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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band.

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Neligiös-sociole Revolutionselemento in Rußland.
l.

Es war im Juni des vorigen Jahres, als norddeutsche Blätter versicherten,
mehr wie Hunderte von Verhaftungen seien in der Nacht des ßH. Mai in
Petersburg vollzogen worden, Schrecken und Verwirrung herrschte darüber in den
edelsten Familien, und dazu ward gefügt: "Die Verschwörung, welche dieser
Maßregel zu Grunde liegt, wird als eine communistisch-sociale bezeichnet. ... Die
Russen, welche unter einer Revolution nur die Ermordung des Czaren verstehen,
behaupten, man habe dessen Ermordung bei der großen Revue beabsichtigt, welche
er über die Petersburger Garden vor seiner Abreise nach Warschau angekündigt
hat." Diesmal widerriefen andere Blätter im offiziösen Tone des Besserwissens
das ganze Gerücht; indessen erfolgte des Kaisers Abreise nach Warschau wirklich
später, als vorher beabsichtigt gewesen war. Im Juni wiederholte dagegen Libell's
"Dzieunik Polski" die Erzählung von einer zu Petersburg entdeckten weitverzweigten
Verschwörung, unter genauester Schilderung ihrer Einzelheiten und Organisation; ihre
Hauvttheilnehmer sollte sie in der Armee gesunden haben. Jetzt stürzten sich einige
Berichterstatter, deren russisch vergoldete Federn ziemlich kenntlich, abermals mit
großem Eifer auf diese "Zeitungsente", hoben besonders die Lächerlichkeit hervor,
daß vou Proclamiruug einer "Republik in Petersburg" gesprochen worden sei, und
höhnten die "glaubwürdigen Reisenden", von denen der Dziennik seine Mittheilungen
empfangen haben wollte. Trotzdem ward in den letzten Decembertagen des vorigen
Jahres die Lesewelt von der officiellen Verkündung der Resultate eiuer "fünf-
monatlichen" Untersuchung überrascht. Einundzwanzig Rädelsführer waren auf dem
NichtPlatze, wo man alle Vorbereitungen zur Füsillade getroffen, nach Verlesung
des Todesurtheils sämmtlich zum Verlust aller bürgerlichen Rechte, zu lebens¬
länglicher Minen- oder Schanzarbeit in Ketten oder zum Militärdienst nach mehr¬
jähriger Zuchthausstrafe "begnadigt" worden; eine noch größere Zahl war indessen
vorher wirklich amnestirt, weil man in ihnen angeblich nur Verführte befunden


Grcnzvote". III. 1850. 31
Neligiös-sociole Revolutionselemento in Rußland.
l.

Es war im Juni des vorigen Jahres, als norddeutsche Blätter versicherten,
mehr wie Hunderte von Verhaftungen seien in der Nacht des ßH. Mai in
Petersburg vollzogen worden, Schrecken und Verwirrung herrschte darüber in den
edelsten Familien, und dazu ward gefügt: „Die Verschwörung, welche dieser
Maßregel zu Grunde liegt, wird als eine communistisch-sociale bezeichnet. ... Die
Russen, welche unter einer Revolution nur die Ermordung des Czaren verstehen,
behaupten, man habe dessen Ermordung bei der großen Revue beabsichtigt, welche
er über die Petersburger Garden vor seiner Abreise nach Warschau angekündigt
hat." Diesmal widerriefen andere Blätter im offiziösen Tone des Besserwissens
das ganze Gerücht; indessen erfolgte des Kaisers Abreise nach Warschau wirklich
später, als vorher beabsichtigt gewesen war. Im Juni wiederholte dagegen Libell's
„Dzieunik Polski" die Erzählung von einer zu Petersburg entdeckten weitverzweigten
Verschwörung, unter genauester Schilderung ihrer Einzelheiten und Organisation; ihre
Hauvttheilnehmer sollte sie in der Armee gesunden haben. Jetzt stürzten sich einige
Berichterstatter, deren russisch vergoldete Federn ziemlich kenntlich, abermals mit
großem Eifer auf diese „Zeitungsente", hoben besonders die Lächerlichkeit hervor,
daß vou Proclamiruug einer „Republik in Petersburg" gesprochen worden sei, und
höhnten die „glaubwürdigen Reisenden", von denen der Dziennik seine Mittheilungen
empfangen haben wollte. Trotzdem ward in den letzten Decembertagen des vorigen
Jahres die Lesewelt von der officiellen Verkündung der Resultate eiuer „fünf-
monatlichen" Untersuchung überrascht. Einundzwanzig Rädelsführer waren auf dem
NichtPlatze, wo man alle Vorbereitungen zur Füsillade getroffen, nach Verlesung
des Todesurtheils sämmtlich zum Verlust aller bürgerlichen Rechte, zu lebens¬
länglicher Minen- oder Schanzarbeit in Ketten oder zum Militärdienst nach mehr¬
jähriger Zuchthausstrafe „begnadigt" worden; eine noch größere Zahl war indessen
vorher wirklich amnestirt, weil man in ihnen angeblich nur Verführte befunden


Grcnzvote». III. 1850. 31
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[0249] Neligiös-sociole Revolutionselemento in Rußland. l. Es war im Juni des vorigen Jahres, als norddeutsche Blätter versicherten, mehr wie Hunderte von Verhaftungen seien in der Nacht des ßH. Mai in Petersburg vollzogen worden, Schrecken und Verwirrung herrschte darüber in den edelsten Familien, und dazu ward gefügt: „Die Verschwörung, welche dieser Maßregel zu Grunde liegt, wird als eine communistisch-sociale bezeichnet. ... Die Russen, welche unter einer Revolution nur die Ermordung des Czaren verstehen, behaupten, man habe dessen Ermordung bei der großen Revue beabsichtigt, welche er über die Petersburger Garden vor seiner Abreise nach Warschau angekündigt hat." Diesmal widerriefen andere Blätter im offiziösen Tone des Besserwissens das ganze Gerücht; indessen erfolgte des Kaisers Abreise nach Warschau wirklich später, als vorher beabsichtigt gewesen war. Im Juni wiederholte dagegen Libell's „Dzieunik Polski" die Erzählung von einer zu Petersburg entdeckten weitverzweigten Verschwörung, unter genauester Schilderung ihrer Einzelheiten und Organisation; ihre Hauvttheilnehmer sollte sie in der Armee gesunden haben. Jetzt stürzten sich einige Berichterstatter, deren russisch vergoldete Federn ziemlich kenntlich, abermals mit großem Eifer auf diese „Zeitungsente", hoben besonders die Lächerlichkeit hervor, daß vou Proclamiruug einer „Republik in Petersburg" gesprochen worden sei, und höhnten die „glaubwürdigen Reisenden", von denen der Dziennik seine Mittheilungen empfangen haben wollte. Trotzdem ward in den letzten Decembertagen des vorigen Jahres die Lesewelt von der officiellen Verkündung der Resultate eiuer „fünf- monatlichen" Untersuchung überrascht. Einundzwanzig Rädelsführer waren auf dem NichtPlatze, wo man alle Vorbereitungen zur Füsillade getroffen, nach Verlesung des Todesurtheils sämmtlich zum Verlust aller bürgerlichen Rechte, zu lebens¬ länglicher Minen- oder Schanzarbeit in Ketten oder zum Militärdienst nach mehr¬ jähriger Zuchthausstrafe „begnadigt" worden; eine noch größere Zahl war indessen vorher wirklich amnestirt, weil man in ihnen angeblich nur Verführte befunden Grcnzvote». III. 1850. 31

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_85583/249>, abgerufen am 27.07.2024.