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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band.

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so scheint es, vom Priester im schwarzen Rocke und viereckig aufgekrempten Hute
herab zum Landmann in der unvermeidbar blauen Blouse fährt Arm und Reich,
Alt und Jung unaufhörlich auf der Eisenbahn. Nebenbei übt die Administration
ihr Amt besser als auch in England. Dort, und nicht dort allein, besteht der
Glaube, daß auf einem Eisenbahnhofe des Lärms, der Eile, des Geschreies nie
genug sein könne. Die Beamten rennen, die Locomotiven pfeifen, alle Thüren
werden krachend zugeschlagen, der Reisende gestoßen, geschoben, als Collo behan¬
delt. In Belgien nicht. Die Thüren schließen sich leise, Trompeten vertreten
die häßlichen, Mark und Bein zerschneidenden Pfeifen und die Beamten verrichten
ihre Geschäfte, ohne zu rennen. Dennoch fährt man in Belgien sehr schnell.

Der Sonntagsmorgen meines Erwachens in Antwerpen begann mit Hellem
Glockengeläute, zwischendurch die Melodien der in Holland und Belgien unver¬
meidlich klingelnden Glockenspiele. Es war ein himmelblauer Tag und die?Iaes
Verth unter meinem Fenster voll eifriger Kirchengänger. Aber nach den stillen
englischen Sonntagen fiel mir sehr ans, daß der Gottesdienst den äußern Gang
des Werktaglebens ungestört ließ, daß, während die Glocken zur Andacht riefen,
und von allen Seiten Hunderte dem Rufe folgten, Handel und Wandel trotzig
seine Wege trieb und die Verkaufsgewölbe sich aufthaten. Ich war nur wenige
Schritte von meinem Hotel um die nächste Ecke gebogen, als ich zwischen grünen,
frisch in das Pflaster gepflanzten Bäumen stand. Blumen- und Laubgewinde
zogen sich von einem zum andern und fast jeder trug das Bild eines der vierzehn
Heiligen, von deren jährlichem Feste hente die hundertjährige Erinnerung gefeiert
wurde. Herein in die Kathedrale zur Hochmesse! Als die Geistlichen sich gegen
den Altar verneigten, mit erhobenen Händen näher schritten und jene mystischen Cero-
monien begannen, welche ein wesentlicher Theil der Messe sind, streifte ein Lächeln
über das Gesicht eines Engländers, der neben mir saß. Er wußte nicht, daß
Handlung und Geberde eine Vorschrift des römischen Ritual ist und Beziehung
hat aus das Leben und die Lehren unseres Heilandes. Als ich ihm das zuge¬
flüstert, war er vielleicht einer der Ernstesten.

Störend aber -- daß doch überall der Satan dieser Welt sich eindrängen
muß in die Gemeinde der Heiligen! -- war das stete Klimpern und Klirren der
Kupfermünzen, welche zu dreifachem Zwecke eingesammelt wurden. Einmal für
die Strohscssel, ans welchen die Anwesenden sitzen oder knieen, die einzigen Sitze
in der weiten Kirche, das Stück zwei Sons. Die Einnahme ist verpachtet, und
eine Frau, welche das Geld einforderte, schien kein Auge für die Andacht der
Betenden, aber zehn Augen sür ihre Stühle zu haben. Sie bemerkte jeden Wech¬
sel und störte das inbrünstige Gebet. Minder rücksichtslos waren die Einsamm¬
ler freiwilliger Gaben für Kirche und Arme. Jeder Einsammler hatte eine höl¬
zerne Büchse. Die bot er zum Empfange des Beitrags und wie das hineinfallende
Stück klang, so ließ auch der Mann die Büchse vor Jedem klingen, der vielleicht nicht


so scheint es, vom Priester im schwarzen Rocke und viereckig aufgekrempten Hute
herab zum Landmann in der unvermeidbar blauen Blouse fährt Arm und Reich,
Alt und Jung unaufhörlich auf der Eisenbahn. Nebenbei übt die Administration
ihr Amt besser als auch in England. Dort, und nicht dort allein, besteht der
Glaube, daß auf einem Eisenbahnhofe des Lärms, der Eile, des Geschreies nie
genug sein könne. Die Beamten rennen, die Locomotiven pfeifen, alle Thüren
werden krachend zugeschlagen, der Reisende gestoßen, geschoben, als Collo behan¬
delt. In Belgien nicht. Die Thüren schließen sich leise, Trompeten vertreten
die häßlichen, Mark und Bein zerschneidenden Pfeifen und die Beamten verrichten
ihre Geschäfte, ohne zu rennen. Dennoch fährt man in Belgien sehr schnell.

Der Sonntagsmorgen meines Erwachens in Antwerpen begann mit Hellem
Glockengeläute, zwischendurch die Melodien der in Holland und Belgien unver¬
meidlich klingelnden Glockenspiele. Es war ein himmelblauer Tag und die?Iaes
Verth unter meinem Fenster voll eifriger Kirchengänger. Aber nach den stillen
englischen Sonntagen fiel mir sehr ans, daß der Gottesdienst den äußern Gang
des Werktaglebens ungestört ließ, daß, während die Glocken zur Andacht riefen,
und von allen Seiten Hunderte dem Rufe folgten, Handel und Wandel trotzig
seine Wege trieb und die Verkaufsgewölbe sich aufthaten. Ich war nur wenige
Schritte von meinem Hotel um die nächste Ecke gebogen, als ich zwischen grünen,
frisch in das Pflaster gepflanzten Bäumen stand. Blumen- und Laubgewinde
zogen sich von einem zum andern und fast jeder trug das Bild eines der vierzehn
Heiligen, von deren jährlichem Feste hente die hundertjährige Erinnerung gefeiert
wurde. Herein in die Kathedrale zur Hochmesse! Als die Geistlichen sich gegen
den Altar verneigten, mit erhobenen Händen näher schritten und jene mystischen Cero-
monien begannen, welche ein wesentlicher Theil der Messe sind, streifte ein Lächeln
über das Gesicht eines Engländers, der neben mir saß. Er wußte nicht, daß
Handlung und Geberde eine Vorschrift des römischen Ritual ist und Beziehung
hat aus das Leben und die Lehren unseres Heilandes. Als ich ihm das zuge¬
flüstert, war er vielleicht einer der Ernstesten.

Störend aber — daß doch überall der Satan dieser Welt sich eindrängen
muß in die Gemeinde der Heiligen! — war das stete Klimpern und Klirren der
Kupfermünzen, welche zu dreifachem Zwecke eingesammelt wurden. Einmal für
die Strohscssel, ans welchen die Anwesenden sitzen oder knieen, die einzigen Sitze
in der weiten Kirche, das Stück zwei Sons. Die Einnahme ist verpachtet, und
eine Frau, welche das Geld einforderte, schien kein Auge für die Andacht der
Betenden, aber zehn Augen sür ihre Stühle zu haben. Sie bemerkte jeden Wech¬
sel und störte das inbrünstige Gebet. Minder rücksichtslos waren die Einsamm¬
ler freiwilliger Gaben für Kirche und Arme. Jeder Einsammler hatte eine höl¬
zerne Büchse. Die bot er zum Empfange des Beitrags und wie das hineinfallende
Stück klang, so ließ auch der Mann die Büchse vor Jedem klingen, der vielleicht nicht


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_85583/102>, abgerufen am 27.07.2024.