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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band.

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Handlung, die auch den armen französischen Kriegsgefangenen ans den englischen
Pontons zu Theil wurde.

Um aber wieder mit einer erfreulichen Seite der englischen Justizpflege zu
beschließen, deuten wir ans die Gerichtsprocednr hin, die im Allgemeinen und auch
gegen politisch Jnculpirte beobachtet wird. Daß all und jede dergleichen Ver¬
handlung öffentlich und vor einer Jury geschehen müsse, brauchen wir kaum zu
erwähnen, und doch ist dieses in der That eine große Errungenschaft, dort freilich
vom Jahre 1275 her! Daß man (wie in deutschen und andern continentalen
Gerichtshöfen) Leute confrontrirt -- den Beschuldigten zumuthet über sich
selbst Bericht abzustatten, das heißt sich selbst anzuklagen; daß man ihn etwa fragt:
"wo seid Ihr an dem und dem Tage gewesen -- habt Ihr Dieß oder,Jenes ge¬
sagt, gethan :c.?"; davon hat mau in England keine Idee. In einem englischen
Gerichtshofe muß Alles mit einer Eidesformel bekräftigt sein, der Angeklagte
aber wird nicht in Eid genommen. Nachdem ein oder das andere Factum gegen
ihn bewiesen wird, hat er (oder sein Advocat -- darriutsi) das Recht die Zeugen
zu examiniren (to erags examins Ac ^vitnegses), ihre Aussagen zu verdächtigen,
zu schwächen oder umzustürzen, wozu er wieder seine eigenen Entlastungszeugen
(>v1wes8Sö loi du<z Ästenes) vorladen kann. So schreitet das Verfahren fort,
bis der Thatbestand erschöpft ist, worauf dann zuerst der Anwalt sür die Anklage
spricht. Das letzte Wort hat aber der Anwalt des Angeklagten. Hierauf reca-
pitulirt der Richter, welches uach den von ihm während der Procedur gemachten
Noten oft in stundenlangen Rede" geschieht. Daraus Spruch der Jurh nach
kürzerer oder längerer Consultation. Und hier erscheint eine andere der Errun¬
genschaften unserer angelsächsischen Nachbarn. Der Spruch (vvrcllet -- von dem
alten deutschen Präposit Ver abgeleitet) der Jury muß nicht durch Majorität --
er muß einstimmig gefaßt werden; ist ein Einziger anderer Meinung, so hat
die der andern Eilf keine Geltung und es heißt tlo Mi^ var not aMso, welches
einer Lossprechung des Angeklagten gleichkommt. -- Soviel im Ganzen des rein
Vernünftigen und Menschlichen, dem denn aber dennoch die Mangelhaftigkeit alles
Irdischen anklebt. Denn es ist offenbar, daß ein Reicher einen begabten Ad-
vocaten (auch mehrere) dingen, die Sache endlich durch Rechtsformalitateu und
Berechnungen weithin ausgesponnen werden kann. So hat Feargus O'Connor
einen jeuer politischen Processe ein Jahr lang von einem zum andern Gerichtshof
geschoben, endlich gar vor die t^oll M^es ok llnglanZ -- den höchsten Justiz¬
senat Großbritanniens. Und als früher wegen anderer Anklage verurtheilt, büßte
O'Connor seine Haft in einem comfortablen, großen Gemach von York Castle.

Und sonach kommen wir immer und immer zu den Anomalien menschlicher
Verhältnisse -- wenigstens menschlicher Gegenwart zurück. So wie man aber
vor 600 Jahren Formeln fand, die den damaligen Verhältnissen entsprachen,
so müssen anch wir nach solchen suchen, die der Jetztzeit genügen. Sie dürften


Handlung, die auch den armen französischen Kriegsgefangenen ans den englischen
Pontons zu Theil wurde.

Um aber wieder mit einer erfreulichen Seite der englischen Justizpflege zu
beschließen, deuten wir ans die Gerichtsprocednr hin, die im Allgemeinen und auch
gegen politisch Jnculpirte beobachtet wird. Daß all und jede dergleichen Ver¬
handlung öffentlich und vor einer Jury geschehen müsse, brauchen wir kaum zu
erwähnen, und doch ist dieses in der That eine große Errungenschaft, dort freilich
vom Jahre 1275 her! Daß man (wie in deutschen und andern continentalen
Gerichtshöfen) Leute confrontrirt — den Beschuldigten zumuthet über sich
selbst Bericht abzustatten, das heißt sich selbst anzuklagen; daß man ihn etwa fragt:
„wo seid Ihr an dem und dem Tage gewesen — habt Ihr Dieß oder,Jenes ge¬
sagt, gethan :c.?"; davon hat mau in England keine Idee. In einem englischen
Gerichtshofe muß Alles mit einer Eidesformel bekräftigt sein, der Angeklagte
aber wird nicht in Eid genommen. Nachdem ein oder das andere Factum gegen
ihn bewiesen wird, hat er (oder sein Advocat — darriutsi) das Recht die Zeugen
zu examiniren (to erags examins Ac ^vitnegses), ihre Aussagen zu verdächtigen,
zu schwächen oder umzustürzen, wozu er wieder seine eigenen Entlastungszeugen
(>v1wes8Sö loi du<z Ästenes) vorladen kann. So schreitet das Verfahren fort,
bis der Thatbestand erschöpft ist, worauf dann zuerst der Anwalt sür die Anklage
spricht. Das letzte Wort hat aber der Anwalt des Angeklagten. Hierauf reca-
pitulirt der Richter, welches uach den von ihm während der Procedur gemachten
Noten oft in stundenlangen Rede» geschieht. Daraus Spruch der Jurh nach
kürzerer oder längerer Consultation. Und hier erscheint eine andere der Errun¬
genschaften unserer angelsächsischen Nachbarn. Der Spruch (vvrcllet — von dem
alten deutschen Präposit Ver abgeleitet) der Jury muß nicht durch Majorität —
er muß einstimmig gefaßt werden; ist ein Einziger anderer Meinung, so hat
die der andern Eilf keine Geltung und es heißt tlo Mi^ var not aMso, welches
einer Lossprechung des Angeklagten gleichkommt. — Soviel im Ganzen des rein
Vernünftigen und Menschlichen, dem denn aber dennoch die Mangelhaftigkeit alles
Irdischen anklebt. Denn es ist offenbar, daß ein Reicher einen begabten Ad-
vocaten (auch mehrere) dingen, die Sache endlich durch Rechtsformalitateu und
Berechnungen weithin ausgesponnen werden kann. So hat Feargus O'Connor
einen jeuer politischen Processe ein Jahr lang von einem zum andern Gerichtshof
geschoben, endlich gar vor die t^oll M^es ok llnglanZ — den höchsten Justiz¬
senat Großbritanniens. Und als früher wegen anderer Anklage verurtheilt, büßte
O'Connor seine Haft in einem comfortablen, großen Gemach von York Castle.

Und sonach kommen wir immer und immer zu den Anomalien menschlicher
Verhältnisse — wenigstens menschlicher Gegenwart zurück. So wie man aber
vor 600 Jahren Formeln fand, die den damaligen Verhältnissen entsprachen,
so müssen anch wir nach solchen suchen, die der Jetztzeit genügen. Sie dürften


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[0236] Handlung, die auch den armen französischen Kriegsgefangenen ans den englischen Pontons zu Theil wurde. Um aber wieder mit einer erfreulichen Seite der englischen Justizpflege zu beschließen, deuten wir ans die Gerichtsprocednr hin, die im Allgemeinen und auch gegen politisch Jnculpirte beobachtet wird. Daß all und jede dergleichen Ver¬ handlung öffentlich und vor einer Jury geschehen müsse, brauchen wir kaum zu erwähnen, und doch ist dieses in der That eine große Errungenschaft, dort freilich vom Jahre 1275 her! Daß man (wie in deutschen und andern continentalen Gerichtshöfen) Leute confrontrirt — den Beschuldigten zumuthet über sich selbst Bericht abzustatten, das heißt sich selbst anzuklagen; daß man ihn etwa fragt: „wo seid Ihr an dem und dem Tage gewesen — habt Ihr Dieß oder,Jenes ge¬ sagt, gethan :c.?"; davon hat mau in England keine Idee. In einem englischen Gerichtshofe muß Alles mit einer Eidesformel bekräftigt sein, der Angeklagte aber wird nicht in Eid genommen. Nachdem ein oder das andere Factum gegen ihn bewiesen wird, hat er (oder sein Advocat — darriutsi) das Recht die Zeugen zu examiniren (to erags examins Ac ^vitnegses), ihre Aussagen zu verdächtigen, zu schwächen oder umzustürzen, wozu er wieder seine eigenen Entlastungszeugen (>v1wes8Sö loi du<z Ästenes) vorladen kann. So schreitet das Verfahren fort, bis der Thatbestand erschöpft ist, worauf dann zuerst der Anwalt sür die Anklage spricht. Das letzte Wort hat aber der Anwalt des Angeklagten. Hierauf reca- pitulirt der Richter, welches uach den von ihm während der Procedur gemachten Noten oft in stundenlangen Rede» geschieht. Daraus Spruch der Jurh nach kürzerer oder längerer Consultation. Und hier erscheint eine andere der Errun¬ genschaften unserer angelsächsischen Nachbarn. Der Spruch (vvrcllet — von dem alten deutschen Präposit Ver abgeleitet) der Jury muß nicht durch Majorität — er muß einstimmig gefaßt werden; ist ein Einziger anderer Meinung, so hat die der andern Eilf keine Geltung und es heißt tlo Mi^ var not aMso, welches einer Lossprechung des Angeklagten gleichkommt. — Soviel im Ganzen des rein Vernünftigen und Menschlichen, dem denn aber dennoch die Mangelhaftigkeit alles Irdischen anklebt. Denn es ist offenbar, daß ein Reicher einen begabten Ad- vocaten (auch mehrere) dingen, die Sache endlich durch Rechtsformalitateu und Berechnungen weithin ausgesponnen werden kann. So hat Feargus O'Connor einen jeuer politischen Processe ein Jahr lang von einem zum andern Gerichtshof geschoben, endlich gar vor die t^oll M^es ok llnglanZ — den höchsten Justiz¬ senat Großbritanniens. Und als früher wegen anderer Anklage verurtheilt, büßte O'Connor seine Haft in einem comfortablen, großen Gemach von York Castle. Und sonach kommen wir immer und immer zu den Anomalien menschlicher Verhältnisse — wenigstens menschlicher Gegenwart zurück. So wie man aber vor 600 Jahren Formeln fand, die den damaligen Verhältnissen entsprachen, so müssen anch wir nach solchen suchen, die der Jetztzeit genügen. Sie dürften

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_85583/236>, abgerufen am 27.07.2024.