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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band.

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Damen avancirten in wellenförmigen Bemegnngcn; Reifrock und Schoßweste nebst
kurzen Beinkleidern, Degen und Schnupftuch, Allongenperücke und Toupv machten
eine mit Wahrheit in's Detail malende Darstellung großer Leidenschaften ganz
unmöglich; mit dem Oberkörper wurde aus den Hüften herausgespiclt und die
Arme fuhren in übertriebenen Gesten durch die Lust. Dies viele Unschöne, das
uns wahrscheinlich jeden Genuß an einer solchen Darstellung rauben würde, ver¬
hinderte jedoch nicht, daß große Schauspielcrtalente auf der französischen Bühne
emporwuchsen; und wir mögen immerhin annehmen, daß es ihnen gelungen sein
mag, auch unter diesen Beschränkungen eine gewisse Schönheit und Wahrheit des
Spiels zu entfalten. In Voltaire's Zeit begannen kleine Veränderungen im Spiel
und Costüm der tragischen Bühne zu Paris, welche übrigens erst 1789 im Utvatre
dran^is ihre Heimath fand, bis dahin als königliches Schauspiel in verschiedenen
Räumen gespielt hatte. Eine Anzahl großer Künstler kämpfte gegen das hohle
stereotype Pathos und das gleichförmige Abdeclamireu der Verse; freilich war das,
was sie an die Stelle fehlen, ein nngcnirtercs Strömen der Stimme über den
Verstand, mehr geeignet, Virtuositäten hervorzutreiben, als die alte nationale
Methode des Sprechens abzuschaffen. Viel bedeutender war, was sie in der
Mimik, Haltung und dem conventionellen Anstand änderten. Die Clairon erschien
schon in der Mitte des 18. Jahrhunderts als Elektra ohne Reifrock und Puder,
ja als Noxelane in wirklich türkischer Tracht, und Lecain wagte als Oroöman
dasselbe. Aber sie erregten noch großen Anstoß. Erst Talma zerbrach die alten
Conventionen in Spiel, Costüm, stellenweis anch in der Sprache. Er führte am
tdöall'L krautig die Treue des historischen Costümö ein, welche seit seiner Zeit die
größern Theater von Paris auszeichnet; er selbst war in Drapirung, Haltung,
Stellungen und Effecten des stummen Spiels der größte Künstler seiner Zeit; durch
ihn wurde das tragische Spiel der Franzosen modernisirt. Freilich, vieles von den
alten Gewohnheiten blieb; beim Auftreten und Abgehen der conventionelle Unter¬
schied zwischen dem Mittlern Eingang und den Seitenthüren, ans der Scene der
Nespect vor den Distanzen zwischen den spielenden Personen, und das alte Streben
nach symmetrischer Aufstellung und bedeutungsvollen Parallelismus der beiden
Seiten'einer Gruppe; es blieb anch die Declamation: das Trcmüliren und
Fliegen des Vcröaccentes war selbst bei Talma für fremde Ohren noch störend;
und die behagliche Breite der pathetischen Reden verführte die mittelmäßigen
Schauspieler fortdauernd zu hohlem, bollerndem Schreien und zu chargirtcr Mimik,
aber es wurde doch durch die Genialität der französischen Künstler die Darstellung
schöner und großer Charaktere in der Tragödie durchgesetzt. Die Schauspielkunst
begann die Dichtkunst Corneille'ö und Racine's zu überwinden und riß die höfi¬
schen Dichter der Bourbonen ans ihrem revolutionären Wege mit.

Das tragische Spiel in den französischen regelrechten Dramen setzt sich ans
andern Momenten zusammen, als z. B. bei Shakespeare'L Stücken. Alles ist bei


Damen avancirten in wellenförmigen Bemegnngcn; Reifrock und Schoßweste nebst
kurzen Beinkleidern, Degen und Schnupftuch, Allongenperücke und Toupv machten
eine mit Wahrheit in's Detail malende Darstellung großer Leidenschaften ganz
unmöglich; mit dem Oberkörper wurde aus den Hüften herausgespiclt und die
Arme fuhren in übertriebenen Gesten durch die Lust. Dies viele Unschöne, das
uns wahrscheinlich jeden Genuß an einer solchen Darstellung rauben würde, ver¬
hinderte jedoch nicht, daß große Schauspielcrtalente auf der französischen Bühne
emporwuchsen; und wir mögen immerhin annehmen, daß es ihnen gelungen sein
mag, auch unter diesen Beschränkungen eine gewisse Schönheit und Wahrheit des
Spiels zu entfalten. In Voltaire's Zeit begannen kleine Veränderungen im Spiel
und Costüm der tragischen Bühne zu Paris, welche übrigens erst 1789 im Utvatre
dran^is ihre Heimath fand, bis dahin als königliches Schauspiel in verschiedenen
Räumen gespielt hatte. Eine Anzahl großer Künstler kämpfte gegen das hohle
stereotype Pathos und das gleichförmige Abdeclamireu der Verse; freilich war das,
was sie an die Stelle fehlen, ein nngcnirtercs Strömen der Stimme über den
Verstand, mehr geeignet, Virtuositäten hervorzutreiben, als die alte nationale
Methode des Sprechens abzuschaffen. Viel bedeutender war, was sie in der
Mimik, Haltung und dem conventionellen Anstand änderten. Die Clairon erschien
schon in der Mitte des 18. Jahrhunderts als Elektra ohne Reifrock und Puder,
ja als Noxelane in wirklich türkischer Tracht, und Lecain wagte als Oroöman
dasselbe. Aber sie erregten noch großen Anstoß. Erst Talma zerbrach die alten
Conventionen in Spiel, Costüm, stellenweis anch in der Sprache. Er führte am
tdöall'L krautig die Treue des historischen Costümö ein, welche seit seiner Zeit die
größern Theater von Paris auszeichnet; er selbst war in Drapirung, Haltung,
Stellungen und Effecten des stummen Spiels der größte Künstler seiner Zeit; durch
ihn wurde das tragische Spiel der Franzosen modernisirt. Freilich, vieles von den
alten Gewohnheiten blieb; beim Auftreten und Abgehen der conventionelle Unter¬
schied zwischen dem Mittlern Eingang und den Seitenthüren, ans der Scene der
Nespect vor den Distanzen zwischen den spielenden Personen, und das alte Streben
nach symmetrischer Aufstellung und bedeutungsvollen Parallelismus der beiden
Seiten'einer Gruppe; es blieb anch die Declamation: das Trcmüliren und
Fliegen des Vcröaccentes war selbst bei Talma für fremde Ohren noch störend;
und die behagliche Breite der pathetischen Reden verführte die mittelmäßigen
Schauspieler fortdauernd zu hohlem, bollerndem Schreien und zu chargirtcr Mimik,
aber es wurde doch durch die Genialität der französischen Künstler die Darstellung
schöner und großer Charaktere in der Tragödie durchgesetzt. Die Schauspielkunst
begann die Dichtkunst Corneille'ö und Racine's zu überwinden und riß die höfi¬
schen Dichter der Bourbonen ans ihrem revolutionären Wege mit.

Das tragische Spiel in den französischen regelrechten Dramen setzt sich ans
andern Momenten zusammen, als z. B. bei Shakespeare'L Stücken. Alles ist bei


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[0418] Damen avancirten in wellenförmigen Bemegnngcn; Reifrock und Schoßweste nebst kurzen Beinkleidern, Degen und Schnupftuch, Allongenperücke und Toupv machten eine mit Wahrheit in's Detail malende Darstellung großer Leidenschaften ganz unmöglich; mit dem Oberkörper wurde aus den Hüften herausgespiclt und die Arme fuhren in übertriebenen Gesten durch die Lust. Dies viele Unschöne, das uns wahrscheinlich jeden Genuß an einer solchen Darstellung rauben würde, ver¬ hinderte jedoch nicht, daß große Schauspielcrtalente auf der französischen Bühne emporwuchsen; und wir mögen immerhin annehmen, daß es ihnen gelungen sein mag, auch unter diesen Beschränkungen eine gewisse Schönheit und Wahrheit des Spiels zu entfalten. In Voltaire's Zeit begannen kleine Veränderungen im Spiel und Costüm der tragischen Bühne zu Paris, welche übrigens erst 1789 im Utvatre dran^is ihre Heimath fand, bis dahin als königliches Schauspiel in verschiedenen Räumen gespielt hatte. Eine Anzahl großer Künstler kämpfte gegen das hohle stereotype Pathos und das gleichförmige Abdeclamireu der Verse; freilich war das, was sie an die Stelle fehlen, ein nngcnirtercs Strömen der Stimme über den Verstand, mehr geeignet, Virtuositäten hervorzutreiben, als die alte nationale Methode des Sprechens abzuschaffen. Viel bedeutender war, was sie in der Mimik, Haltung und dem conventionellen Anstand änderten. Die Clairon erschien schon in der Mitte des 18. Jahrhunderts als Elektra ohne Reifrock und Puder, ja als Noxelane in wirklich türkischer Tracht, und Lecain wagte als Oroöman dasselbe. Aber sie erregten noch großen Anstoß. Erst Talma zerbrach die alten Conventionen in Spiel, Costüm, stellenweis anch in der Sprache. Er führte am tdöall'L krautig die Treue des historischen Costümö ein, welche seit seiner Zeit die größern Theater von Paris auszeichnet; er selbst war in Drapirung, Haltung, Stellungen und Effecten des stummen Spiels der größte Künstler seiner Zeit; durch ihn wurde das tragische Spiel der Franzosen modernisirt. Freilich, vieles von den alten Gewohnheiten blieb; beim Auftreten und Abgehen der conventionelle Unter¬ schied zwischen dem Mittlern Eingang und den Seitenthüren, ans der Scene der Nespect vor den Distanzen zwischen den spielenden Personen, und das alte Streben nach symmetrischer Aufstellung und bedeutungsvollen Parallelismus der beiden Seiten'einer Gruppe; es blieb anch die Declamation: das Trcmüliren und Fliegen des Vcröaccentes war selbst bei Talma für fremde Ohren noch störend; und die behagliche Breite der pathetischen Reden verführte die mittelmäßigen Schauspieler fortdauernd zu hohlem, bollerndem Schreien und zu chargirtcr Mimik, aber es wurde doch durch die Genialität der französischen Künstler die Darstellung schöner und großer Charaktere in der Tragödie durchgesetzt. Die Schauspielkunst begann die Dichtkunst Corneille'ö und Racine's zu überwinden und riß die höfi¬ schen Dichter der Bourbonen ans ihrem revolutionären Wege mit. Das tragische Spiel in den französischen regelrechten Dramen setzt sich ans andern Momenten zusammen, als z. B. bei Shakespeare'L Stücken. Alles ist bei

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_85583/418>, abgerufen am 27.07.2024.