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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band.

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Die Aufklärung und das Christenthum.
Armuth und Christenthum. Bilder und Winke zum christliche" Commnmsmns
und Socialismus. Von or. Heinrich Merz, DiakonnS. Stuttgart und Tübingen.
Cotta. 1849.
Unsere Zeit und die innere Mission. Fünf Vorträge von Karl Braune,
Pfarrer in Zwethau. Leipzig, Vogel. 1850.
Die Naturwissenschaft in ihrem Verhältniß zur Dichtkunst und Reli¬
gio". Von Hans Chr. Ocrstcdt, (Ein Supplement zu: Der Geist in der
Natur.) Deutsch von Prof. Kannegießer, mit einem Vorwort von P. L. Möller.
Leipzig, Lorck. 18S0.
Das Buch Jesu, oder das Leben Jesu von Nazareth im Lichte der neuesten wissen¬
schaftlichen Forschungen dargestellt für die Gebildeten des deutschen Volks, von
or. Carl Krame. Kassel, Hotop. 1850.

Die Grenzboten haben in dem laufenden Jahre mehrfach Gelegenheit ge¬
nommen, gegen die snpranaturalistischen Hilfstruppen, durch welche unsere Reaction
sich Bahn zu brechen und die verlorenen Stellungen wieder zu erkämpfen sucht,
zu Felde zu ziehen. Wie nöthig das geworden ist, lehrt jeder Blick in das erste
beste Zeitungsblatt. Zwar ist der Supranaturalismus heute nicht mehr eine ur¬
sprüngliche, sich selber tragende Kraft, er ist fast nichts als ein Ausdruck spie߬
bürgerlicher Furcht, Furcht vor der Revolution, die wie ein Alp auf den Gewissen
unserer Kleinstädter drückt, und deren Gespenst überall auftaucht, wo irgend einmal
das weltliche Wesen sich in der Form der Leidenschaft geltend macht, aber er ist
darum nicht minder schädlich.

Der Supranaturalismus ist der schlimmste, ja der einzige principielle Feind
der Wissenschaft, der Kunst, des Staates und der Gesellschaft: der Wissenschaft,
denn er leugnet die Geltung der Naturgesetze, die Autonomie der Vernunft, die
Wahrheit der sinnlichen Anschauung; der Kunst, denn er unterwühlt die beiden
Ecksteine derselben, sinnliche Klarheit und geistige Freiheit; des Staates, denn er
macht ihn einem außerhalb liegenden Zweck unterthan; der Gesellschaft, denn er
lockert die Bande, die den Einen an den Andern knüpfen, indem er das Herz
jedes Einzelnen vollständig für sich in Anspruch nimmt, .

Die Wissenschaft hat verhältnißmäßig am wenigsten zu fürchten. Seit der
Zeit, wo Galilei die Bewegung der Erde abschwören mußte, weil es frech und
unehrerbietig war, mehr vou der Astronomie verstehen zu wollen, als der Richter
Josua, hat sich Vieles geändert. Seit zwei Jahrhunderten hat die Naturwissen¬
schaft so großartige Eroberungen gemacht, daß weder äußere noch innere Feinde
sie ^daraus mehr verdrängen tonnen. Die Bannstrahlcn der Kirche zünden nicht
mehr, und das gesammte Naturgebiet ist so klar und durchsichtig geworden, daß


Die Aufklärung und das Christenthum.
Armuth und Christenthum. Bilder und Winke zum christliche» Commnmsmns
und Socialismus. Von or. Heinrich Merz, DiakonnS. Stuttgart und Tübingen.
Cotta. 1849.
Unsere Zeit und die innere Mission. Fünf Vorträge von Karl Braune,
Pfarrer in Zwethau. Leipzig, Vogel. 1850.
Die Naturwissenschaft in ihrem Verhältniß zur Dichtkunst und Reli¬
gio». Von Hans Chr. Ocrstcdt, (Ein Supplement zu: Der Geist in der
Natur.) Deutsch von Prof. Kannegießer, mit einem Vorwort von P. L. Möller.
Leipzig, Lorck. 18S0.
Das Buch Jesu, oder das Leben Jesu von Nazareth im Lichte der neuesten wissen¬
schaftlichen Forschungen dargestellt für die Gebildeten des deutschen Volks, von
or. Carl Krame. Kassel, Hotop. 1850.

Die Grenzboten haben in dem laufenden Jahre mehrfach Gelegenheit ge¬
nommen, gegen die snpranaturalistischen Hilfstruppen, durch welche unsere Reaction
sich Bahn zu brechen und die verlorenen Stellungen wieder zu erkämpfen sucht,
zu Felde zu ziehen. Wie nöthig das geworden ist, lehrt jeder Blick in das erste
beste Zeitungsblatt. Zwar ist der Supranaturalismus heute nicht mehr eine ur¬
sprüngliche, sich selber tragende Kraft, er ist fast nichts als ein Ausdruck spie߬
bürgerlicher Furcht, Furcht vor der Revolution, die wie ein Alp auf den Gewissen
unserer Kleinstädter drückt, und deren Gespenst überall auftaucht, wo irgend einmal
das weltliche Wesen sich in der Form der Leidenschaft geltend macht, aber er ist
darum nicht minder schädlich.

Der Supranaturalismus ist der schlimmste, ja der einzige principielle Feind
der Wissenschaft, der Kunst, des Staates und der Gesellschaft: der Wissenschaft,
denn er leugnet die Geltung der Naturgesetze, die Autonomie der Vernunft, die
Wahrheit der sinnlichen Anschauung; der Kunst, denn er unterwühlt die beiden
Ecksteine derselben, sinnliche Klarheit und geistige Freiheit; des Staates, denn er
macht ihn einem außerhalb liegenden Zweck unterthan; der Gesellschaft, denn er
lockert die Bande, die den Einen an den Andern knüpfen, indem er das Herz
jedes Einzelnen vollständig für sich in Anspruch nimmt, .

Die Wissenschaft hat verhältnißmäßig am wenigsten zu fürchten. Seit der
Zeit, wo Galilei die Bewegung der Erde abschwören mußte, weil es frech und
unehrerbietig war, mehr vou der Astronomie verstehen zu wollen, als der Richter
Josua, hat sich Vieles geändert. Seit zwei Jahrhunderten hat die Naturwissen¬
schaft so großartige Eroberungen gemacht, daß weder äußere noch innere Feinde
sie ^daraus mehr verdrängen tonnen. Die Bannstrahlcn der Kirche zünden nicht
mehr, und das gesammte Naturgebiet ist so klar und durchsichtig geworden, daß


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[0471] Die Aufklärung und das Christenthum. Armuth und Christenthum. Bilder und Winke zum christliche» Commnmsmns und Socialismus. Von or. Heinrich Merz, DiakonnS. Stuttgart und Tübingen. Cotta. 1849. Unsere Zeit und die innere Mission. Fünf Vorträge von Karl Braune, Pfarrer in Zwethau. Leipzig, Vogel. 1850. Die Naturwissenschaft in ihrem Verhältniß zur Dichtkunst und Reli¬ gio». Von Hans Chr. Ocrstcdt, (Ein Supplement zu: Der Geist in der Natur.) Deutsch von Prof. Kannegießer, mit einem Vorwort von P. L. Möller. Leipzig, Lorck. 18S0. Das Buch Jesu, oder das Leben Jesu von Nazareth im Lichte der neuesten wissen¬ schaftlichen Forschungen dargestellt für die Gebildeten des deutschen Volks, von or. Carl Krame. Kassel, Hotop. 1850. Die Grenzboten haben in dem laufenden Jahre mehrfach Gelegenheit ge¬ nommen, gegen die snpranaturalistischen Hilfstruppen, durch welche unsere Reaction sich Bahn zu brechen und die verlorenen Stellungen wieder zu erkämpfen sucht, zu Felde zu ziehen. Wie nöthig das geworden ist, lehrt jeder Blick in das erste beste Zeitungsblatt. Zwar ist der Supranaturalismus heute nicht mehr eine ur¬ sprüngliche, sich selber tragende Kraft, er ist fast nichts als ein Ausdruck spie߬ bürgerlicher Furcht, Furcht vor der Revolution, die wie ein Alp auf den Gewissen unserer Kleinstädter drückt, und deren Gespenst überall auftaucht, wo irgend einmal das weltliche Wesen sich in der Form der Leidenschaft geltend macht, aber er ist darum nicht minder schädlich. Der Supranaturalismus ist der schlimmste, ja der einzige principielle Feind der Wissenschaft, der Kunst, des Staates und der Gesellschaft: der Wissenschaft, denn er leugnet die Geltung der Naturgesetze, die Autonomie der Vernunft, die Wahrheit der sinnlichen Anschauung; der Kunst, denn er unterwühlt die beiden Ecksteine derselben, sinnliche Klarheit und geistige Freiheit; des Staates, denn er macht ihn einem außerhalb liegenden Zweck unterthan; der Gesellschaft, denn er lockert die Bande, die den Einen an den Andern knüpfen, indem er das Herz jedes Einzelnen vollständig für sich in Anspruch nimmt, . Die Wissenschaft hat verhältnißmäßig am wenigsten zu fürchten. Seit der Zeit, wo Galilei die Bewegung der Erde abschwören mußte, weil es frech und unehrerbietig war, mehr vou der Astronomie verstehen zu wollen, als der Richter Josua, hat sich Vieles geändert. Seit zwei Jahrhunderten hat die Naturwissen¬ schaft so großartige Eroberungen gemacht, daß weder äußere noch innere Feinde sie ^daraus mehr verdrängen tonnen. Die Bannstrahlcn der Kirche zünden nicht mehr, und das gesammte Naturgebiet ist so klar und durchsichtig geworden, daß

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_85583/471>, abgerufen am 27.07.2024.