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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band.

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Leser erscheinen wird, einen Vater seine zwei eigenen Töchter als Kaufpreis für
ein Pferd darbieten zu sehen.

Seit Jahrhunderten lebten die Völker kartwel'scher Race -- wozu auch die
Gurier gehören -- in fremder Abhängigkeit; abwechselnd waren sie den Tataren,
den Persern, den Türken und den Nüssen unterthan, so daß alle Spuren der
frühern Cultur, des Wohlstandes und der Blüthenzeit Georgiens bis auf die. Erinne¬
rung an Thamar und Davids, die glorreichsten Herrscher dieser Länder, aus¬
gerottet wurden.

Handel, Gewerbe und Ackerbau kamen in Verfall; die Einwohner, gewohnt,
sich nur als willenlose Werkzeuge der fremden Unterdrücker des Landes mißbraucht
zu sehen, versanken in Trägheit und Stumpfsinn, denn alle Triebfedern der
Kraftäußerung waren gelähmt.

Niemand strebte nach Neichthum, deun wer viel hatte, mußte viel geben.
Niemand strebte nach Auszeichnungen, denn der Uebertritt zum Islam war die
erste Bedingung, um zu Ansehen und Macht zu gelangen; und dem Glauben
ihrer Väter sind die Stämme von Kartwel durch alle Leiden und Drangsale
vieler Jahrhunderte treu geblieben bis auf deu heutigen Tag.

Zieht man die Summe der Drangsalsperioden der Völker von Kartwel und
Haigsk"), so umfaßt die Zeit, welche den Rahmen zu diesem blutigen Gewebe
des Unglücks bildet, über ein Jahrtausend. Am härtesten trafen diese Schicksals¬
schläge immer diejenigen Landestheile, welche den Mittelpunkten der Macht und
des Verkehrs, den Hauptstädten, am fernsten lagen. Gnria war einer dieser
unglücklichsten Stämme kartwel'scher Race. Daher die Verwilderung des Landes;
daher die Trägheit, die Erschlaffung, die Entartung seiner Bewohner.

Diese Menschen, welche seit Jahrhunderten daran gewöhnt wurden, die
schönsten Jungfrauen aus ihrer Mitte in die Hareme der Türken oder Perser
entführt zu scheu, mußten nach und nach abgestumpft werden gegen solche Vor¬
gänge. Wir haben der Schönheit der Mädchen von Guria schou früher rühmend
Erwähnung gethan. Viele dieser Mädchen, welche das Schicksal in die Hareme
islamitischer Großen geführt hatte, nachdem sie im Vaterhause eine frendeuleere
und sorgenvolle Jugend verlebt, kehrten nach einer Reihe von Jahren, beladen
mit Geschenken und Kostbarkeiten, in die Heimath zurück und genossen hier dann
eines Ansehens und Einflusses, welche der Reichthum überall erzwingt. Hiedurch
wurde der Neid und das Streben anderer Mädchen rege gemacht, zu ähnlichem
Ansehen und Einfluß zu gelangen. Der einzige Weg dazu führte durch's Harem.
So geschah es denn, daß bald die Mädchen gar nicht mehr gezwungen zu werden
brauchten, ihr Glück in der Fremde zu suchen, daß vielmehr ein förmliches



Georgier und Armenier.

Leser erscheinen wird, einen Vater seine zwei eigenen Töchter als Kaufpreis für
ein Pferd darbieten zu sehen.

Seit Jahrhunderten lebten die Völker kartwel'scher Race — wozu auch die
Gurier gehören — in fremder Abhängigkeit; abwechselnd waren sie den Tataren,
den Persern, den Türken und den Nüssen unterthan, so daß alle Spuren der
frühern Cultur, des Wohlstandes und der Blüthenzeit Georgiens bis auf die. Erinne¬
rung an Thamar und Davids, die glorreichsten Herrscher dieser Länder, aus¬
gerottet wurden.

Handel, Gewerbe und Ackerbau kamen in Verfall; die Einwohner, gewohnt,
sich nur als willenlose Werkzeuge der fremden Unterdrücker des Landes mißbraucht
zu sehen, versanken in Trägheit und Stumpfsinn, denn alle Triebfedern der
Kraftäußerung waren gelähmt.

Niemand strebte nach Neichthum, deun wer viel hatte, mußte viel geben.
Niemand strebte nach Auszeichnungen, denn der Uebertritt zum Islam war die
erste Bedingung, um zu Ansehen und Macht zu gelangen; und dem Glauben
ihrer Väter sind die Stämme von Kartwel durch alle Leiden und Drangsale
vieler Jahrhunderte treu geblieben bis auf deu heutigen Tag.

Zieht man die Summe der Drangsalsperioden der Völker von Kartwel und
Haigsk"), so umfaßt die Zeit, welche den Rahmen zu diesem blutigen Gewebe
des Unglücks bildet, über ein Jahrtausend. Am härtesten trafen diese Schicksals¬
schläge immer diejenigen Landestheile, welche den Mittelpunkten der Macht und
des Verkehrs, den Hauptstädten, am fernsten lagen. Gnria war einer dieser
unglücklichsten Stämme kartwel'scher Race. Daher die Verwilderung des Landes;
daher die Trägheit, die Erschlaffung, die Entartung seiner Bewohner.

Diese Menschen, welche seit Jahrhunderten daran gewöhnt wurden, die
schönsten Jungfrauen aus ihrer Mitte in die Hareme der Türken oder Perser
entführt zu scheu, mußten nach und nach abgestumpft werden gegen solche Vor¬
gänge. Wir haben der Schönheit der Mädchen von Guria schou früher rühmend
Erwähnung gethan. Viele dieser Mädchen, welche das Schicksal in die Hareme
islamitischer Großen geführt hatte, nachdem sie im Vaterhause eine frendeuleere
und sorgenvolle Jugend verlebt, kehrten nach einer Reihe von Jahren, beladen
mit Geschenken und Kostbarkeiten, in die Heimath zurück und genossen hier dann
eines Ansehens und Einflusses, welche der Reichthum überall erzwingt. Hiedurch
wurde der Neid und das Streben anderer Mädchen rege gemacht, zu ähnlichem
Ansehen und Einfluß zu gelangen. Der einzige Weg dazu führte durch's Harem.
So geschah es denn, daß bald die Mädchen gar nicht mehr gezwungen zu werden
brauchten, ihr Glück in der Fremde zu suchen, daß vielmehr ein förmliches



Georgier und Armenier.
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[0261] Leser erscheinen wird, einen Vater seine zwei eigenen Töchter als Kaufpreis für ein Pferd darbieten zu sehen. Seit Jahrhunderten lebten die Völker kartwel'scher Race — wozu auch die Gurier gehören — in fremder Abhängigkeit; abwechselnd waren sie den Tataren, den Persern, den Türken und den Nüssen unterthan, so daß alle Spuren der frühern Cultur, des Wohlstandes und der Blüthenzeit Georgiens bis auf die. Erinne¬ rung an Thamar und Davids, die glorreichsten Herrscher dieser Länder, aus¬ gerottet wurden. Handel, Gewerbe und Ackerbau kamen in Verfall; die Einwohner, gewohnt, sich nur als willenlose Werkzeuge der fremden Unterdrücker des Landes mißbraucht zu sehen, versanken in Trägheit und Stumpfsinn, denn alle Triebfedern der Kraftäußerung waren gelähmt. Niemand strebte nach Neichthum, deun wer viel hatte, mußte viel geben. Niemand strebte nach Auszeichnungen, denn der Uebertritt zum Islam war die erste Bedingung, um zu Ansehen und Macht zu gelangen; und dem Glauben ihrer Väter sind die Stämme von Kartwel durch alle Leiden und Drangsale vieler Jahrhunderte treu geblieben bis auf deu heutigen Tag. Zieht man die Summe der Drangsalsperioden der Völker von Kartwel und Haigsk"), so umfaßt die Zeit, welche den Rahmen zu diesem blutigen Gewebe des Unglücks bildet, über ein Jahrtausend. Am härtesten trafen diese Schicksals¬ schläge immer diejenigen Landestheile, welche den Mittelpunkten der Macht und des Verkehrs, den Hauptstädten, am fernsten lagen. Gnria war einer dieser unglücklichsten Stämme kartwel'scher Race. Daher die Verwilderung des Landes; daher die Trägheit, die Erschlaffung, die Entartung seiner Bewohner. Diese Menschen, welche seit Jahrhunderten daran gewöhnt wurden, die schönsten Jungfrauen aus ihrer Mitte in die Hareme der Türken oder Perser entführt zu scheu, mußten nach und nach abgestumpft werden gegen solche Vor¬ gänge. Wir haben der Schönheit der Mädchen von Guria schou früher rühmend Erwähnung gethan. Viele dieser Mädchen, welche das Schicksal in die Hareme islamitischer Großen geführt hatte, nachdem sie im Vaterhause eine frendeuleere und sorgenvolle Jugend verlebt, kehrten nach einer Reihe von Jahren, beladen mit Geschenken und Kostbarkeiten, in die Heimath zurück und genossen hier dann eines Ansehens und Einflusses, welche der Reichthum überall erzwingt. Hiedurch wurde der Neid und das Streben anderer Mädchen rege gemacht, zu ähnlichem Ansehen und Einfluß zu gelangen. Der einzige Weg dazu führte durch's Harem. So geschah es denn, daß bald die Mädchen gar nicht mehr gezwungen zu werden brauchten, ihr Glück in der Fremde zu suchen, daß vielmehr ein förmliches Georgier und Armenier.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_85583/261>, abgerufen am 01.09.2024.