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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band.

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Politik. Darin liegt eine Verkennung der thatsächlichen Verhältnisse, oder eine
Verwechslung zwischen Ursache und Wirkung. Soweit diese Politik nicht kirch¬
licher Natur, ist sie in den Augen des Russen keine nationale. Dies in doppelter
Hinsicht. Unter welchem Gesichtspunkt man auch das Altrussenthnm auffasse, überall
ist Eroberungssucht kein charakteristisches Moment desselben, vielmehr beruht sein
ursprüngliches Wesen recht eigentlich auf der Abschließung gegen alles Fremde.
Seit Peter I. ist dagegen die Regierungöpolitik offensiv, erobernd, also schon
darum in einem gewissen Widerspruche mit dem nationalen Willen. Indessen fand
sich eine Vermittelung zwischen Krone und Volk dadurch, daß bis aus Katharina
die nichtrussischen Elemente zwar als Zubehör des Staates, doch nicht als in-
tegrirender Theil des Volkes betrachtet wurden. Sie waren für die Gestal¬
tungen des russischen Rußland nicht bedingend, wurden höchstem nnr für dessen
materielle Entwickelungen hier und da maßgebend. Darein fand sich allerdings
das materielle nachahmungs- und Anschmiegungstalent des Russen mit Leichtig¬
keit. Als jedoch unter Katharina II. das politische Centralisationssystem weiter
ausgebildet ward, sah sich der Staat in der Nöthigung, den nichtrnsstscheu Elementen
auch in politischen Dingen eine vorwiegende Bedeutung zuzugestehen, obgleich in
der tagesläufigen Auffassung russischer Geschichte gerade diese Epoche als Beginn
des Russificirungssystcms hingestellt zu werden pflegt. Man muß sich hier über
Wortbedeutungen klar werden, um Verwirrungen zu vermeiden. Was das nicht¬
russische Europa nud Rußlands nichtrussische Bevölkerung Nussificirung nennt,
fand damals allerdings seine erste systematische Organisation. Aber diese soge¬
nannte Nussificirung ist dem nationalen Nußland geradezu uicht mehr und weniger
als Entnationalisirnng. Der centralisirende Absolutismus stellte nämlich in Peters¬
burg gewisse Vermittluugspuukte auf, zog gewisse Durchschuittslinicn zwischen
russischem und nichtrusstschem Wesen, und verwendete die altüberkommenen Macht¬
mittel des Czareuthums nebst den modernen Hilfsmitteln des Staates dazu, nach
diesen Punkten hin die selbstständigen Nationalelemente der einen wie der andern
Seite znsammenzubengen und zusammeuzuzwiugen. Unter Katharina, noch mehr
unter Alexander ließ man sogar den nichtrussischen Elementen einen bedingenden
Einfluß als den nationalen. Dies hat das nationale Rußland noch heute nicht
vergessen. Die Zugeständnisse an das Russenthum, welche Czar Nikolaus zu machen
für gut fand und welche nichtrussischen Angen so außerordentlich erscheinen, gleichen
in den Angen des nationalen Rußland noch lange nicht jene angeblichen Rücksich¬
ten aus, welche gewisse besondere Rechte oder scheinbare Vorzüge der nichtrussischen
Neichstheile fortbestehen lassen. Ja sie lassen die unerfüllten nationalen Anforde¬
rungen an das gouvernementale System nur immer bestimmter und bewußter werden,
obgleich im nichtrussischen Nußland jede Hoffnung auf die Möglichkeit einer Er¬
haltung nationaler Selbständigkeit und wohlverbriefter Ausnahmsstellungen be¬
kanntlich niemals tiefer gesunken ist, als eben jetzt. So lange nun Kaiser Nilo-


Politik. Darin liegt eine Verkennung der thatsächlichen Verhältnisse, oder eine
Verwechslung zwischen Ursache und Wirkung. Soweit diese Politik nicht kirch¬
licher Natur, ist sie in den Augen des Russen keine nationale. Dies in doppelter
Hinsicht. Unter welchem Gesichtspunkt man auch das Altrussenthnm auffasse, überall
ist Eroberungssucht kein charakteristisches Moment desselben, vielmehr beruht sein
ursprüngliches Wesen recht eigentlich auf der Abschließung gegen alles Fremde.
Seit Peter I. ist dagegen die Regierungöpolitik offensiv, erobernd, also schon
darum in einem gewissen Widerspruche mit dem nationalen Willen. Indessen fand
sich eine Vermittelung zwischen Krone und Volk dadurch, daß bis aus Katharina
die nichtrussischen Elemente zwar als Zubehör des Staates, doch nicht als in-
tegrirender Theil des Volkes betrachtet wurden. Sie waren für die Gestal¬
tungen des russischen Rußland nicht bedingend, wurden höchstem nnr für dessen
materielle Entwickelungen hier und da maßgebend. Darein fand sich allerdings
das materielle nachahmungs- und Anschmiegungstalent des Russen mit Leichtig¬
keit. Als jedoch unter Katharina II. das politische Centralisationssystem weiter
ausgebildet ward, sah sich der Staat in der Nöthigung, den nichtrnsstscheu Elementen
auch in politischen Dingen eine vorwiegende Bedeutung zuzugestehen, obgleich in
der tagesläufigen Auffassung russischer Geschichte gerade diese Epoche als Beginn
des Russificirungssystcms hingestellt zu werden pflegt. Man muß sich hier über
Wortbedeutungen klar werden, um Verwirrungen zu vermeiden. Was das nicht¬
russische Europa nud Rußlands nichtrussische Bevölkerung Nussificirung nennt,
fand damals allerdings seine erste systematische Organisation. Aber diese soge¬
nannte Nussificirung ist dem nationalen Nußland geradezu uicht mehr und weniger
als Entnationalisirnng. Der centralisirende Absolutismus stellte nämlich in Peters¬
burg gewisse Vermittluugspuukte auf, zog gewisse Durchschuittslinicn zwischen
russischem und nichtrusstschem Wesen, und verwendete die altüberkommenen Macht¬
mittel des Czareuthums nebst den modernen Hilfsmitteln des Staates dazu, nach
diesen Punkten hin die selbstständigen Nationalelemente der einen wie der andern
Seite znsammenzubengen und zusammeuzuzwiugen. Unter Katharina, noch mehr
unter Alexander ließ man sogar den nichtrussischen Elementen einen bedingenden
Einfluß als den nationalen. Dies hat das nationale Rußland noch heute nicht
vergessen. Die Zugeständnisse an das Russenthum, welche Czar Nikolaus zu machen
für gut fand und welche nichtrussischen Angen so außerordentlich erscheinen, gleichen
in den Angen des nationalen Rußland noch lange nicht jene angeblichen Rücksich¬
ten aus, welche gewisse besondere Rechte oder scheinbare Vorzüge der nichtrussischen
Neichstheile fortbestehen lassen. Ja sie lassen die unerfüllten nationalen Anforde¬
rungen an das gouvernementale System nur immer bestimmter und bewußter werden,
obgleich im nichtrussischen Nußland jede Hoffnung auf die Möglichkeit einer Er¬
haltung nationaler Selbständigkeit und wohlverbriefter Ausnahmsstellungen be¬
kanntlich niemals tiefer gesunken ist, als eben jetzt. So lange nun Kaiser Nilo-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_85583/252>, abgerufen am 28.07.2024.