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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band.

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der polnische Gesang dem deutschen Ohr den Eindruck wilder Melancholie, am
meisten, wenn er mit dem schrillen Getöse vorgetragen wird, welches ein Schwarm
von Weibern und halb betrunkenen Männern auszustoßen pflegt.

Und der Hause selbst! wie bettelhaft das Aussehen der Männer, unsauber
und verwildert selbst die Frauen, die Gesichter geröthet vom Marsche und auf¬
gedunsen durch schlaflose Nächte und Branntwein! Die meisten der Pilger sind
schlechtes Gesindel, aber auch viele Frauen und Töchter aus bessern Baucrusamilieu
siud darunter, es ist verständige Rücksicht, daß auch sie ihre besten Kleider bei
einem solchen Akt der Frömmigkeit zu Hause lassen. Mehrere Tagereisen weit
kommen sie her, manchmal ganze Dörfer und daun wohl unter Anführung ihres
Geistlichen, in der Regel aber hat sich der Hause aus mehreren Nachbardörfern
zusammen gefunden. Manche, besonders die Weiber haben Gelübde gethan, bei
Krankheitsfällen ihrer Familie, bei verzweifelten Unternehmungen u. s. w., die
Meisten lausen zusammen aus Freude an der Aufregung und der Unsittlichkeit, zu
welcher diese Proccsstoneu Gelegenheit geben. Wehe dem Feld mit eßbaren
Früchten, oder der Anlage von Obstbäumen, bei welcher sie vorbeiziehu;" und
wehe den Heuhaufen, auf welchen sie ihre Nachtherberge nehmen! Für Mädchen
und Frauen ist eine solche Pilgerfahrt so dcmoralisirend als möglich, aber der
Pfaff hat sie gelobt und der Annaberg gibt ihnen Absolution für alle Sünden,
folglich kommt es auf einigen kleinen Diebstahl und nächtliche Abenteuer von höchst
scandalöser Gemeinheit gar nicht an. In der Nähe des Annaberges bläst der
Fahnenträger die Backen auf und nimmt einen stolzem Schritt an, die heisere
Stimme des Vorsängers wird lauter und die ehrsame Gemeinde sucht ihre zer¬
streuten Sinne zusammen, schlägt Kreuze und denkt an den "Gottesdienst". Dieser
Gottesdienst ist noch immer der Cultus der uralten großen Wcltmutter, welche
einst Demeter oder Ceres hieß, dem christlichen Landmann unserer Gegend aber
zur Mutter Gottes geworden ist, ohne daß sich sonst ihre Physiognomie sehr
verändert hat. Der Weg zum Gipfel des Berges ist durch die bekannten Stationen
bezeichnet, Pfeiler, Häuschen oder Kreuze mit Bildern, welche Momente aus der Lei¬
densgeschichte Christi vorstellen. Eine Masse vou Geistlichen unterstützt die Gebete
des Volkes Vorder einzelnen abenteuerlichen Bildern. Wer recht büßen will, hat
die Freiheit, auf seineu Ku'een den Gipfel des Berges herauf zu rutschen. Oben
steht eine Kanzel, von welcher im Freien zu der großen Masse der Gläubigen
gepredigt wird, dann folgt das Opfer für die Kirche, der Ablaß für die Frommen,
zuletzt trinken die Geistlichen Ungarwein, das Volk lagert sich rings um deu Gipfel
des Berges und trinkt Schnaps. Krämer, Marktschreier und Hanswurste verfehlen
nicht dem frommen Fest Mannichfaltigkeit und Abwechslung zu geben. Es giebt
wenig Dinge, welche so häßlich und widerlich siud als diese Art religiöser Feierlich¬
keiten inObcrschlesien. Die bornirten Geistlichen begünstigen sie, die Staatsregierung
hatte sie in früherer Zeit öfter verboten, in den letzten Jahren haben sie sich wieder


der polnische Gesang dem deutschen Ohr den Eindruck wilder Melancholie, am
meisten, wenn er mit dem schrillen Getöse vorgetragen wird, welches ein Schwarm
von Weibern und halb betrunkenen Männern auszustoßen pflegt.

Und der Hause selbst! wie bettelhaft das Aussehen der Männer, unsauber
und verwildert selbst die Frauen, die Gesichter geröthet vom Marsche und auf¬
gedunsen durch schlaflose Nächte und Branntwein! Die meisten der Pilger sind
schlechtes Gesindel, aber auch viele Frauen und Töchter aus bessern Baucrusamilieu
siud darunter, es ist verständige Rücksicht, daß auch sie ihre besten Kleider bei
einem solchen Akt der Frömmigkeit zu Hause lassen. Mehrere Tagereisen weit
kommen sie her, manchmal ganze Dörfer und daun wohl unter Anführung ihres
Geistlichen, in der Regel aber hat sich der Hause aus mehreren Nachbardörfern
zusammen gefunden. Manche, besonders die Weiber haben Gelübde gethan, bei
Krankheitsfällen ihrer Familie, bei verzweifelten Unternehmungen u. s. w., die
Meisten lausen zusammen aus Freude an der Aufregung und der Unsittlichkeit, zu
welcher diese Proccsstoneu Gelegenheit geben. Wehe dem Feld mit eßbaren
Früchten, oder der Anlage von Obstbäumen, bei welcher sie vorbeiziehu;" und
wehe den Heuhaufen, auf welchen sie ihre Nachtherberge nehmen! Für Mädchen
und Frauen ist eine solche Pilgerfahrt so dcmoralisirend als möglich, aber der
Pfaff hat sie gelobt und der Annaberg gibt ihnen Absolution für alle Sünden,
folglich kommt es auf einigen kleinen Diebstahl und nächtliche Abenteuer von höchst
scandalöser Gemeinheit gar nicht an. In der Nähe des Annaberges bläst der
Fahnenträger die Backen auf und nimmt einen stolzem Schritt an, die heisere
Stimme des Vorsängers wird lauter und die ehrsame Gemeinde sucht ihre zer¬
streuten Sinne zusammen, schlägt Kreuze und denkt an den „Gottesdienst". Dieser
Gottesdienst ist noch immer der Cultus der uralten großen Wcltmutter, welche
einst Demeter oder Ceres hieß, dem christlichen Landmann unserer Gegend aber
zur Mutter Gottes geworden ist, ohne daß sich sonst ihre Physiognomie sehr
verändert hat. Der Weg zum Gipfel des Berges ist durch die bekannten Stationen
bezeichnet, Pfeiler, Häuschen oder Kreuze mit Bildern, welche Momente aus der Lei¬
densgeschichte Christi vorstellen. Eine Masse vou Geistlichen unterstützt die Gebete
des Volkes Vorder einzelnen abenteuerlichen Bildern. Wer recht büßen will, hat
die Freiheit, auf seineu Ku'een den Gipfel des Berges herauf zu rutschen. Oben
steht eine Kanzel, von welcher im Freien zu der großen Masse der Gläubigen
gepredigt wird, dann folgt das Opfer für die Kirche, der Ablaß für die Frommen,
zuletzt trinken die Geistlichen Ungarwein, das Volk lagert sich rings um deu Gipfel
des Berges und trinkt Schnaps. Krämer, Marktschreier und Hanswurste verfehlen
nicht dem frommen Fest Mannichfaltigkeit und Abwechslung zu geben. Es giebt
wenig Dinge, welche so häßlich und widerlich siud als diese Art religiöser Feierlich¬
keiten inObcrschlesien. Die bornirten Geistlichen begünstigen sie, die Staatsregierung
hatte sie in früherer Zeit öfter verboten, in den letzten Jahren haben sie sich wieder


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[0172] der polnische Gesang dem deutschen Ohr den Eindruck wilder Melancholie, am meisten, wenn er mit dem schrillen Getöse vorgetragen wird, welches ein Schwarm von Weibern und halb betrunkenen Männern auszustoßen pflegt. Und der Hause selbst! wie bettelhaft das Aussehen der Männer, unsauber und verwildert selbst die Frauen, die Gesichter geröthet vom Marsche und auf¬ gedunsen durch schlaflose Nächte und Branntwein! Die meisten der Pilger sind schlechtes Gesindel, aber auch viele Frauen und Töchter aus bessern Baucrusamilieu siud darunter, es ist verständige Rücksicht, daß auch sie ihre besten Kleider bei einem solchen Akt der Frömmigkeit zu Hause lassen. Mehrere Tagereisen weit kommen sie her, manchmal ganze Dörfer und daun wohl unter Anführung ihres Geistlichen, in der Regel aber hat sich der Hause aus mehreren Nachbardörfern zusammen gefunden. Manche, besonders die Weiber haben Gelübde gethan, bei Krankheitsfällen ihrer Familie, bei verzweifelten Unternehmungen u. s. w., die Meisten lausen zusammen aus Freude an der Aufregung und der Unsittlichkeit, zu welcher diese Proccsstoneu Gelegenheit geben. Wehe dem Feld mit eßbaren Früchten, oder der Anlage von Obstbäumen, bei welcher sie vorbeiziehu;" und wehe den Heuhaufen, auf welchen sie ihre Nachtherberge nehmen! Für Mädchen und Frauen ist eine solche Pilgerfahrt so dcmoralisirend als möglich, aber der Pfaff hat sie gelobt und der Annaberg gibt ihnen Absolution für alle Sünden, folglich kommt es auf einigen kleinen Diebstahl und nächtliche Abenteuer von höchst scandalöser Gemeinheit gar nicht an. In der Nähe des Annaberges bläst der Fahnenträger die Backen auf und nimmt einen stolzem Schritt an, die heisere Stimme des Vorsängers wird lauter und die ehrsame Gemeinde sucht ihre zer¬ streuten Sinne zusammen, schlägt Kreuze und denkt an den „Gottesdienst". Dieser Gottesdienst ist noch immer der Cultus der uralten großen Wcltmutter, welche einst Demeter oder Ceres hieß, dem christlichen Landmann unserer Gegend aber zur Mutter Gottes geworden ist, ohne daß sich sonst ihre Physiognomie sehr verändert hat. Der Weg zum Gipfel des Berges ist durch die bekannten Stationen bezeichnet, Pfeiler, Häuschen oder Kreuze mit Bildern, welche Momente aus der Lei¬ densgeschichte Christi vorstellen. Eine Masse vou Geistlichen unterstützt die Gebete des Volkes Vorder einzelnen abenteuerlichen Bildern. Wer recht büßen will, hat die Freiheit, auf seineu Ku'een den Gipfel des Berges herauf zu rutschen. Oben steht eine Kanzel, von welcher im Freien zu der großen Masse der Gläubigen gepredigt wird, dann folgt das Opfer für die Kirche, der Ablaß für die Frommen, zuletzt trinken die Geistlichen Ungarwein, das Volk lagert sich rings um deu Gipfel des Berges und trinkt Schnaps. Krämer, Marktschreier und Hanswurste verfehlen nicht dem frommen Fest Mannichfaltigkeit und Abwechslung zu geben. Es giebt wenig Dinge, welche so häßlich und widerlich siud als diese Art religiöser Feierlich¬ keiten inObcrschlesien. Die bornirten Geistlichen begünstigen sie, die Staatsregierung hatte sie in früherer Zeit öfter verboten, in den letzten Jahren haben sie sich wieder

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_85583/172>, abgerufen am 06.10.2024.