Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

man fühlt. Kein Europäer ist so fremd i" Frankreich als ein Franzose. Das
erklärt ihren Mangel an politischer Erfahrung, ihre Gewohnheit, mit dem Feuer
zu spielen, Agitationen anzufangen, ohne die Natur der Bevölkerung zu kennen,
die mau gegen die Bastille treibt. Darum ist die französische Politik immer ab-
stract, nie real. Es hilft nichts, wenn man der officiellen Welt sagt: unter euern
Füßen, in unterirdischen Wölbungen, brütet das Elend, der Neid und der Haß;
die Barbarei, die sich gegen eure glänzende Bildung empört. Die officielle Welt
bleibt taub. Sie kennt noch heute nicht die geheimnisvolle Macht, die sie
bedroht.

Zwischen beiden schwanken die Mittelklassen, ohne Richtung, ohne Disciplin,
ohne Organisation. Blind von den Ereignissen getrieben, zucken sie heute die
Achseln über die wüsten Predigten des Socialismus, morgen verwundern sie sich,
übermorgen klatschen sie ihnen Beifall, endlich schlagen sie sich mit ihnen auf der
Strasse. In die Mitte der beiden Welten gestellt, mißtrauen, sie der einen wie
der andern, ohne eine von ihnen zu kenne".

In einem Lande, wo trotz aller Gesetze, Ideen und Systeme, ein so voll¬
ständiger Mangel gegenseitiger Beziehungen obwaltet, darf mau sich darüber ver¬
wundern., daß die Revolution gleichsam Tagesordnung geworden ist? Ohne sich
zu kennen, ohne den Wunsch, sich kennen zu lernen, fordern sich die verschiednen
Classen ans der Straße heraus und machen dort Bekanntschaft, indem sie sich um¬
bringen. -- In der gesellschaftlichen Hierarchie herrscht der nämliche Haß gegen
die Wirklichkeit, der das Wesen des französischen Geistes ausmacht. Jeder Ge¬
danke wird angewendet, ein Gegengift gegen die Wirklichkeit zu finden. Was ist
der Socialismus anders, als das Suchen, nach einem Universalmittel, welches die
Menschen in Stand setzen soll, sich der Wirklichkeit zu entschlagen? Sie begreifen
nicht, daß der einzige Zweck deS Lebens darin besteht, durch unablässige indivi¬
duelle Anstrengung die Breschen auszufüllen, welche die Zeit, die Leidenschaften
oder der Zufall in die Mauer der sittlichen Ordnung eingerissen haben; daß es
hier keine Mission gibt, als die individuelle, die freilich hart und peinlich ist, und
in deren Erfüllung der Mensch auf keinen Beistand zu rechnen hat. Es wäre ja so
schön, dnrch irgend welche Formel die Notwendigkeit dieses Kampfes zu ersetzen,
durch ein allgemeines Gesetz die individuellen Anstrengungen unnöthig zu machen.
In der Vorstellung der modernen Franzosen soll sich die Gesellschaft nach einem
festen Gesetz wie die Planeten um ihre Sonne drehen. Wenn es nicht so ist,
so taugt die Gesellschaft nichts, und man muß sie umformen.

Diese Lust, sich der Wirklichkeit zu entziehen, macht auch den praktischen
Socialismus aus. Die Franzosen reden nur darum soviel von. der socialen
Ungerechtigkeit, von den Arbeitern und ihren Leide", um sich der Pflicht zu über¬
heben, thätig einzugreifen. Sie zahlen ihre Schuld in. Worten. Bei ihnen gibt
es keinen Lord Ashley, keine Elisabeth Fry, keinen John Howard, die mit den


-57*

man fühlt. Kein Europäer ist so fremd i» Frankreich als ein Franzose. Das
erklärt ihren Mangel an politischer Erfahrung, ihre Gewohnheit, mit dem Feuer
zu spielen, Agitationen anzufangen, ohne die Natur der Bevölkerung zu kennen,
die mau gegen die Bastille treibt. Darum ist die französische Politik immer ab-
stract, nie real. Es hilft nichts, wenn man der officiellen Welt sagt: unter euern
Füßen, in unterirdischen Wölbungen, brütet das Elend, der Neid und der Haß;
die Barbarei, die sich gegen eure glänzende Bildung empört. Die officielle Welt
bleibt taub. Sie kennt noch heute nicht die geheimnisvolle Macht, die sie
bedroht.

Zwischen beiden schwanken die Mittelklassen, ohne Richtung, ohne Disciplin,
ohne Organisation. Blind von den Ereignissen getrieben, zucken sie heute die
Achseln über die wüsten Predigten des Socialismus, morgen verwundern sie sich,
übermorgen klatschen sie ihnen Beifall, endlich schlagen sie sich mit ihnen auf der
Strasse. In die Mitte der beiden Welten gestellt, mißtrauen, sie der einen wie
der andern, ohne eine von ihnen zu kenne».

In einem Lande, wo trotz aller Gesetze, Ideen und Systeme, ein so voll¬
ständiger Mangel gegenseitiger Beziehungen obwaltet, darf mau sich darüber ver¬
wundern., daß die Revolution gleichsam Tagesordnung geworden ist? Ohne sich
zu kennen, ohne den Wunsch, sich kennen zu lernen, fordern sich die verschiednen
Classen ans der Straße heraus und machen dort Bekanntschaft, indem sie sich um¬
bringen. — In der gesellschaftlichen Hierarchie herrscht der nämliche Haß gegen
die Wirklichkeit, der das Wesen des französischen Geistes ausmacht. Jeder Ge¬
danke wird angewendet, ein Gegengift gegen die Wirklichkeit zu finden. Was ist
der Socialismus anders, als das Suchen, nach einem Universalmittel, welches die
Menschen in Stand setzen soll, sich der Wirklichkeit zu entschlagen? Sie begreifen
nicht, daß der einzige Zweck deS Lebens darin besteht, durch unablässige indivi¬
duelle Anstrengung die Breschen auszufüllen, welche die Zeit, die Leidenschaften
oder der Zufall in die Mauer der sittlichen Ordnung eingerissen haben; daß es
hier keine Mission gibt, als die individuelle, die freilich hart und peinlich ist, und
in deren Erfüllung der Mensch auf keinen Beistand zu rechnen hat. Es wäre ja so
schön, dnrch irgend welche Formel die Notwendigkeit dieses Kampfes zu ersetzen,
durch ein allgemeines Gesetz die individuellen Anstrengungen unnöthig zu machen.
In der Vorstellung der modernen Franzosen soll sich die Gesellschaft nach einem
festen Gesetz wie die Planeten um ihre Sonne drehen. Wenn es nicht so ist,
so taugt die Gesellschaft nichts, und man muß sie umformen.

Diese Lust, sich der Wirklichkeit zu entziehen, macht auch den praktischen
Socialismus aus. Die Franzosen reden nur darum soviel von. der socialen
Ungerechtigkeit, von den Arbeitern und ihren Leide», um sich der Pflicht zu über¬
heben, thätig einzugreifen. Sie zahlen ihre Schuld in. Worten. Bei ihnen gibt
es keinen Lord Ashley, keine Elisabeth Fry, keinen John Howard, die mit den


-57*
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0379" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/185716"/>
          <p xml:id="ID_1442" prev="#ID_1441"> man fühlt. Kein Europäer ist so fremd i» Frankreich als ein Franzose. Das<lb/>
erklärt ihren Mangel an politischer Erfahrung, ihre Gewohnheit, mit dem Feuer<lb/>
zu spielen, Agitationen anzufangen, ohne die Natur der Bevölkerung zu kennen,<lb/>
die mau gegen die Bastille treibt. Darum ist die französische Politik immer ab-<lb/>
stract, nie real. Es hilft nichts, wenn man der officiellen Welt sagt: unter euern<lb/>
Füßen, in unterirdischen Wölbungen, brütet das Elend, der Neid und der Haß;<lb/>
die Barbarei, die sich gegen eure glänzende Bildung empört. Die officielle Welt<lb/>
bleibt taub. Sie kennt noch heute nicht die geheimnisvolle Macht, die sie<lb/>
bedroht.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1443"> Zwischen beiden schwanken die Mittelklassen, ohne Richtung, ohne Disciplin,<lb/>
ohne Organisation. Blind von den Ereignissen getrieben, zucken sie heute die<lb/>
Achseln über die wüsten Predigten des Socialismus, morgen verwundern sie sich,<lb/>
übermorgen klatschen sie ihnen Beifall, endlich schlagen sie sich mit ihnen auf der<lb/>
Strasse. In die Mitte der beiden Welten gestellt, mißtrauen, sie der einen wie<lb/>
der andern, ohne eine von ihnen zu kenne».</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1444"> In einem Lande, wo trotz aller Gesetze, Ideen und Systeme, ein so voll¬<lb/>
ständiger Mangel gegenseitiger Beziehungen obwaltet, darf mau sich darüber ver¬<lb/>
wundern., daß die Revolution gleichsam Tagesordnung geworden ist? Ohne sich<lb/>
zu kennen, ohne den Wunsch, sich kennen zu lernen, fordern sich die verschiednen<lb/>
Classen ans der Straße heraus und machen dort Bekanntschaft, indem sie sich um¬<lb/>
bringen. &#x2014; In der gesellschaftlichen Hierarchie herrscht der nämliche Haß gegen<lb/>
die Wirklichkeit, der das Wesen des französischen Geistes ausmacht. Jeder Ge¬<lb/>
danke wird angewendet, ein Gegengift gegen die Wirklichkeit zu finden. Was ist<lb/>
der Socialismus anders, als das Suchen, nach einem Universalmittel, welches die<lb/>
Menschen in Stand setzen soll, sich der Wirklichkeit zu entschlagen? Sie begreifen<lb/>
nicht, daß der einzige Zweck deS Lebens darin besteht, durch unablässige indivi¬<lb/>
duelle Anstrengung die Breschen auszufüllen, welche die Zeit, die Leidenschaften<lb/>
oder der Zufall in die Mauer der sittlichen Ordnung eingerissen haben; daß es<lb/>
hier keine Mission gibt, als die individuelle, die freilich hart und peinlich ist, und<lb/>
in deren Erfüllung der Mensch auf keinen Beistand zu rechnen hat. Es wäre ja so<lb/>
schön, dnrch irgend welche Formel die Notwendigkeit dieses Kampfes zu ersetzen,<lb/>
durch ein allgemeines Gesetz die individuellen Anstrengungen unnöthig zu machen.<lb/>
In der Vorstellung der modernen Franzosen soll sich die Gesellschaft nach einem<lb/>
festen Gesetz wie die Planeten um ihre Sonne drehen. Wenn es nicht so ist,<lb/>
so taugt die Gesellschaft nichts, und man muß sie umformen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1445" next="#ID_1446"> Diese Lust, sich der Wirklichkeit zu entziehen, macht auch den praktischen<lb/>
Socialismus aus. Die Franzosen reden nur darum soviel von. der socialen<lb/>
Ungerechtigkeit, von den Arbeitern und ihren Leide», um sich der Pflicht zu über¬<lb/>
heben, thätig einzugreifen. Sie zahlen ihre Schuld in. Worten. Bei ihnen gibt<lb/>
es keinen Lord Ashley, keine Elisabeth Fry, keinen John Howard, die mit den</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> -57*</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0379] man fühlt. Kein Europäer ist so fremd i» Frankreich als ein Franzose. Das erklärt ihren Mangel an politischer Erfahrung, ihre Gewohnheit, mit dem Feuer zu spielen, Agitationen anzufangen, ohne die Natur der Bevölkerung zu kennen, die mau gegen die Bastille treibt. Darum ist die französische Politik immer ab- stract, nie real. Es hilft nichts, wenn man der officiellen Welt sagt: unter euern Füßen, in unterirdischen Wölbungen, brütet das Elend, der Neid und der Haß; die Barbarei, die sich gegen eure glänzende Bildung empört. Die officielle Welt bleibt taub. Sie kennt noch heute nicht die geheimnisvolle Macht, die sie bedroht. Zwischen beiden schwanken die Mittelklassen, ohne Richtung, ohne Disciplin, ohne Organisation. Blind von den Ereignissen getrieben, zucken sie heute die Achseln über die wüsten Predigten des Socialismus, morgen verwundern sie sich, übermorgen klatschen sie ihnen Beifall, endlich schlagen sie sich mit ihnen auf der Strasse. In die Mitte der beiden Welten gestellt, mißtrauen, sie der einen wie der andern, ohne eine von ihnen zu kenne». In einem Lande, wo trotz aller Gesetze, Ideen und Systeme, ein so voll¬ ständiger Mangel gegenseitiger Beziehungen obwaltet, darf mau sich darüber ver¬ wundern., daß die Revolution gleichsam Tagesordnung geworden ist? Ohne sich zu kennen, ohne den Wunsch, sich kennen zu lernen, fordern sich die verschiednen Classen ans der Straße heraus und machen dort Bekanntschaft, indem sie sich um¬ bringen. — In der gesellschaftlichen Hierarchie herrscht der nämliche Haß gegen die Wirklichkeit, der das Wesen des französischen Geistes ausmacht. Jeder Ge¬ danke wird angewendet, ein Gegengift gegen die Wirklichkeit zu finden. Was ist der Socialismus anders, als das Suchen, nach einem Universalmittel, welches die Menschen in Stand setzen soll, sich der Wirklichkeit zu entschlagen? Sie begreifen nicht, daß der einzige Zweck deS Lebens darin besteht, durch unablässige indivi¬ duelle Anstrengung die Breschen auszufüllen, welche die Zeit, die Leidenschaften oder der Zufall in die Mauer der sittlichen Ordnung eingerissen haben; daß es hier keine Mission gibt, als die individuelle, die freilich hart und peinlich ist, und in deren Erfüllung der Mensch auf keinen Beistand zu rechnen hat. Es wäre ja so schön, dnrch irgend welche Formel die Notwendigkeit dieses Kampfes zu ersetzen, durch ein allgemeines Gesetz die individuellen Anstrengungen unnöthig zu machen. In der Vorstellung der modernen Franzosen soll sich die Gesellschaft nach einem festen Gesetz wie die Planeten um ihre Sonne drehen. Wenn es nicht so ist, so taugt die Gesellschaft nichts, und man muß sie umformen. Diese Lust, sich der Wirklichkeit zu entziehen, macht auch den praktischen Socialismus aus. Die Franzosen reden nur darum soviel von. der socialen Ungerechtigkeit, von den Arbeitern und ihren Leide», um sich der Pflicht zu über¬ heben, thätig einzugreifen. Sie zahlen ihre Schuld in. Worten. Bei ihnen gibt es keinen Lord Ashley, keine Elisabeth Fry, keinen John Howard, die mit den -57*

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_185336
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_185336/379
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_185336/379>, abgerufen am 01.07.2024.