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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band.

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den französischen Rollen viel einfacher, einseitiger, nur aus dem Groben gearbeitet.
Theilnehmer an einer leicht übersehbaren Handlung, erscheinen die Charaktere von
vornherein durch eine bestimmte Anlage in ihre Bahn getrieben; sie haben große
Schmerzen durchzumachen, aber keine Veränderungen ihrer Individualität. Was
geschehen muß, um die Handlung deö Stückes fortzubewegen, geschieht zum großen
Theil hinter der Scene und wird erzählt. Denn die Wirkung der Botschaften
ans die Seele der Personen soll dem Publicum dargestellt werden, und der Seelen-
proceß, durch welchen sie zu dem Entschluß komme", etwas zu thun, die That
selbst gilt der Negel nach für undramatisch. Durch diese bekannte Eigenthümlichkeit
der antikisirenden Tragödie erhalten die einzelnen Personen lange Reden, und diese
langen fortlaufenden Reden beschränken das Gegenspiel der Charaktere gegen ein¬
ander, jede einzelne Person erscheint egoistisch nach innen gekehrt, mit sich selbst
beschäftigt, über den eigenen Gemütszustand reflectirend. Bei solchen Stücken,
wo auf lange Pansen lange pathetische Ergüsse folgen, wird der Schauspieler seine
Wirkungen ebensosehr im stummen Spiel, als in der Virtuosität seines Vortrags
suchen müssen. Schon seine Erscheinung soll imponiren; seine Stellung aus der
Bühne ist bei der geringen Anzahl der vorhandenen Personen ein wesentlicher
Theil der conventionellen Gruppe, durch welche die jedesmalige Situation fixirr
wird, seine stumme Mimik das nothwendige Accompagnement zu den tönenden
Worten des Sprechenden. Und so hat die Tragödie des tdvati-L ki-in^aw seit der
Clairon nud durch Talma eine Energie im stummen Spiel gewonnen, welche auch
auf uns Deutsche uicht ohne Einfluß geblieben ist. Auch Uebertreibungen haben
Franzosen und uus nicht gefehlt: das Coquettireu mit plastischen Stellungen, das
raffinirte Ausdenken complicirter mimischer Manöver, in denen bei uns z. B. das
Talent der Hendel-Schüjz unterging.

Eine andere Eigenthümlichkeit des Spiels wurde bei den Franzosen durch
die langen Reden der Tragödie herausgebildet. Die Reden leiden nämlich fast
regelmäßig an dem Uebelstand, daß sie gerade da, wo wir eine dramatische
Darstellung des leidenschaftlichen Gefühls fordern, in geistreichen Antithesen und
Reflexionen fortlaufen, der Sprechende empfindet sich trotz dem größten Sturm
der Leidenschaft mit einem schauderhaften Behagen als unglücklichen Pechvogel,
betrachtet sein Schicksal von allen Seiten, zieht alle möglichen sehr subtilen Con-
sequenzen daraus und malt sich da, wo er seinen Willen oder Entschluß auszu¬
drücken hat, anch die Folgen davon mit großer Genauigkeit aus. Die Auf¬
regung der Charaktere erscheint so wie ein seltsamer Rausch, in welchem der
Geist die volle Freiheit behält, alles Mögliche, auch sehr entfernt Liegendes zu
combiniren, ein Rausch, der gerade in der Fülle der Worte, der Kühnheit in den Com-
binationen, aus der Schärfe der Antithesen und epigrammatischen Wendungen sicht¬
bar wird. Wir Deutsche cmpstudeu das als unwahr, dem französischen Geist ist
das sehr angemessen, er liebt es ausnehmend, in Gefahr und Schmerz die


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den französischen Rollen viel einfacher, einseitiger, nur aus dem Groben gearbeitet.
Theilnehmer an einer leicht übersehbaren Handlung, erscheinen die Charaktere von
vornherein durch eine bestimmte Anlage in ihre Bahn getrieben; sie haben große
Schmerzen durchzumachen, aber keine Veränderungen ihrer Individualität. Was
geschehen muß, um die Handlung deö Stückes fortzubewegen, geschieht zum großen
Theil hinter der Scene und wird erzählt. Denn die Wirkung der Botschaften
ans die Seele der Personen soll dem Publicum dargestellt werden, und der Seelen-
proceß, durch welchen sie zu dem Entschluß komme», etwas zu thun, die That
selbst gilt der Negel nach für undramatisch. Durch diese bekannte Eigenthümlichkeit
der antikisirenden Tragödie erhalten die einzelnen Personen lange Reden, und diese
langen fortlaufenden Reden beschränken das Gegenspiel der Charaktere gegen ein¬
ander, jede einzelne Person erscheint egoistisch nach innen gekehrt, mit sich selbst
beschäftigt, über den eigenen Gemütszustand reflectirend. Bei solchen Stücken,
wo auf lange Pansen lange pathetische Ergüsse folgen, wird der Schauspieler seine
Wirkungen ebensosehr im stummen Spiel, als in der Virtuosität seines Vortrags
suchen müssen. Schon seine Erscheinung soll imponiren; seine Stellung aus der
Bühne ist bei der geringen Anzahl der vorhandenen Personen ein wesentlicher
Theil der conventionellen Gruppe, durch welche die jedesmalige Situation fixirr
wird, seine stumme Mimik das nothwendige Accompagnement zu den tönenden
Worten des Sprechenden. Und so hat die Tragödie des tdvati-L ki-in^aw seit der
Clairon nud durch Talma eine Energie im stummen Spiel gewonnen, welche auch
auf uns Deutsche uicht ohne Einfluß geblieben ist. Auch Uebertreibungen haben
Franzosen und uus nicht gefehlt: das Coquettireu mit plastischen Stellungen, das
raffinirte Ausdenken complicirter mimischer Manöver, in denen bei uns z. B. das
Talent der Hendel-Schüjz unterging.

Eine andere Eigenthümlichkeit des Spiels wurde bei den Franzosen durch
die langen Reden der Tragödie herausgebildet. Die Reden leiden nämlich fast
regelmäßig an dem Uebelstand, daß sie gerade da, wo wir eine dramatische
Darstellung des leidenschaftlichen Gefühls fordern, in geistreichen Antithesen und
Reflexionen fortlaufen, der Sprechende empfindet sich trotz dem größten Sturm
der Leidenschaft mit einem schauderhaften Behagen als unglücklichen Pechvogel,
betrachtet sein Schicksal von allen Seiten, zieht alle möglichen sehr subtilen Con-
sequenzen daraus und malt sich da, wo er seinen Willen oder Entschluß auszu¬
drücken hat, anch die Folgen davon mit großer Genauigkeit aus. Die Auf¬
regung der Charaktere erscheint so wie ein seltsamer Rausch, in welchem der
Geist die volle Freiheit behält, alles Mögliche, auch sehr entfernt Liegendes zu
combiniren, ein Rausch, der gerade in der Fülle der Worte, der Kühnheit in den Com-
binationen, aus der Schärfe der Antithesen und epigrammatischen Wendungen sicht¬
bar wird. Wir Deutsche cmpstudeu das als unwahr, dem französischen Geist ist
das sehr angemessen, er liebt es ausnehmend, in Gefahr und Schmerz die


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[0419] den französischen Rollen viel einfacher, einseitiger, nur aus dem Groben gearbeitet. Theilnehmer an einer leicht übersehbaren Handlung, erscheinen die Charaktere von vornherein durch eine bestimmte Anlage in ihre Bahn getrieben; sie haben große Schmerzen durchzumachen, aber keine Veränderungen ihrer Individualität. Was geschehen muß, um die Handlung deö Stückes fortzubewegen, geschieht zum großen Theil hinter der Scene und wird erzählt. Denn die Wirkung der Botschaften ans die Seele der Personen soll dem Publicum dargestellt werden, und der Seelen- proceß, durch welchen sie zu dem Entschluß komme», etwas zu thun, die That selbst gilt der Negel nach für undramatisch. Durch diese bekannte Eigenthümlichkeit der antikisirenden Tragödie erhalten die einzelnen Personen lange Reden, und diese langen fortlaufenden Reden beschränken das Gegenspiel der Charaktere gegen ein¬ ander, jede einzelne Person erscheint egoistisch nach innen gekehrt, mit sich selbst beschäftigt, über den eigenen Gemütszustand reflectirend. Bei solchen Stücken, wo auf lange Pansen lange pathetische Ergüsse folgen, wird der Schauspieler seine Wirkungen ebensosehr im stummen Spiel, als in der Virtuosität seines Vortrags suchen müssen. Schon seine Erscheinung soll imponiren; seine Stellung aus der Bühne ist bei der geringen Anzahl der vorhandenen Personen ein wesentlicher Theil der conventionellen Gruppe, durch welche die jedesmalige Situation fixirr wird, seine stumme Mimik das nothwendige Accompagnement zu den tönenden Worten des Sprechenden. Und so hat die Tragödie des tdvati-L ki-in^aw seit der Clairon nud durch Talma eine Energie im stummen Spiel gewonnen, welche auch auf uns Deutsche uicht ohne Einfluß geblieben ist. Auch Uebertreibungen haben Franzosen und uus nicht gefehlt: das Coquettireu mit plastischen Stellungen, das raffinirte Ausdenken complicirter mimischer Manöver, in denen bei uns z. B. das Talent der Hendel-Schüjz unterging. Eine andere Eigenthümlichkeit des Spiels wurde bei den Franzosen durch die langen Reden der Tragödie herausgebildet. Die Reden leiden nämlich fast regelmäßig an dem Uebelstand, daß sie gerade da, wo wir eine dramatische Darstellung des leidenschaftlichen Gefühls fordern, in geistreichen Antithesen und Reflexionen fortlaufen, der Sprechende empfindet sich trotz dem größten Sturm der Leidenschaft mit einem schauderhaften Behagen als unglücklichen Pechvogel, betrachtet sein Schicksal von allen Seiten, zieht alle möglichen sehr subtilen Con- sequenzen daraus und malt sich da, wo er seinen Willen oder Entschluß auszu¬ drücken hat, anch die Folgen davon mit großer Genauigkeit aus. Die Auf¬ regung der Charaktere erscheint so wie ein seltsamer Rausch, in welchem der Geist die volle Freiheit behält, alles Mögliche, auch sehr entfernt Liegendes zu combiniren, ein Rausch, der gerade in der Fülle der Worte, der Kühnheit in den Com- binationen, aus der Schärfe der Antithesen und epigrammatischen Wendungen sicht¬ bar wird. Wir Deutsche cmpstudeu das als unwahr, dem französischen Geist ist das sehr angemessen, er liebt es ausnehmend, in Gefahr und Schmerz die 52*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_85583/419>, abgerufen am 01.09.2024.