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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. II. Band.

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Ausdruck finden in einer verschiedenen Beschaffenheit deS Gehirns. -- So weit
läßt sich nichts dagegen einwenden.

Nun wird aber das Princip durch zwei Hypothesen erweitert. 1) Eine jede
geistige Kraft nimmt eine verschiedene Localität des Gehirns ein, z. B. Gedächtniß,
Kindesliebe, Formensinn, Zerstörungstrieb, Ehrerbietung u. s. w. 2) die Stärke
dieser einzelnen Kräfte ist nach der Ausdehnung jener Localität abzumessen.

Zwei vollkommen willkürliche Hypothesen, mit denen aber die gesammte
Phrenologie zusammenfällt. -- Auf. einen dritten Umstand, der vorzugsweise von
den Anatomen urgirt wird, und der sich mehr gegen die Methode der Beobachtung,
als gegeir das Princip richtet, daß nämlich die äußere Form des Schädels keines¬
wegs in allen Punkten der Form des Gehirns entspricht, will ich hier weniger
Gewicht legen.

Die erste jener beiden Hypothesen zerlegt ans die brutalste Weise von der
Welt das geistige Leben des Menschen in einzelne Abstractionen. Die obenerwähnte
Nebeneinanderstellung gibt schon ein Bild für die Logik jeuer Leute, die sich vor¬
züglich mit jener im vollsten Sinne deS Worts handgreiflichen Wissenschaft
beschäftigen, mit Leuten von der Bildung des Hrn. v. Struve, zugleich Chef der
Phrenologie und deS deutschen Republikanismus. Die Eintheilung des Geistes
ist nicht nach irgend einem Begriff erfolgt, sondern nach der sogenannten Erfahrung.
Wir wollen diese " Erfahrung " verfolgen.

Bekanntlich hat keine Dummheit, die irgend zu einer Zeit Geltung gefunden
hat, verfehlt, sich auf die Erfahrung zu berufen. Wenn ich Freitags abreise,
passirt mir Unglück. Erfahrung! Wenn nur ein Hase über den Weg länft,
widerfährt mir ein Leid. Erfahrung! Kerner'S Geisterseherei, die Astrologie,
die sympathetischen Kuren u. s. w. beruhen auf Erfahrung.

Was wird nämlich erfahren7 Nicht ein Gesell, das sich in jedem Augenblick
erproben läßt, nicht eine unmittelbare Thatsache, wie z. B. daß die Sonne leuchtet
und wärmt, sonder" die Wiederkehr einer gewissen Kombination zweier, an sich
gar nicht verwandter Erscheinungen, von denen man aus dieser Wiederkehr schließt,
daß sie in einem CansalneruS stehe". Worauf dergleichen Erfahrungssätze sich
stützen, ist also nicht eine Erfahrung, sondern el" gedankenloser Schluß.

We"u ich sage, daß mich im Winter friert, daß der Magnet das Eise" an¬
zieht, daß man ohne Angen nicht sehe" kann n. s. w., so sind das Erfahrungs-
sätze, gegen welche leine Philosophie etwas einwende" ka"n. Wenn ich aber sage,
dieser oder jener Höcker deö Schädels ist der Sitz des Gedächtnisses, so ist das
kein Erfahrungssatz -- denn wie will ick> daS beobachten? -- sondern ein gedanken¬
loser Schluß, den ich ans dem -- wirkliche" oder eingebildeten -- Zusammen¬
treffen eines solchen Höckers n"d eines starke" Gedächtnisses ziehe.

G all erzählt, wie er zuerst bei Affen, die bekanntlich eine große Kindesliebe
haben, beobachtet hat, daß an einer Stelle des Hinterkopfs eine Protuberanz


Ausdruck finden in einer verschiedenen Beschaffenheit deS Gehirns. — So weit
läßt sich nichts dagegen einwenden.

Nun wird aber das Princip durch zwei Hypothesen erweitert. 1) Eine jede
geistige Kraft nimmt eine verschiedene Localität des Gehirns ein, z. B. Gedächtniß,
Kindesliebe, Formensinn, Zerstörungstrieb, Ehrerbietung u. s. w. 2) die Stärke
dieser einzelnen Kräfte ist nach der Ausdehnung jener Localität abzumessen.

Zwei vollkommen willkürliche Hypothesen, mit denen aber die gesammte
Phrenologie zusammenfällt. — Auf. einen dritten Umstand, der vorzugsweise von
den Anatomen urgirt wird, und der sich mehr gegen die Methode der Beobachtung,
als gegeir das Princip richtet, daß nämlich die äußere Form des Schädels keines¬
wegs in allen Punkten der Form des Gehirns entspricht, will ich hier weniger
Gewicht legen.

Die erste jener beiden Hypothesen zerlegt ans die brutalste Weise von der
Welt das geistige Leben des Menschen in einzelne Abstractionen. Die obenerwähnte
Nebeneinanderstellung gibt schon ein Bild für die Logik jeuer Leute, die sich vor¬
züglich mit jener im vollsten Sinne deS Worts handgreiflichen Wissenschaft
beschäftigen, mit Leuten von der Bildung des Hrn. v. Struve, zugleich Chef der
Phrenologie und deS deutschen Republikanismus. Die Eintheilung des Geistes
ist nicht nach irgend einem Begriff erfolgt, sondern nach der sogenannten Erfahrung.
Wir wollen diese „ Erfahrung " verfolgen.

Bekanntlich hat keine Dummheit, die irgend zu einer Zeit Geltung gefunden
hat, verfehlt, sich auf die Erfahrung zu berufen. Wenn ich Freitags abreise,
passirt mir Unglück. Erfahrung! Wenn nur ein Hase über den Weg länft,
widerfährt mir ein Leid. Erfahrung! Kerner'S Geisterseherei, die Astrologie,
die sympathetischen Kuren u. s. w. beruhen auf Erfahrung.

Was wird nämlich erfahren7 Nicht ein Gesell, das sich in jedem Augenblick
erproben läßt, nicht eine unmittelbare Thatsache, wie z. B. daß die Sonne leuchtet
und wärmt, sonder» die Wiederkehr einer gewissen Kombination zweier, an sich
gar nicht verwandter Erscheinungen, von denen man aus dieser Wiederkehr schließt,
daß sie in einem CansalneruS stehe». Worauf dergleichen Erfahrungssätze sich
stützen, ist also nicht eine Erfahrung, sondern el» gedankenloser Schluß.

We»u ich sage, daß mich im Winter friert, daß der Magnet das Eise» an¬
zieht, daß man ohne Angen nicht sehe» kann n. s. w., so sind das Erfahrungs-
sätze, gegen welche leine Philosophie etwas einwende» ka»n. Wenn ich aber sage,
dieser oder jener Höcker deö Schädels ist der Sitz des Gedächtnisses, so ist das
kein Erfahrungssatz — denn wie will ick> daS beobachten? — sondern ein gedanken¬
loser Schluß, den ich ans dem — wirkliche» oder eingebildeten — Zusammen¬
treffen eines solchen Höckers n»d eines starke» Gedächtnisses ziehe.

G all erzählt, wie er zuerst bei Affen, die bekanntlich eine große Kindesliebe
haben, beobachtet hat, daß an einer Stelle des Hinterkopfs eine Protuberanz


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_185336/388>, abgerufen am 01.07.2024.