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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. II. Band.

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mit der größten Liederlichkeit hingeworfene Einleitungen mit einander verbunden
werden. Diese Auflösung der Kunst zeigt sich in dein Dialog, der immer leer
und ohne innere Berechtigung ist, auch wo der Dichter sich in das Gebiet des
Tiefsiuuigeu begibt; in den Charakteren, die zwar insofern consequent sind, als
irgend eine abstrakte Geistesrichtung in ihnen persouiftcirt wird, die aber abgesehen
von dieser zu Grunde gelegten Abstraction, kein wirkliches Leben, keinen Inhalt,
kein Fleisch und Blut, ant wenigsten eine Entwickelung haben; in der Architek¬
tonik der Handlung, die weder einem psychologischen Gesetz, noch den ästhetischen
Interessen entspricht; endlich in der Moral, die regelmäßig in einem ldbrüu, 6o-
nachhinkt, und die in der Regel so faustdick ist, daß die ganze Verwilderung
unserer sittlichen Begriffe dazu gehört, sie zu ertrage".

In diesen Fehlern ist aber zugleich enthalten, was Engen Sue berühmt ge¬
macht hat. Es ist seine wahrhaft Celtische Phantasie, das Unerhörte in seinen
Lügen, der Leichtsinn in seinen Sprüngen, was den Leser nicht in jene Ruhe
kommen laßt, deren er zu einem unbefangenen Urtheil bedarf. Ein Erstannen
drängt das andere, und die Neugierde wechselt mit dem Gelächter der Enttäuschung.
Seine Phantasie hat sich weniger in das psychologische Raffinement eingelassen,
welches einer andern Schule, deren bedeutendster Schriftsteller Frvdöric Sonliv ist,
vorbehalten, blieb; er empfindet zu roh und zu abstract, um es darin zu' einer
interessanten Verwickelung zu bringen. Es sind die Wunder der physikalischen
Welt, an deuen seine Phantasie sich weidet, und wenn er den Menschen, heran¬
zieht, so ist es nur als Anatom, als Mediciner, er schildert die Zuckungen des
Fleisches mit einer Virtuosität im Eckelhaften, gegen die Victor Hugo ein blöder
Schüler ist. -- Von der Art seiner Erfindungen uur ein Paar Beispiele. -- Zu
Anfang des "weiblichen Blaubarts" sehen nur an der Küste der Insel Bourbon
einen Kahn, worin zwei Menschen sitzen, in gerader Richtung ans den Fels zu¬
eilen, der sich steil in das Meer erhebt. Mitten in der Brandung springen die
beiden Männer heraus, und schwimmen durch ein Loch in der Felswand auf einem
Wasserfall in eine unterirdische Grotte hinunter, wo die Meerfluth in einem stillen
See endet. Wie das nach den Gesetzen der Physik möglich ist, darüber macht
sich der Dichter keine Sorgen. Aus dem See steigen sie an's Land und finden
, sich in einer Höhle, wo sie einen verborgenen Ausgang suchen. Dieser ist so
enge, daß mau uur durch kriechen kann. Der Führer kriecht voraus, da fühlt er
in dein Gange, wo er nicht umwenden kann, eine giftige Schlange ans sich zu¬
kommen. Diese tödtet thu sofort und begibt sich in die Grotte. Das Gift
schwellt den Leichnam augenblicklich so an, daß er deu Ausgang verstopft; umsonst
bemüht sich der Reisegefährte, ihn zurückzuziehen; er fühlt sich nun in der unan¬
genehmen Lage, in der Grotte elendiglich zu verhungern, bis eine Heerde wilder
Katzen durch den Eingang auf den Leichnam zukommt, ihn bis auf das Gerippe
abfrißt, und es möglich macht, dieses letztere hineinzuziehen, worauf der Nei,e"de


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mit der größten Liederlichkeit hingeworfene Einleitungen mit einander verbunden
werden. Diese Auflösung der Kunst zeigt sich in dein Dialog, der immer leer
und ohne innere Berechtigung ist, auch wo der Dichter sich in das Gebiet des
Tiefsiuuigeu begibt; in den Charakteren, die zwar insofern consequent sind, als
irgend eine abstrakte Geistesrichtung in ihnen persouiftcirt wird, die aber abgesehen
von dieser zu Grunde gelegten Abstraction, kein wirkliches Leben, keinen Inhalt,
kein Fleisch und Blut, ant wenigsten eine Entwickelung haben; in der Architek¬
tonik der Handlung, die weder einem psychologischen Gesetz, noch den ästhetischen
Interessen entspricht; endlich in der Moral, die regelmäßig in einem ldbrüu, 6o-
nachhinkt, und die in der Regel so faustdick ist, daß die ganze Verwilderung
unserer sittlichen Begriffe dazu gehört, sie zu ertrage».

In diesen Fehlern ist aber zugleich enthalten, was Engen Sue berühmt ge¬
macht hat. Es ist seine wahrhaft Celtische Phantasie, das Unerhörte in seinen
Lügen, der Leichtsinn in seinen Sprüngen, was den Leser nicht in jene Ruhe
kommen laßt, deren er zu einem unbefangenen Urtheil bedarf. Ein Erstannen
drängt das andere, und die Neugierde wechselt mit dem Gelächter der Enttäuschung.
Seine Phantasie hat sich weniger in das psychologische Raffinement eingelassen,
welches einer andern Schule, deren bedeutendster Schriftsteller Frvdöric Sonliv ist,
vorbehalten, blieb; er empfindet zu roh und zu abstract, um es darin zu' einer
interessanten Verwickelung zu bringen. Es sind die Wunder der physikalischen
Welt, an deuen seine Phantasie sich weidet, und wenn er den Menschen, heran¬
zieht, so ist es nur als Anatom, als Mediciner, er schildert die Zuckungen des
Fleisches mit einer Virtuosität im Eckelhaften, gegen die Victor Hugo ein blöder
Schüler ist. — Von der Art seiner Erfindungen uur ein Paar Beispiele. — Zu
Anfang des „weiblichen Blaubarts" sehen nur an der Küste der Insel Bourbon
einen Kahn, worin zwei Menschen sitzen, in gerader Richtung ans den Fels zu¬
eilen, der sich steil in das Meer erhebt. Mitten in der Brandung springen die
beiden Männer heraus, und schwimmen durch ein Loch in der Felswand auf einem
Wasserfall in eine unterirdische Grotte hinunter, wo die Meerfluth in einem stillen
See endet. Wie das nach den Gesetzen der Physik möglich ist, darüber macht
sich der Dichter keine Sorgen. Aus dem See steigen sie an's Land und finden
, sich in einer Höhle, wo sie einen verborgenen Ausgang suchen. Dieser ist so
enge, daß mau uur durch kriechen kann. Der Führer kriecht voraus, da fühlt er
in dein Gange, wo er nicht umwenden kann, eine giftige Schlange ans sich zu¬
kommen. Diese tödtet thu sofort und begibt sich in die Grotte. Das Gift
schwellt den Leichnam augenblicklich so an, daß er deu Ausgang verstopft; umsonst
bemüht sich der Reisegefährte, ihn zurückzuziehen; er fühlt sich nun in der unan¬
genehmen Lage, in der Grotte elendiglich zu verhungern, bis eine Heerde wilder
Katzen durch den Eingang auf den Leichnam zukommt, ihn bis auf das Gerippe
abfrißt, und es möglich macht, dieses letztere hineinzuziehen, worauf der Nei,e»de


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_185336/91>, abgerufen am 22.07.2024.