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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. II. Band.

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vorkommt. Er hat nun bei Menschen gleichfalls beobachtet, und hat gefunden,
daß diejenigen, die einen solchen Höcker haben, gleichfalls die Kinder lieben --
bei welcher Erfahrung beiläufig der Höcker das Prius gewesen ist, denn daS
Vorhandensein des Höckers ist leichter zu constatiren, als der Grad der Liebe zu
Kindern (übrigens eine schöne Kategorie!). Sollte also Gatt-- nicht bei dreien,
vieren, zwanzig n. s. w>, sondern bei Hunderten von Millionen wirtlich erfahren
haben, daß überall, wo jeuer Höcker vortonnnt, Liebe zu den Kindern stattfindet,
wo er nicht vorkommt, nicht -- es ist aber unmöglich, so ausgedehnte Beobach¬
tungen anzustellen -- so wäre auch das vorläufig immer noch nichts weiter, als eine
Enriosität; von einem Gesetz wäre erst dann die Rede, wenn mau physiologisch
den Zusammenhang dieses Höckers mit der Kindesliebe -- ich weiß freilich nicht
wie -- nachgewiesen hat. Die Physiologie thut das bekanntlich bei all ihren
Gesetzen.

Um die geistige Capacität eines Menschen vollständig zu übersehen, in"ß man
1) Gelegenheit habe", ihn in allen Lagen deö Lebens zu beobachten, 2) ihm
geistig überlegen sein. Der Phrenolog dagegen begnügt sich damit, den Schädel
zu befühlen, auf seinein Register die 20 bis 30 geistigen Functionen, aus denen
seine "Erfahrung'' den Geist zusammengesetzt hat, mit den gefundenen Höckern
zu vergleichen, und nnn zu erklären: N. N. hat 3 Procent Kindesliebe, ^ Pro¬
cent Ehrerbietung, 2 Procent Gedächtniß, Procent Formensinn u. s. w.
Ist der Befühlte damit zufrieden, was meist der Fall sein wird, wenn man von
allen möglichen schönen Dingen eine tüchtige Masse Procente bei ihm entdeckt, so
ist eS gilt, rcmonstrirt er, so sagt man ihm, du hast allerdings die und die Eigen¬
schaft, sie ist nur nicht zum Vorschein gekommen. Eine zuversichtliche Behauptung --
und nichts ist so stark im Positiven, als die Bornirtheit -- imponirt stets.

Weit entfernt also, im Stadium einer gewissen Vollendung zu sein, ist zu
einer Wissenschaft der Phrenologie "och nicht einmal der Anfang gemacht, denn
der Weg, den man einschlägt, ist el" sinnloser.

Ich will noch eine Bemerkung hinzufügen. Man hat die Phrenologie häufig
mit der Physiognomik verglichen. Sehr mit Unrecht. Es war zwar eine Thorheit
von Lavater, aus einer Reihe zerstreuter Betrachtungen, für die man kein Gesetz
auffinden kann, eben weil sie individueller Natur siud, eine Wissenschaft machen zu
wollen. Aber die Physiognomik beruht auf wirklichen Thatsachen. Die Leidenschaften
eines Menschen prägen sich, so lange er noch nicht Meister derselben geworden ist,
wirklich in seinem Geficht ans, und die häufige Wiederkehr eines bestimmten Aus¬
drucks gibt den Zügen ein bleibendes Gepräge, ans welchem der Kenner wenig¬
stens ans einige Seiten des Charakters schließen kann, obgleich anch da ein
Irrthum möglich ist. Aber hier haben wir doch eine Realität, wir sehen un¬
mittelbar den Haß, die Wuth, die Entschlossenheit, den Stolz u. s. w.; die sv-
geuemuten Beobachtungen der Phrenologie beruhen auf reinen Flausen.




vorkommt. Er hat nun bei Menschen gleichfalls beobachtet, und hat gefunden,
daß diejenigen, die einen solchen Höcker haben, gleichfalls die Kinder lieben —
bei welcher Erfahrung beiläufig der Höcker das Prius gewesen ist, denn daS
Vorhandensein des Höckers ist leichter zu constatiren, als der Grad der Liebe zu
Kindern (übrigens eine schöne Kategorie!). Sollte also Gatt— nicht bei dreien,
vieren, zwanzig n. s. w>, sondern bei Hunderten von Millionen wirtlich erfahren
haben, daß überall, wo jeuer Höcker vortonnnt, Liebe zu den Kindern stattfindet,
wo er nicht vorkommt, nicht — es ist aber unmöglich, so ausgedehnte Beobach¬
tungen anzustellen — so wäre auch das vorläufig immer noch nichts weiter, als eine
Enriosität; von einem Gesetz wäre erst dann die Rede, wenn mau physiologisch
den Zusammenhang dieses Höckers mit der Kindesliebe — ich weiß freilich nicht
wie — nachgewiesen hat. Die Physiologie thut das bekanntlich bei all ihren
Gesetzen.

Um die geistige Capacität eines Menschen vollständig zu übersehen, in»ß man
1) Gelegenheit habe», ihn in allen Lagen deö Lebens zu beobachten, 2) ihm
geistig überlegen sein. Der Phrenolog dagegen begnügt sich damit, den Schädel
zu befühlen, auf seinein Register die 20 bis 30 geistigen Functionen, aus denen
seine „Erfahrung'' den Geist zusammengesetzt hat, mit den gefundenen Höckern
zu vergleichen, und nnn zu erklären: N. N. hat 3 Procent Kindesliebe, ^ Pro¬
cent Ehrerbietung, 2 Procent Gedächtniß, Procent Formensinn u. s. w.
Ist der Befühlte damit zufrieden, was meist der Fall sein wird, wenn man von
allen möglichen schönen Dingen eine tüchtige Masse Procente bei ihm entdeckt, so
ist eS gilt, rcmonstrirt er, so sagt man ihm, du hast allerdings die und die Eigen¬
schaft, sie ist nur nicht zum Vorschein gekommen. Eine zuversichtliche Behauptung —
und nichts ist so stark im Positiven, als die Bornirtheit — imponirt stets.

Weit entfernt also, im Stadium einer gewissen Vollendung zu sein, ist zu
einer Wissenschaft der Phrenologie »och nicht einmal der Anfang gemacht, denn
der Weg, den man einschlägt, ist el» sinnloser.

Ich will noch eine Bemerkung hinzufügen. Man hat die Phrenologie häufig
mit der Physiognomik verglichen. Sehr mit Unrecht. Es war zwar eine Thorheit
von Lavater, aus einer Reihe zerstreuter Betrachtungen, für die man kein Gesetz
auffinden kann, eben weil sie individueller Natur siud, eine Wissenschaft machen zu
wollen. Aber die Physiognomik beruht auf wirklichen Thatsachen. Die Leidenschaften
eines Menschen prägen sich, so lange er noch nicht Meister derselben geworden ist,
wirklich in seinem Geficht ans, und die häufige Wiederkehr eines bestimmten Aus¬
drucks gibt den Zügen ein bleibendes Gepräge, ans welchem der Kenner wenig¬
stens ans einige Seiten des Charakters schließen kann, obgleich anch da ein
Irrthum möglich ist. Aber hier haben wir doch eine Realität, wir sehen un¬
mittelbar den Haß, die Wuth, die Entschlossenheit, den Stolz u. s. w.; die sv-
geuemuten Beobachtungen der Phrenologie beruhen auf reinen Flausen.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_185336/389>, abgerufen am 01.10.2024.