücken, und der Capitän zornglühend und
weiter gehend ihm die Warnung zurief, daß er nicht von Deck kommen solle,
ohne sein Billet gezeigt zu haben. Jetzt frug ich meinen Freund, warum er dem
Manne nicht den Gefallen thue, das Billet aus der Westentasche zu nehmen, das
Verlangen sei ja sehr in der Ordnung. ,M, it ihn't," versetzte mein Freund und
erläuterte, daß, nachdem er gesagt, er habe ein Bittet, jener sich nicht unterfangen
dürfe, sein Wort zu bezweifeln; ein Recht für jenen, das Billet zu sehen, und
die Verbindlichkeit für ihn, es zu zeigen, erwachse erst beim Landen; „habe ich es
dann nicht," fügte er hinzu, „und hätte ich es vorher zehnmal gezeigt, muß ich
das Fahrgeld no.ehmals bezahlen; also ist das frühere Vorzeigen nutzlos." — Die
Logik leuchtete mir ein. Aber es ist englische Logik, die, wie gesagt, einem
geschulten Deutschen nicht in den Sinn käme. Und der Capitän mit seiner Zorn¬
glut? Nach zehn oder fünfzehn Minuten kam er wieder heran, blieb vor mei¬
nem Freunde stehen und sagte: „Hab' ich Sie beleidigt, so bitt' ich um Ver¬
zeihung." Er wisperte das nicht, er sprach es ebenso laut, wie er vorher die
Drohung ausgerufen, und das war wieder englisch. Desgleichen die kurze, offene
Antwort meines Freundes: „llover mira — Lassen Sie's gut sein."

Ich weiß, daß es lächerlich werden kann, aus einzelnen Zügen einen Natio¬
nalcharakter zu construiren. Aber das weiß ich nicht, wie durch Anschauung im
Gegensätze zum Gcschichtsstndium ein Nationalcharakter zu erkennen ist, wenn nicht
aus einzelnen Zügen. Sehe ich eine von einer andern Nationalität abweichende
Eigenthümlichkeit unter verschiedenen Verhältnissen und in verschiedenen Ständen sich
wiederholen, so bin ich wohl zu dem Schlusse berechtigt, daß es eine Eigenthüm¬
lichkeit, ein Charakterzug der Nation sei. Als auönahmlose Regel kann der na¬
türlich nicht gelten. Niemand erwartet eine solche, am wenigsten bei Vergleichung
civilisirter Völker, denn mehr oder weniger nivellirt die Civilisation, schleift zu
gleicher Glätte ab und impft dieselben Laster und Thorheiten ein.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_85583/98>, abgerufen am 27.07.2024.