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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band.

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"letzten Ritter" diesen kleinen Abschnitt einer interessanten Periode. Der Baum
deutscher Lyrik, welcher seit fast hundert Jahren das deutsche Volk beschattet hatte,
sing an seine Lebenskraft zu verlieren, alle möglichen Empfindungen, Tone und
Weisen hatten Sänger, Bewunderer und Typen gefunden, und die nervöse und
ucueruugslustige Gegenwart suchte nach neuen reizenden Stoffen für die Phantasie.
Piquante Bilder und zeitgemäße Reflexionen lockten den Schaffenden und Ge¬
nießenden, unbefriedigt durch die umgebende Wirklichkeit versenkte sich die Seele
der Dichter träumerisch in die Natur oder die Geschichte, um Vergleiche und Ge¬
gensätze zu den Stimmungen, welche ihre eigene Zeit gab, zu finden. Das tenden¬
ziöse Wesen störte alles künstlerische Reifen der Stoffe, welche die Dichtcrscelen
noch zur Production reizten. Was geschaffen wurde, waren fast immer abgerissene
Einzelheiten, Spiegelbilder der aufgeregten Seelen, Gespenster der Gegenwart, durch
deren lockere Hülle man das kalte Knochengerüst der mehr oder weniger raffinirten
Reflexion durchsah. Daher kam es auch, daß die Dichter dieser Richtung
zu keiner künstlerischen Durchbildung der Form kamen. Eine große Rohheit und
Ungeschicklichkeit in der Versisikatiou bezeichnete anch äußerlich den Verfall der
Lyrik. Wenige Jahre nach Platens Tode, konnten die meisten jüngeren Dichter
kein Gedicht von tadelfreier Form mehr machen, und suchten vergebens durch den
Flitterstaat gehäufter und seltsamer Bilder den Mangel an Formensinn und an
dichterischer Potenz zu verdecken. Eine von den wenigen Ausnahmen war Her¬
weg!), aber selbst Lenau's mächtiges, Talent krankte an dem Leiden, dem
Schwinden der productiven lyrischen Kraft in der Nation. Dieser Auflösungs-
prozeß der Lyrik ist ein nothwendiger, er wird bereits das zweite Mal nach einem
Zwischenraum von -400 Jahren in so großem Maßstabe von den Deutschen durch¬
gemacht, er ist ein folgerichtiger, in seinem Verlauf, dein Zusammenhang seiner
Momente und in seinen innern Gesetzen verständlicher. -- Auch unser Dichter
zeigt alle Eigenthümlichkeiten seiner Bildungszeit, ihre Virtuositäten und ihre
Fehler, beide in hohem Grade. -- Es sei der Kritik erlaubt, das Lebendige in
eine Formel zu fassen. Sein Talent ist: irgend ein Object, das seine Seele
reizt, zu schildern, eine Reflexion daran zu knüpfen und das Geschilderte in
eine Metapher für seiue Reflexion zu verwandeln. Der Kreis der Stoffe, welche
er ausmalt, und an welche sich sein sinniges Vergleichen anknüpft, ist nicht sehr
groß. Der Wald, der Strom, die Morgenröthe, die Blumen, behagliche Situa¬
tionen des Menschenlebens, Schlösser, Ruinen, der Pomp und die Gefühle des
Mittelalters. Der Ritter und der Sohn der östreichischen Berge sind überall
herauszuerkennen. Das Schöne in seiner Darstellung liegt darin, daß er zu¬
weilen geistreich, in der Regel aber mit liebender Zartheit sein marines Gefühl
mit diesen Objecten in Verbindung zu setzen weiß; ihm eigenthümlich ist, daß er
glänzende und anmuthige Bilder und Vergleiche den entgegengesetzten vorzieht,
auch aus Tod und Verwesung die Keime neuen Lebens zu erkennen liebt,, daß


Grc"Man. III. 1850. 4

„letzten Ritter" diesen kleinen Abschnitt einer interessanten Periode. Der Baum
deutscher Lyrik, welcher seit fast hundert Jahren das deutsche Volk beschattet hatte,
sing an seine Lebenskraft zu verlieren, alle möglichen Empfindungen, Tone und
Weisen hatten Sänger, Bewunderer und Typen gefunden, und die nervöse und
ucueruugslustige Gegenwart suchte nach neuen reizenden Stoffen für die Phantasie.
Piquante Bilder und zeitgemäße Reflexionen lockten den Schaffenden und Ge¬
nießenden, unbefriedigt durch die umgebende Wirklichkeit versenkte sich die Seele
der Dichter träumerisch in die Natur oder die Geschichte, um Vergleiche und Ge¬
gensätze zu den Stimmungen, welche ihre eigene Zeit gab, zu finden. Das tenden¬
ziöse Wesen störte alles künstlerische Reifen der Stoffe, welche die Dichtcrscelen
noch zur Production reizten. Was geschaffen wurde, waren fast immer abgerissene
Einzelheiten, Spiegelbilder der aufgeregten Seelen, Gespenster der Gegenwart, durch
deren lockere Hülle man das kalte Knochengerüst der mehr oder weniger raffinirten
Reflexion durchsah. Daher kam es auch, daß die Dichter dieser Richtung
zu keiner künstlerischen Durchbildung der Form kamen. Eine große Rohheit und
Ungeschicklichkeit in der Versisikatiou bezeichnete anch äußerlich den Verfall der
Lyrik. Wenige Jahre nach Platens Tode, konnten die meisten jüngeren Dichter
kein Gedicht von tadelfreier Form mehr machen, und suchten vergebens durch den
Flitterstaat gehäufter und seltsamer Bilder den Mangel an Formensinn und an
dichterischer Potenz zu verdecken. Eine von den wenigen Ausnahmen war Her¬
weg!), aber selbst Lenau's mächtiges, Talent krankte an dem Leiden, dem
Schwinden der productiven lyrischen Kraft in der Nation. Dieser Auflösungs-
prozeß der Lyrik ist ein nothwendiger, er wird bereits das zweite Mal nach einem
Zwischenraum von -400 Jahren in so großem Maßstabe von den Deutschen durch¬
gemacht, er ist ein folgerichtiger, in seinem Verlauf, dein Zusammenhang seiner
Momente und in seinen innern Gesetzen verständlicher. — Auch unser Dichter
zeigt alle Eigenthümlichkeiten seiner Bildungszeit, ihre Virtuositäten und ihre
Fehler, beide in hohem Grade. — Es sei der Kritik erlaubt, das Lebendige in
eine Formel zu fassen. Sein Talent ist: irgend ein Object, das seine Seele
reizt, zu schildern, eine Reflexion daran zu knüpfen und das Geschilderte in
eine Metapher für seiue Reflexion zu verwandeln. Der Kreis der Stoffe, welche
er ausmalt, und an welche sich sein sinniges Vergleichen anknüpft, ist nicht sehr
groß. Der Wald, der Strom, die Morgenröthe, die Blumen, behagliche Situa¬
tionen des Menschenlebens, Schlösser, Ruinen, der Pomp und die Gefühle des
Mittelalters. Der Ritter und der Sohn der östreichischen Berge sind überall
herauszuerkennen. Das Schöne in seiner Darstellung liegt darin, daß er zu¬
weilen geistreich, in der Regel aber mit liebender Zartheit sein marines Gefühl
mit diesen Objecten in Verbindung zu setzen weiß; ihm eigenthümlich ist, daß er
glänzende und anmuthige Bilder und Vergleiche den entgegengesetzten vorzieht,
auch aus Tod und Verwesung die Keime neuen Lebens zu erkennen liebt,, daß


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[0033] „letzten Ritter" diesen kleinen Abschnitt einer interessanten Periode. Der Baum deutscher Lyrik, welcher seit fast hundert Jahren das deutsche Volk beschattet hatte, sing an seine Lebenskraft zu verlieren, alle möglichen Empfindungen, Tone und Weisen hatten Sänger, Bewunderer und Typen gefunden, und die nervöse und ucueruugslustige Gegenwart suchte nach neuen reizenden Stoffen für die Phantasie. Piquante Bilder und zeitgemäße Reflexionen lockten den Schaffenden und Ge¬ nießenden, unbefriedigt durch die umgebende Wirklichkeit versenkte sich die Seele der Dichter träumerisch in die Natur oder die Geschichte, um Vergleiche und Ge¬ gensätze zu den Stimmungen, welche ihre eigene Zeit gab, zu finden. Das tenden¬ ziöse Wesen störte alles künstlerische Reifen der Stoffe, welche die Dichtcrscelen noch zur Production reizten. Was geschaffen wurde, waren fast immer abgerissene Einzelheiten, Spiegelbilder der aufgeregten Seelen, Gespenster der Gegenwart, durch deren lockere Hülle man das kalte Knochengerüst der mehr oder weniger raffinirten Reflexion durchsah. Daher kam es auch, daß die Dichter dieser Richtung zu keiner künstlerischen Durchbildung der Form kamen. Eine große Rohheit und Ungeschicklichkeit in der Versisikatiou bezeichnete anch äußerlich den Verfall der Lyrik. Wenige Jahre nach Platens Tode, konnten die meisten jüngeren Dichter kein Gedicht von tadelfreier Form mehr machen, und suchten vergebens durch den Flitterstaat gehäufter und seltsamer Bilder den Mangel an Formensinn und an dichterischer Potenz zu verdecken. Eine von den wenigen Ausnahmen war Her¬ weg!), aber selbst Lenau's mächtiges, Talent krankte an dem Leiden, dem Schwinden der productiven lyrischen Kraft in der Nation. Dieser Auflösungs- prozeß der Lyrik ist ein nothwendiger, er wird bereits das zweite Mal nach einem Zwischenraum von -400 Jahren in so großem Maßstabe von den Deutschen durch¬ gemacht, er ist ein folgerichtiger, in seinem Verlauf, dein Zusammenhang seiner Momente und in seinen innern Gesetzen verständlicher. — Auch unser Dichter zeigt alle Eigenthümlichkeiten seiner Bildungszeit, ihre Virtuositäten und ihre Fehler, beide in hohem Grade. — Es sei der Kritik erlaubt, das Lebendige in eine Formel zu fassen. Sein Talent ist: irgend ein Object, das seine Seele reizt, zu schildern, eine Reflexion daran zu knüpfen und das Geschilderte in eine Metapher für seiue Reflexion zu verwandeln. Der Kreis der Stoffe, welche er ausmalt, und an welche sich sein sinniges Vergleichen anknüpft, ist nicht sehr groß. Der Wald, der Strom, die Morgenröthe, die Blumen, behagliche Situa¬ tionen des Menschenlebens, Schlösser, Ruinen, der Pomp und die Gefühle des Mittelalters. Der Ritter und der Sohn der östreichischen Berge sind überall herauszuerkennen. Das Schöne in seiner Darstellung liegt darin, daß er zu¬ weilen geistreich, in der Regel aber mit liebender Zartheit sein marines Gefühl mit diesen Objecten in Verbindung zu setzen weiß; ihm eigenthümlich ist, daß er glänzende und anmuthige Bilder und Vergleiche den entgegengesetzten vorzieht, auch aus Tod und Verwesung die Keime neuen Lebens zu erkennen liebt,, daß Grc»Man. III. 1850. 4

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_85583/33>, abgerufen am 27.07.2024.