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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band.

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malen in Aufnahme kommen und eine größere Verbreitung erhalten -- mit welchem
Detail sich doch königl. Postämter nicht wohl befassen wollten noch konnten. In
England kann man im ganzen Lande irgend eine Nummer irgend eines Blattes
für denselben Preis erhalten, als er in der Expedition kostet.

Aus all' dem Vorhergehenden wäre demnach ersichtlich, daß die kürzlich be¬
liebte Feststellung des Postdcbits der Zeitungen als eine Begünstigung gouverne-
mentaler (reactionairer?) Zeitschriften -- anstatt der unabhängigen Presse zu
schaden, sie vielmehr ans den Weg wahrer Unabhängigkeit stellen würde; auch
darum, weil sie ja auffordert, hierfür mehr Pnncipielles und Bleibendes zu liefern,
dessen Interesse nicht mit dem Tage verlischt. Wie weit man in dieser Hinsicht
in England gehen kann, ergibt sich aus nachfolgender Stelle, welche wir einer
vor uns liegenden frühern Nummer der MeeKI^ Vispaten entnehmen -- eines Blat¬
tes , das ohne Postdebit (!) 50- bis 60,000 Exemplare absetzt.




Le dr " R o l l i ".

Das giftige Pamphlet (De Ig clöLaclenev ä<z l'^nAleterre), welches der große
Verbannte der Februarrevolution, gereizt durch hämische Angriffe der Times,
gegen das Land geschlendert hat, welches -- einzig in Europa -- allen Flücht¬
lingen ein sicheres Asyl bietet,^hat die Aufmerksamkeit von Neuem auf ihn gelenkt.
Die große Unwissenheit, die sich in jenem Buche über alle positiven Angelegen¬
heiten des politischen, socialen und literarischen Lebens ausspricht, wird keineswegs
dazu beitragen, die Achtung der gebildeten Well vor dem berühmten Agitator zu
steigern. Lcdru Nollin ist ein Radicaler, wie sie auch bei uns in übertriebener
Zahl sich vorfinden: aus dem Bedürfniß, leidenschaftlich zu politisiren, hat sich
auch der Inhalt seiner politischen Ueberzeugungen gebildet.

Aber in einem Punkte ist er den meisten seiner Glaubensgenossen voraus:
er hat seiner Ueberzeugung sehr bedeutende Opfer gebracht. Ledrn Rollin war
ein reicher Mann; er hatte von .einem Verwandten, einem berühmten Taschen¬
spieler, ein Vermögen von etwa 100,000 Fr. jährlicher Rente geerbt. -- In den
ersten Jahren Karls X. (er ist 1806 geboren), war er "jwcliant en etroit in Paris
und sog daselbst jene Reminiscenzen der römischen Republik und der großen Re¬
volution ein, die in der Rechtsschule damals noch allgemein das Niveau der Ge¬
sinnung bildeten. Gegen das Ende 1829 wurde er Advocat, und fand zuerst
1834 Gelegenheit, sich in der Vertheidigung Dnpoty's, der vom Staatsanwalt
Hebert wegen moralischer Mitschuld an einer Emeute angeklagt war, auszuzeichnen.
Seit der Zeit ist er der beliebteste Anmalt politischer Angeklagter gewesen, und


malen in Aufnahme kommen und eine größere Verbreitung erhalten — mit welchem
Detail sich doch königl. Postämter nicht wohl befassen wollten noch konnten. In
England kann man im ganzen Lande irgend eine Nummer irgend eines Blattes
für denselben Preis erhalten, als er in der Expedition kostet.

Aus all' dem Vorhergehenden wäre demnach ersichtlich, daß die kürzlich be¬
liebte Feststellung des Postdcbits der Zeitungen als eine Begünstigung gouverne-
mentaler (reactionairer?) Zeitschriften — anstatt der unabhängigen Presse zu
schaden, sie vielmehr ans den Weg wahrer Unabhängigkeit stellen würde; auch
darum, weil sie ja auffordert, hierfür mehr Pnncipielles und Bleibendes zu liefern,
dessen Interesse nicht mit dem Tage verlischt. Wie weit man in dieser Hinsicht
in England gehen kann, ergibt sich aus nachfolgender Stelle, welche wir einer
vor uns liegenden frühern Nummer der MeeKI^ Vispaten entnehmen — eines Blat¬
tes , das ohne Postdebit (!) 50- bis 60,000 Exemplare absetzt.




Le dr „ R o l l i „.

Das giftige Pamphlet (De Ig clöLaclenev ä<z l'^nAleterre), welches der große
Verbannte der Februarrevolution, gereizt durch hämische Angriffe der Times,
gegen das Land geschlendert hat, welches — einzig in Europa — allen Flücht¬
lingen ein sicheres Asyl bietet,^hat die Aufmerksamkeit von Neuem auf ihn gelenkt.
Die große Unwissenheit, die sich in jenem Buche über alle positiven Angelegen¬
heiten des politischen, socialen und literarischen Lebens ausspricht, wird keineswegs
dazu beitragen, die Achtung der gebildeten Well vor dem berühmten Agitator zu
steigern. Lcdru Nollin ist ein Radicaler, wie sie auch bei uns in übertriebener
Zahl sich vorfinden: aus dem Bedürfniß, leidenschaftlich zu politisiren, hat sich
auch der Inhalt seiner politischen Ueberzeugungen gebildet.

Aber in einem Punkte ist er den meisten seiner Glaubensgenossen voraus:
er hat seiner Ueberzeugung sehr bedeutende Opfer gebracht. Ledrn Rollin war
ein reicher Mann; er hatte von .einem Verwandten, einem berühmten Taschen¬
spieler, ein Vermögen von etwa 100,000 Fr. jährlicher Rente geerbt. — In den
ersten Jahren Karls X. (er ist 1806 geboren), war er «jwcliant en etroit in Paris
und sog daselbst jene Reminiscenzen der römischen Republik und der großen Re¬
volution ein, die in der Rechtsschule damals noch allgemein das Niveau der Ge¬
sinnung bildeten. Gegen das Ende 1829 wurde er Advocat, und fand zuerst
1834 Gelegenheit, sich in der Vertheidigung Dnpoty's, der vom Staatsanwalt
Hebert wegen moralischer Mitschuld an einer Emeute angeklagt war, auszuzeichnen.
Seit der Zeit ist er der beliebteste Anmalt politischer Angeklagter gewesen, und


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_85583/270>, abgerufen am 27.07.2024.