Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

dadurch den Verstand blind gegen alles Wirkliche. Die subtile Unterscheidung
zwischen dem empirischen Jesus und dem idealen Christus ist nicht für den Gläu¬
bigen. Auf die Nachricht von der Februarrevolution verlor Arnold Rüge, eigent¬
lich ein Mann von nüchternem Verstand und weichem Gemüth, alle Besinnung;
er erklärte zu wiederholten Malen: wer nicht daran glaubt, daß jetzt die Idee
der Freiheit sich erfüllt, der glaubt überhaupt an die Freiheit uicht, der ist ein
Verräther, und -- it Kind Kürv pvar aux l,rat.roh. Auf meine einfache Frage,
ob er meine, daß mit der etwaigen Besiegung Flocon's, Lamartine'S, Ledru
Nollin's u. s. w. auch die Idee der Freiheit widerlegt sei, wiederholte er ledig¬
lich seine Phrase, denn der Fanatismus erträgt kein Raisonnement, ob er aus der
alten oder der neuen Religion entspringt.

Der Fanatismus verblendet aber nicht nur den Verstand, er corrumpirt anch
das Herz. Wie das Ideal beschaffen ist, darauf kommt es gar nicht an. Niemand
hat sich sein "Reich Gottes" liebenswürdiger, heiterer, milder, sanfter, unschul¬
diger, englischer, kindlicher, rosenfarbener ausgemalt, als -- Se. Just und Robes-
pierre. Die Naivität, mit der Se. Just das Reich der Tugend schildert, ist
wahrhaft rührend. Diese Kindlichkeit wird aber sehr böse, wenn sie nicht be¬
friedigt wird. Wer sollte an dieses schone Reich nicht glauben, als nur die Gott¬
losen! Weg mit ihnen, und wir haben den Himmel ans Erden. -- Und nun
rasch die Guillotine aufgezogen, und so lauge damit gespielt, bis die Wirklichkeit
wieder Glauben an sich selbst gewinnt, sich empört und den ungeduldigen Idealisten
mit sammt seinem Spielzeuge zerbricht. -- Die Ideale uuserer "Humanisten"
sehen auch sehr rosenfarben ans, aber es fehlte nicht viel, daß sie eine etwas
dunklere, blutrothe Färbung annahmen. -- Ich brauche wohl nicht hinzuzusetzen,
daß eine schlechte Sache auch nicht vor dem Fanatismus schützt. Blätter, wie
"die Fackel", "die Meißel" n. s. w. lechzen ebenso nach Blut im Namen der
Ruhe nud Ordnung, wie die rochrepublikanische Presse im Namen der Freiheit
und Gleichheit. --Ruhe! Freiheit! Ordnung! Gleichheit!--Worte! Worte! --

Ich komme darauf zurück, wovon ich ausgegangen war. Die Philosophie
hat nach meiner Ueberzeugung in diesem Augenblicke keine productive, sondern,
eine kritische Stellung. Stoss wird ihr von allen Seiten im Uebermaß zugeführt,
sie hat nicht Noth, zu dichten und zu trachten, wie Spinoza, Fichte oder Schelling.
Aber der Stoff ist chaotisch, dunkel, ohne Zusammenhang; die Philosophie hat
die Aufgabe, ihm durch Scheidung eine Gestalt zu geben. Sociale und politische
Systeme schaukeln sich in unabsehbarer Zahl aus der Fluth, die der Vollmond
hervorruft, bunt, glänzend und romantisch. Noch ist es nicht Zeit für die Philo¬
sophie, sich dem angenehmen Spiel dieser Romantik zu überlassen, sich zu be-
trinken an der Fluth des Geistes. Sie muß sich wach und nüchtern erhallen,
wenn sie nicht ihren Pfad verlieren soll.

Wach und nüchtern dem Christenthum gegenüber, wie vor jeder andern sihlo-


dadurch den Verstand blind gegen alles Wirkliche. Die subtile Unterscheidung
zwischen dem empirischen Jesus und dem idealen Christus ist nicht für den Gläu¬
bigen. Auf die Nachricht von der Februarrevolution verlor Arnold Rüge, eigent¬
lich ein Mann von nüchternem Verstand und weichem Gemüth, alle Besinnung;
er erklärte zu wiederholten Malen: wer nicht daran glaubt, daß jetzt die Idee
der Freiheit sich erfüllt, der glaubt überhaupt an die Freiheit uicht, der ist ein
Verräther, und — it Kind Kürv pvar aux l,rat.roh. Auf meine einfache Frage,
ob er meine, daß mit der etwaigen Besiegung Flocon's, Lamartine'S, Ledru
Nollin's u. s. w. auch die Idee der Freiheit widerlegt sei, wiederholte er ledig¬
lich seine Phrase, denn der Fanatismus erträgt kein Raisonnement, ob er aus der
alten oder der neuen Religion entspringt.

Der Fanatismus verblendet aber nicht nur den Verstand, er corrumpirt anch
das Herz. Wie das Ideal beschaffen ist, darauf kommt es gar nicht an. Niemand
hat sich sein „Reich Gottes" liebenswürdiger, heiterer, milder, sanfter, unschul¬
diger, englischer, kindlicher, rosenfarbener ausgemalt, als — Se. Just und Robes-
pierre. Die Naivität, mit der Se. Just das Reich der Tugend schildert, ist
wahrhaft rührend. Diese Kindlichkeit wird aber sehr böse, wenn sie nicht be¬
friedigt wird. Wer sollte an dieses schone Reich nicht glauben, als nur die Gott¬
losen! Weg mit ihnen, und wir haben den Himmel ans Erden. — Und nun
rasch die Guillotine aufgezogen, und so lauge damit gespielt, bis die Wirklichkeit
wieder Glauben an sich selbst gewinnt, sich empört und den ungeduldigen Idealisten
mit sammt seinem Spielzeuge zerbricht. — Die Ideale uuserer „Humanisten"
sehen auch sehr rosenfarben ans, aber es fehlte nicht viel, daß sie eine etwas
dunklere, blutrothe Färbung annahmen. — Ich brauche wohl nicht hinzuzusetzen,
daß eine schlechte Sache auch nicht vor dem Fanatismus schützt. Blätter, wie
„die Fackel", „die Meißel" n. s. w. lechzen ebenso nach Blut im Namen der
Ruhe nud Ordnung, wie die rochrepublikanische Presse im Namen der Freiheit
und Gleichheit. —Ruhe! Freiheit! Ordnung! Gleichheit!--Worte! Worte! —

Ich komme darauf zurück, wovon ich ausgegangen war. Die Philosophie
hat nach meiner Ueberzeugung in diesem Augenblicke keine productive, sondern,
eine kritische Stellung. Stoss wird ihr von allen Seiten im Uebermaß zugeführt,
sie hat nicht Noth, zu dichten und zu trachten, wie Spinoza, Fichte oder Schelling.
Aber der Stoff ist chaotisch, dunkel, ohne Zusammenhang; die Philosophie hat
die Aufgabe, ihm durch Scheidung eine Gestalt zu geben. Sociale und politische
Systeme schaukeln sich in unabsehbarer Zahl aus der Fluth, die der Vollmond
hervorruft, bunt, glänzend und romantisch. Noch ist es nicht Zeit für die Philo¬
sophie, sich dem angenehmen Spiel dieser Romantik zu überlassen, sich zu be-
trinken an der Fluth des Geistes. Sie muß sich wach und nüchtern erhallen,
wenn sie nicht ihren Pfad verlieren soll.

Wach und nüchtern dem Christenthum gegenüber, wie vor jeder andern sihlo-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0420" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/185757"/>
          <p xml:id="ID_1615" prev="#ID_1614"> dadurch den Verstand blind gegen alles Wirkliche. Die subtile Unterscheidung<lb/>
zwischen dem empirischen Jesus und dem idealen Christus ist nicht für den Gläu¬<lb/>
bigen. Auf die Nachricht von der Februarrevolution verlor Arnold Rüge, eigent¬<lb/>
lich ein Mann von nüchternem Verstand und weichem Gemüth, alle Besinnung;<lb/>
er erklärte zu wiederholten Malen: wer nicht daran glaubt, daß jetzt die Idee<lb/>
der Freiheit sich erfüllt, der glaubt überhaupt an die Freiheit uicht, der ist ein<lb/>
Verräther, und &#x2014; it Kind Kürv pvar aux l,rat.roh. Auf meine einfache Frage,<lb/>
ob er meine, daß mit der etwaigen Besiegung Flocon's, Lamartine'S, Ledru<lb/>
Nollin's u. s. w. auch die Idee der Freiheit widerlegt sei, wiederholte er ledig¬<lb/>
lich seine Phrase, denn der Fanatismus erträgt kein Raisonnement, ob er aus der<lb/>
alten oder der neuen Religion entspringt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1616"> Der Fanatismus verblendet aber nicht nur den Verstand, er corrumpirt anch<lb/>
das Herz. Wie das Ideal beschaffen ist, darauf kommt es gar nicht an. Niemand<lb/>
hat sich sein &#x201E;Reich Gottes" liebenswürdiger, heiterer, milder, sanfter, unschul¬<lb/>
diger, englischer, kindlicher, rosenfarbener ausgemalt, als &#x2014; Se. Just und Robes-<lb/>
pierre. Die Naivität, mit der Se. Just das Reich der Tugend schildert, ist<lb/>
wahrhaft rührend. Diese Kindlichkeit wird aber sehr böse, wenn sie nicht be¬<lb/>
friedigt wird. Wer sollte an dieses schone Reich nicht glauben, als nur die Gott¬<lb/>
losen! Weg mit ihnen, und wir haben den Himmel ans Erden. &#x2014; Und nun<lb/>
rasch die Guillotine aufgezogen, und so lauge damit gespielt, bis die Wirklichkeit<lb/>
wieder Glauben an sich selbst gewinnt, sich empört und den ungeduldigen Idealisten<lb/>
mit sammt seinem Spielzeuge zerbricht. &#x2014; Die Ideale uuserer &#x201E;Humanisten"<lb/>
sehen auch sehr rosenfarben ans, aber es fehlte nicht viel, daß sie eine etwas<lb/>
dunklere, blutrothe Färbung annahmen. &#x2014; Ich brauche wohl nicht hinzuzusetzen,<lb/>
daß eine schlechte Sache auch nicht vor dem Fanatismus schützt. Blätter, wie<lb/>
&#x201E;die Fackel", &#x201E;die Meißel" n. s. w. lechzen ebenso nach Blut im Namen der<lb/>
Ruhe nud Ordnung, wie die rochrepublikanische Presse im Namen der Freiheit<lb/>
und Gleichheit. &#x2014;Ruhe! Freiheit! Ordnung! Gleichheit!--Worte! Worte! &#x2014;</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1617"> Ich komme darauf zurück, wovon ich ausgegangen war. Die Philosophie<lb/>
hat nach meiner Ueberzeugung in diesem Augenblicke keine productive, sondern,<lb/>
eine kritische Stellung. Stoss wird ihr von allen Seiten im Uebermaß zugeführt,<lb/>
sie hat nicht Noth, zu dichten und zu trachten, wie Spinoza, Fichte oder Schelling.<lb/>
Aber der Stoff ist chaotisch, dunkel, ohne Zusammenhang; die Philosophie hat<lb/>
die Aufgabe, ihm durch Scheidung eine Gestalt zu geben. Sociale und politische<lb/>
Systeme schaukeln sich in unabsehbarer Zahl aus der Fluth, die der Vollmond<lb/>
hervorruft, bunt, glänzend und romantisch. Noch ist es nicht Zeit für die Philo¬<lb/>
sophie, sich dem angenehmen Spiel dieser Romantik zu überlassen, sich zu be-<lb/>
trinken an der Fluth des Geistes. Sie muß sich wach und nüchtern erhallen,<lb/>
wenn sie nicht ihren Pfad verlieren soll.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1618" next="#ID_1619"> Wach und nüchtern dem Christenthum gegenüber, wie vor jeder andern sihlo-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0420] dadurch den Verstand blind gegen alles Wirkliche. Die subtile Unterscheidung zwischen dem empirischen Jesus und dem idealen Christus ist nicht für den Gläu¬ bigen. Auf die Nachricht von der Februarrevolution verlor Arnold Rüge, eigent¬ lich ein Mann von nüchternem Verstand und weichem Gemüth, alle Besinnung; er erklärte zu wiederholten Malen: wer nicht daran glaubt, daß jetzt die Idee der Freiheit sich erfüllt, der glaubt überhaupt an die Freiheit uicht, der ist ein Verräther, und — it Kind Kürv pvar aux l,rat.roh. Auf meine einfache Frage, ob er meine, daß mit der etwaigen Besiegung Flocon's, Lamartine'S, Ledru Nollin's u. s. w. auch die Idee der Freiheit widerlegt sei, wiederholte er ledig¬ lich seine Phrase, denn der Fanatismus erträgt kein Raisonnement, ob er aus der alten oder der neuen Religion entspringt. Der Fanatismus verblendet aber nicht nur den Verstand, er corrumpirt anch das Herz. Wie das Ideal beschaffen ist, darauf kommt es gar nicht an. Niemand hat sich sein „Reich Gottes" liebenswürdiger, heiterer, milder, sanfter, unschul¬ diger, englischer, kindlicher, rosenfarbener ausgemalt, als — Se. Just und Robes- pierre. Die Naivität, mit der Se. Just das Reich der Tugend schildert, ist wahrhaft rührend. Diese Kindlichkeit wird aber sehr böse, wenn sie nicht be¬ friedigt wird. Wer sollte an dieses schone Reich nicht glauben, als nur die Gott¬ losen! Weg mit ihnen, und wir haben den Himmel ans Erden. — Und nun rasch die Guillotine aufgezogen, und so lauge damit gespielt, bis die Wirklichkeit wieder Glauben an sich selbst gewinnt, sich empört und den ungeduldigen Idealisten mit sammt seinem Spielzeuge zerbricht. — Die Ideale uuserer „Humanisten" sehen auch sehr rosenfarben ans, aber es fehlte nicht viel, daß sie eine etwas dunklere, blutrothe Färbung annahmen. — Ich brauche wohl nicht hinzuzusetzen, daß eine schlechte Sache auch nicht vor dem Fanatismus schützt. Blätter, wie „die Fackel", „die Meißel" n. s. w. lechzen ebenso nach Blut im Namen der Ruhe nud Ordnung, wie die rochrepublikanische Presse im Namen der Freiheit und Gleichheit. —Ruhe! Freiheit! Ordnung! Gleichheit!--Worte! Worte! — Ich komme darauf zurück, wovon ich ausgegangen war. Die Philosophie hat nach meiner Ueberzeugung in diesem Augenblicke keine productive, sondern, eine kritische Stellung. Stoss wird ihr von allen Seiten im Uebermaß zugeführt, sie hat nicht Noth, zu dichten und zu trachten, wie Spinoza, Fichte oder Schelling. Aber der Stoff ist chaotisch, dunkel, ohne Zusammenhang; die Philosophie hat die Aufgabe, ihm durch Scheidung eine Gestalt zu geben. Sociale und politische Systeme schaukeln sich in unabsehbarer Zahl aus der Fluth, die der Vollmond hervorruft, bunt, glänzend und romantisch. Noch ist es nicht Zeit für die Philo¬ sophie, sich dem angenehmen Spiel dieser Romantik zu überlassen, sich zu be- trinken an der Fluth des Geistes. Sie muß sich wach und nüchtern erhallen, wenn sie nicht ihren Pfad verlieren soll. Wach und nüchtern dem Christenthum gegenüber, wie vor jeder andern sihlo-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_185336
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_185336/420
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_185336/420>, abgerufen am 22.07.2024.