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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band.

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Tanzes machte das Ballet zum wichtigsten Theile des Theaterwesens. Eine große
Ballelschule ist eingerichtet, und in dieser befinden sich Schüler vom dritten bis
zum achtzehnten Lebensjahre. Es erweckt Abschen, die kleinen, kaum der Mutter-
brust entwöhnten Geschöpfe schon für einen so bedenklichen Lebenszweck, als der
Tanz ist, renken und quälen zu sehen. Die Schule enthält an zweihundert Schüler
und Schülerinnen, die häufig sämmtlich mit auf den Bietern erscheinen müssen,
z. B. in dem Ballet Chans und Flora, und dann ein kleines Honorar erhalten.
Uebrigens ist sämmtliches angestelltes Bälletpersonal zu täglichen Exercitien in den
beiden großen Sälen verpflichtet. Es war zu meiner Zeit der Mühe Werth, das
Treiben der hochstehenden russischen Offiziere dabei zu beobachten. Der Zutritt
ist natürlich uur deu Freunden des Directorgencmlö, also andern Stabsoffizieren
frei, und manche dieser Herren machen sich mehr in den Balletsälcn, als bei ihren
Heeresabtheilungen zu schaffen. Jeder von ihnen rühmt sich, unter deu Tänzerin¬
nen eine oder mehre Geliebte zu besitzen, und läßt es sich angelegen sein, diesen
Favoritinnen kleine, gemeine Feste zu geben. Die Unsittlichkeit war arg, und das
Widerlichste, daß selbst Kinder von dreizehn, vierzehn Jahre in diesen Pfuhl mili¬
tärischer Courtoisie hineinexercirt wurde". Der Geueral Nesselrode bewies sich
darin als wackerer Mann, als er über diesen schmutzigen Mißbrauch der Theater-
austalt heftig eiferte. Allein er erwarb sich dadurch nicht die Gunst des Statthalters,
dem selbst das medistreude Marschall großen Wohlgefallen an dem schönsten Theil
der Künstlerwelt nachrühmt. Er wenigstens zieht Schauspiel und Oper dem Ballet
vor. Und da er den Warschauern so viele Interessen zu nehmen gezwungen war,
ist er großmüthig genug, ihnen zu gestatte", seine Person mit dem Theaterklatsch
in interessante Verbindung zu bringen. Wenn ein Fräulein Daszkiewicz, früher
die reizendste Erscheinung im Nationallnstspiel, ihren reichen Bräutigam durch eiuen
höhern Gewinn verlor, oder die Mutter der hübschen Sängerin Rivoli in früherer
Zeit kühn und laut erklärte: Ein Geschenk von dreizehntausend Gulden anzuneh¬
men, halte sie zwar für ganz verständig, und sie sage daher im Namen ihrer jungen
Tochter schönstens Dank, allein ihre Tochter am Souper eines einzelnen Herrn
theilnehmen zu lassen, halte sie mit ihren Mutterpflichten nicht sür vereinbar, auch
stimme das nicht mit der Gesinnung ihrer Tochter, ihre Zukunft mit dem Rufe
sittlicher Reinheit u. s. w. Es entzückte die Warschauer damals, daß die Fürst¬
lichkeit der Sitte souveräner war, als ein Anderer.

Der Geschmack der Russen hat dem Ballet diejenigen Eigenthümlichkeiten ge¬
geben, welche ihm gerade am wenigsten rühmlich sind. Man muß es lasciv und
überladen nennen. Uebersieht man aber diese Schwächen gleichsam als einen lan¬
desüblichen Brauch, so muß man bekennen, daß Ungemeines geleistet wird. Ein
Franzose, Maurice, ist der eigentliche Begründer des politischen Ballets. Er
selbst war noch vor wenigen Jahren ein ausgezeichneter Tänzer, besonders ist ihm
das zum Ruhm zu machen, daß er sehr geschickt zur Composition des Ballets


Tanzes machte das Ballet zum wichtigsten Theile des Theaterwesens. Eine große
Ballelschule ist eingerichtet, und in dieser befinden sich Schüler vom dritten bis
zum achtzehnten Lebensjahre. Es erweckt Abschen, die kleinen, kaum der Mutter-
brust entwöhnten Geschöpfe schon für einen so bedenklichen Lebenszweck, als der
Tanz ist, renken und quälen zu sehen. Die Schule enthält an zweihundert Schüler
und Schülerinnen, die häufig sämmtlich mit auf den Bietern erscheinen müssen,
z. B. in dem Ballet Chans und Flora, und dann ein kleines Honorar erhalten.
Uebrigens ist sämmtliches angestelltes Bälletpersonal zu täglichen Exercitien in den
beiden großen Sälen verpflichtet. Es war zu meiner Zeit der Mühe Werth, das
Treiben der hochstehenden russischen Offiziere dabei zu beobachten. Der Zutritt
ist natürlich uur deu Freunden des Directorgencmlö, also andern Stabsoffizieren
frei, und manche dieser Herren machen sich mehr in den Balletsälcn, als bei ihren
Heeresabtheilungen zu schaffen. Jeder von ihnen rühmt sich, unter deu Tänzerin¬
nen eine oder mehre Geliebte zu besitzen, und läßt es sich angelegen sein, diesen
Favoritinnen kleine, gemeine Feste zu geben. Die Unsittlichkeit war arg, und das
Widerlichste, daß selbst Kinder von dreizehn, vierzehn Jahre in diesen Pfuhl mili¬
tärischer Courtoisie hineinexercirt wurde». Der Geueral Nesselrode bewies sich
darin als wackerer Mann, als er über diesen schmutzigen Mißbrauch der Theater-
austalt heftig eiferte. Allein er erwarb sich dadurch nicht die Gunst des Statthalters,
dem selbst das medistreude Marschall großen Wohlgefallen an dem schönsten Theil
der Künstlerwelt nachrühmt. Er wenigstens zieht Schauspiel und Oper dem Ballet
vor. Und da er den Warschauern so viele Interessen zu nehmen gezwungen war,
ist er großmüthig genug, ihnen zu gestatte», seine Person mit dem Theaterklatsch
in interessante Verbindung zu bringen. Wenn ein Fräulein Daszkiewicz, früher
die reizendste Erscheinung im Nationallnstspiel, ihren reichen Bräutigam durch eiuen
höhern Gewinn verlor, oder die Mutter der hübschen Sängerin Rivoli in früherer
Zeit kühn und laut erklärte: Ein Geschenk von dreizehntausend Gulden anzuneh¬
men, halte sie zwar für ganz verständig, und sie sage daher im Namen ihrer jungen
Tochter schönstens Dank, allein ihre Tochter am Souper eines einzelnen Herrn
theilnehmen zu lassen, halte sie mit ihren Mutterpflichten nicht sür vereinbar, auch
stimme das nicht mit der Gesinnung ihrer Tochter, ihre Zukunft mit dem Rufe
sittlicher Reinheit u. s. w. Es entzückte die Warschauer damals, daß die Fürst¬
lichkeit der Sitte souveräner war, als ein Anderer.

Der Geschmack der Russen hat dem Ballet diejenigen Eigenthümlichkeiten ge¬
geben, welche ihm gerade am wenigsten rühmlich sind. Man muß es lasciv und
überladen nennen. Uebersieht man aber diese Schwächen gleichsam als einen lan¬
desüblichen Brauch, so muß man bekennen, daß Ungemeines geleistet wird. Ein
Franzose, Maurice, ist der eigentliche Begründer des politischen Ballets. Er
selbst war noch vor wenigen Jahren ein ausgezeichneter Tänzer, besonders ist ihm
das zum Ruhm zu machen, daß er sehr geschickt zur Composition des Ballets


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_85583/111>, abgerufen am 01.09.2024.