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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band.

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für die Episode; die Episode ist die dramatische Hauptsache. Ob Romeo mir
ein Einzelner ans den feindlichen Häusern ist, oder, wie die Oper es verbessert
hat, der Chef der Ghibellinen, ist ein unwesentlicher Umstand.

Dagegen kann man mit Recht fordern, daß das Historische und das Novel¬
listische nicht blos äußerlich neben einander hergehen, sondern sich einander mit
innerer Nothwendigkeit bedingen. Das hat Prechtler nicht verstanden. Der
historische Vorwurf, in welchem sich die Novelle bewegt, ist der portugiesische Erb-
solgestreit. Der alte König Heinrich, der Nachfolger Sebastian's, ist im Sterben, und
von Seiten der beiden Prätendenten, des Königs von Spanien wie des Priors von
Crato, findet ein Wetteifer in der Intrigue statt, den alten Mann zu einem für
ihre Ansprüche günstigen Testament zu bestimmen. Diese Intriguen fördern in
der Hauptsache nichts, und die Schwankungen des Königs, der sich bald von dem
Einen, bald von dem Andern hinreißen läßt, ermüden das Publicum, nicht weil
sie an sich undramatisch wären, sondern weil darüber die eigentliche Intrigue, ans
die man gespannt sein soll, stille steht. In diesen Fehler verfallen die Franzosen
nie. Scribe hätte z. B. in seinem "Glas Wasser", noch mehr in "Bertrand
und Raton", hinlängliche Gelegenheit gehabt, die Früchte seiner historischen Lectüre
an den Mann zu bringen; er vermeidet es aber, und mit Recht, denn in einem
Drama ist Alles fehlerhaft, was nicht die Hauptsache fordert.

Abgesehen davon, werden die meisten Dichter, sobald sie aus dem gewohnten
Kreise der Liebe, Eifersucht, Haß n. tgi. herausgehen, und sich auf das eigentliche
geschichtliche Feld, die Politik begeben, unfähig, eine dramatische Spannung zu
erhalten, sie werden langweilig. So geht es z. B. Voltaire stets, sobald er die
Novelle verläßt. Die Fähigkeit, einen Act der Politik dramatisch zu beleben, ist
ein Probestück für den echten Dichter. Unter den Deutschen hat es Keiner besser
verstanden, als Schiller. Die neuere Kritik hat mit großem Eifer den Belisar
dieses großen Dichters aufgespürt, und uicht ohne Erfolg; es wäre wohl einmal
an der Zeit, ans seine Vorzüge die Aufmerksamkeit zu richten. Es erfordert das
aber ein ernsthaftes, über die coulanten pseudo-philosophischen Phrasen hinaus¬
gehendes Studium. Eine einzelne' Scene gäbe dazu hinreichende Veranlassung.
Was kann es z. B. für einen uudankbarern Stoff geben, als die definitive Ra¬
tification eines im Wesentlichen bereits abgeschlossenen Vertrags! Das ist der
Inhalt der Unterredung zwischen Wallenstein und Wrangel, und nnn frage ich
Jeden, der diese Scene aufmerksam liest, oder noch besser, anhört, ob nicht ein
dramatisches Leben und eine Spannung darin ist, die nicht großer sein könnten
bei tausend Herzensconflicten. Die einzige Scene, in welcher Göthe Egmont und
Oranien zusammenführt, ist allgemeiner bekannt und geschätzt, weil wir Deutsche
noch immer die Unart haben, unsere Dichter mehr zu lesen als zu hören.
Freilich lernt man mehr daraus, es wird eine Fülle trefflicher Maximen und
Charakterzüge geboten, eigentlich ist es aber nichts anders als der Welt-


für die Episode; die Episode ist die dramatische Hauptsache. Ob Romeo mir
ein Einzelner ans den feindlichen Häusern ist, oder, wie die Oper es verbessert
hat, der Chef der Ghibellinen, ist ein unwesentlicher Umstand.

Dagegen kann man mit Recht fordern, daß das Historische und das Novel¬
listische nicht blos äußerlich neben einander hergehen, sondern sich einander mit
innerer Nothwendigkeit bedingen. Das hat Prechtler nicht verstanden. Der
historische Vorwurf, in welchem sich die Novelle bewegt, ist der portugiesische Erb-
solgestreit. Der alte König Heinrich, der Nachfolger Sebastian's, ist im Sterben, und
von Seiten der beiden Prätendenten, des Königs von Spanien wie des Priors von
Crato, findet ein Wetteifer in der Intrigue statt, den alten Mann zu einem für
ihre Ansprüche günstigen Testament zu bestimmen. Diese Intriguen fördern in
der Hauptsache nichts, und die Schwankungen des Königs, der sich bald von dem
Einen, bald von dem Andern hinreißen läßt, ermüden das Publicum, nicht weil
sie an sich undramatisch wären, sondern weil darüber die eigentliche Intrigue, ans
die man gespannt sein soll, stille steht. In diesen Fehler verfallen die Franzosen
nie. Scribe hätte z. B. in seinem „Glas Wasser", noch mehr in „Bertrand
und Raton", hinlängliche Gelegenheit gehabt, die Früchte seiner historischen Lectüre
an den Mann zu bringen; er vermeidet es aber, und mit Recht, denn in einem
Drama ist Alles fehlerhaft, was nicht die Hauptsache fordert.

Abgesehen davon, werden die meisten Dichter, sobald sie aus dem gewohnten
Kreise der Liebe, Eifersucht, Haß n. tgi. herausgehen, und sich auf das eigentliche
geschichtliche Feld, die Politik begeben, unfähig, eine dramatische Spannung zu
erhalten, sie werden langweilig. So geht es z. B. Voltaire stets, sobald er die
Novelle verläßt. Die Fähigkeit, einen Act der Politik dramatisch zu beleben, ist
ein Probestück für den echten Dichter. Unter den Deutschen hat es Keiner besser
verstanden, als Schiller. Die neuere Kritik hat mit großem Eifer den Belisar
dieses großen Dichters aufgespürt, und uicht ohne Erfolg; es wäre wohl einmal
an der Zeit, ans seine Vorzüge die Aufmerksamkeit zu richten. Es erfordert das
aber ein ernsthaftes, über die coulanten pseudo-philosophischen Phrasen hinaus¬
gehendes Studium. Eine einzelne' Scene gäbe dazu hinreichende Veranlassung.
Was kann es z. B. für einen uudankbarern Stoff geben, als die definitive Ra¬
tification eines im Wesentlichen bereits abgeschlossenen Vertrags! Das ist der
Inhalt der Unterredung zwischen Wallenstein und Wrangel, und nnn frage ich
Jeden, der diese Scene aufmerksam liest, oder noch besser, anhört, ob nicht ein
dramatisches Leben und eine Spannung darin ist, die nicht großer sein könnten
bei tausend Herzensconflicten. Die einzige Scene, in welcher Göthe Egmont und
Oranien zusammenführt, ist allgemeiner bekannt und geschätzt, weil wir Deutsche
noch immer die Unart haben, unsere Dichter mehr zu lesen als zu hören.
Freilich lernt man mehr daraus, es wird eine Fülle trefflicher Maximen und
Charakterzüge geboten, eigentlich ist es aber nichts anders als der Welt-


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[0512] für die Episode; die Episode ist die dramatische Hauptsache. Ob Romeo mir ein Einzelner ans den feindlichen Häusern ist, oder, wie die Oper es verbessert hat, der Chef der Ghibellinen, ist ein unwesentlicher Umstand. Dagegen kann man mit Recht fordern, daß das Historische und das Novel¬ listische nicht blos äußerlich neben einander hergehen, sondern sich einander mit innerer Nothwendigkeit bedingen. Das hat Prechtler nicht verstanden. Der historische Vorwurf, in welchem sich die Novelle bewegt, ist der portugiesische Erb- solgestreit. Der alte König Heinrich, der Nachfolger Sebastian's, ist im Sterben, und von Seiten der beiden Prätendenten, des Königs von Spanien wie des Priors von Crato, findet ein Wetteifer in der Intrigue statt, den alten Mann zu einem für ihre Ansprüche günstigen Testament zu bestimmen. Diese Intriguen fördern in der Hauptsache nichts, und die Schwankungen des Königs, der sich bald von dem Einen, bald von dem Andern hinreißen läßt, ermüden das Publicum, nicht weil sie an sich undramatisch wären, sondern weil darüber die eigentliche Intrigue, ans die man gespannt sein soll, stille steht. In diesen Fehler verfallen die Franzosen nie. Scribe hätte z. B. in seinem „Glas Wasser", noch mehr in „Bertrand und Raton", hinlängliche Gelegenheit gehabt, die Früchte seiner historischen Lectüre an den Mann zu bringen; er vermeidet es aber, und mit Recht, denn in einem Drama ist Alles fehlerhaft, was nicht die Hauptsache fordert. Abgesehen davon, werden die meisten Dichter, sobald sie aus dem gewohnten Kreise der Liebe, Eifersucht, Haß n. tgi. herausgehen, und sich auf das eigentliche geschichtliche Feld, die Politik begeben, unfähig, eine dramatische Spannung zu erhalten, sie werden langweilig. So geht es z. B. Voltaire stets, sobald er die Novelle verläßt. Die Fähigkeit, einen Act der Politik dramatisch zu beleben, ist ein Probestück für den echten Dichter. Unter den Deutschen hat es Keiner besser verstanden, als Schiller. Die neuere Kritik hat mit großem Eifer den Belisar dieses großen Dichters aufgespürt, und uicht ohne Erfolg; es wäre wohl einmal an der Zeit, ans seine Vorzüge die Aufmerksamkeit zu richten. Es erfordert das aber ein ernsthaftes, über die coulanten pseudo-philosophischen Phrasen hinaus¬ gehendes Studium. Eine einzelne' Scene gäbe dazu hinreichende Veranlassung. Was kann es z. B. für einen uudankbarern Stoff geben, als die definitive Ra¬ tification eines im Wesentlichen bereits abgeschlossenen Vertrags! Das ist der Inhalt der Unterredung zwischen Wallenstein und Wrangel, und nnn frage ich Jeden, der diese Scene aufmerksam liest, oder noch besser, anhört, ob nicht ein dramatisches Leben und eine Spannung darin ist, die nicht großer sein könnten bei tausend Herzensconflicten. Die einzige Scene, in welcher Göthe Egmont und Oranien zusammenführt, ist allgemeiner bekannt und geschätzt, weil wir Deutsche noch immer die Unart haben, unsere Dichter mehr zu lesen als zu hören. Freilich lernt man mehr daraus, es wird eine Fülle trefflicher Maximen und Charakterzüge geboten, eigentlich ist es aber nichts anders als der Welt-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_85583/512>, abgerufen am 27.07.2024.