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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. II. Band.

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Wirthshauses. Ueberall Ele"d und Armuth, die mit unbegrenzter Eitelkeit ver¬
bunden ist, und sich nnr halb versteckt. Diese halbe Enthüllung läßt selbst das
Mitleid nicht aufkommen. Auch wir haben unsere Schmerzen, aber unser Stolz
hebt uns darüber weg; wir suchen keinen heuchlerischen Schleier, wir verbergen sie
entweder ganz, oder nur zeigen sie nackt.

Die sogenannte" Werate" machen einen traurigen (Eindruck. Eine verküm¬
merte Intelligenz, ein Gehirn, das müde ist, noch ehe es gedacht hat, Metier an
Stelle des Talents. Auch die f-me Beobachtung, die sich bei Vielen findet, hat
eine verkehrte Richtung. Ihre angebliche Originalität ist nichts, als der wieder¬
aufgefrischte Roman des vorigen Jahrhunderts. Sie studiren mit der Amtsmiene
eines Vaelos die ekelhaftesten Laster, sie schildern mit pedantischer Gewissenhaftig¬
keit den unflätigsteu Schmutz; sie sind' geschäftig in der Combination kleiner Nie¬
derträchtigkeiten, erfinderisch im Stacheln der Wollust. In allen ander" Dingen
unwissend, habe" sie die Kunst der Perioden des Vorfalls, die Kunst der Sueto-
nius und Petrouius, der R<^elf de la Bretonne und der Mercier, der de sate
nud der Marat. Diese Kunst, die scho" viele kleine Heliogabeln hervorgebracht
hat, la"" einmal a"es kleine Rerone hervorbringen. -- --

Die Franzosen haben keine" Sir" für die Wirklichkeit. Frankreich ist be¬
ständig das Land der Formel" gewesen, mit einer symmetrisch eingerichteten Ge¬
sellschaft, einer Hierarchie, die nach dem Muster der classischen Tragödie aufgebaut
war, nach der Regel der drei Einheiten, ohne Veränderung, ohne Mannigfaltigkeit
in den Combinationen, ohne Phantasie in der Gesetzgebung, ohne Kühnheit und
Größe i" der Ersiudiuig. Früher lebten in Frankreich die drei Stände jeder in
seiner Sphäre, ohne unmittelbare Beziehung zu einander, ohne gegenseitige Ein-
wirknng. Seit 60 Jahren schmeicheln, sich die Franzosen, das geändert zu haben.
Aber eigentlich bat sich nichts geändert, als die Form der Negierung, und die
Einheit der Sitten ist nirgend als in den Kleidern. Trotz des gleichen Costümö
habe" die verschiedenen Elasseu der französischen Gesellschaft heute noch so wenig
Beziehung zu einander und kennen sich so wenig als vor

Die Gesellschaft besteht aus drei Ordnungen. Die erste ist die offizielle
Welt. Diese kennt nur eine Elasse voll Menschen, die Herren im schwarzen Frack,
die sich zu Deputirten, zu Präfecten, zu Gesandtschaftoseereläreu qualificiren. Das
ist die "gute Gesellschaft", höflich und zurückhaltend, wo der eine "in den andern
hernmschleicht, um eine Blöße zu erspähen, an der er ihn. ohne Gefahr angreifen
kann. Mit den andern Elasten der Gesellschaft ist diese officielle Welt voll¬
ständig unbekannt. In Frankreich ist die Vorliebe für die äußeren Formen
so weit getrieben, das; nnr die Abenteurer, die literarischen Zigeuner und die
Industrieritter eine genaue Kenntnis; von den verschiedenen Schichten der Gesell¬
schaft haben. Nirgends scheut man sich so vor den. Gewohnheiten, die man von
deu seinigen verschiede" weiß, vor den Sitten, deren Abstand von den seinigen


Wirthshauses. Ueberall Ele»d und Armuth, die mit unbegrenzter Eitelkeit ver¬
bunden ist, und sich nnr halb versteckt. Diese halbe Enthüllung läßt selbst das
Mitleid nicht aufkommen. Auch wir haben unsere Schmerzen, aber unser Stolz
hebt uns darüber weg; wir suchen keinen heuchlerischen Schleier, wir verbergen sie
entweder ganz, oder nur zeigen sie nackt.

Die sogenannte» Werate» machen einen traurigen (Eindruck. Eine verküm¬
merte Intelligenz, ein Gehirn, das müde ist, noch ehe es gedacht hat, Metier an
Stelle des Talents. Auch die f-me Beobachtung, die sich bei Vielen findet, hat
eine verkehrte Richtung. Ihre angebliche Originalität ist nichts, als der wieder¬
aufgefrischte Roman des vorigen Jahrhunderts. Sie studiren mit der Amtsmiene
eines Vaelos die ekelhaftesten Laster, sie schildern mit pedantischer Gewissenhaftig¬
keit den unflätigsteu Schmutz; sie sind' geschäftig in der Combination kleiner Nie¬
derträchtigkeiten, erfinderisch im Stacheln der Wollust. In allen ander» Dingen
unwissend, habe» sie die Kunst der Perioden des Vorfalls, die Kunst der Sueto-
nius und Petrouius, der R<^elf de la Bretonne und der Mercier, der de sate
nud der Marat. Diese Kunst, die scho» viele kleine Heliogabeln hervorgebracht
hat, la»» einmal a»es kleine Rerone hervorbringen. — —

Die Franzosen haben keine» Sir» für die Wirklichkeit. Frankreich ist be¬
ständig das Land der Formel» gewesen, mit einer symmetrisch eingerichteten Ge¬
sellschaft, einer Hierarchie, die nach dem Muster der classischen Tragödie aufgebaut
war, nach der Regel der drei Einheiten, ohne Veränderung, ohne Mannigfaltigkeit
in den Combinationen, ohne Phantasie in der Gesetzgebung, ohne Kühnheit und
Größe i» der Ersiudiuig. Früher lebten in Frankreich die drei Stände jeder in
seiner Sphäre, ohne unmittelbare Beziehung zu einander, ohne gegenseitige Ein-
wirknng. Seit 60 Jahren schmeicheln, sich die Franzosen, das geändert zu haben.
Aber eigentlich bat sich nichts geändert, als die Form der Negierung, und die
Einheit der Sitten ist nirgend als in den Kleidern. Trotz des gleichen Costümö
habe» die verschiedenen Elasseu der französischen Gesellschaft heute noch so wenig
Beziehung zu einander und kennen sich so wenig als vor

Die Gesellschaft besteht aus drei Ordnungen. Die erste ist die offizielle
Welt. Diese kennt nur eine Elasse voll Menschen, die Herren im schwarzen Frack,
die sich zu Deputirten, zu Präfecten, zu Gesandtschaftoseereläreu qualificiren. Das
ist die „gute Gesellschaft", höflich und zurückhaltend, wo der eine »in den andern
hernmschleicht, um eine Blöße zu erspähen, an der er ihn. ohne Gefahr angreifen
kann. Mit den andern Elasten der Gesellschaft ist diese officielle Welt voll¬
ständig unbekannt. In Frankreich ist die Vorliebe für die äußeren Formen
so weit getrieben, das; nnr die Abenteurer, die literarischen Zigeuner und die
Industrieritter eine genaue Kenntnis; von den verschiedenen Schichten der Gesell¬
schaft haben. Nirgends scheut man sich so vor den. Gewohnheiten, die man von
deu seinigen verschiede» weiß, vor den Sitten, deren Abstand von den seinigen


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[0378] Wirthshauses. Ueberall Ele»d und Armuth, die mit unbegrenzter Eitelkeit ver¬ bunden ist, und sich nnr halb versteckt. Diese halbe Enthüllung läßt selbst das Mitleid nicht aufkommen. Auch wir haben unsere Schmerzen, aber unser Stolz hebt uns darüber weg; wir suchen keinen heuchlerischen Schleier, wir verbergen sie entweder ganz, oder nur zeigen sie nackt. Die sogenannte» Werate» machen einen traurigen (Eindruck. Eine verküm¬ merte Intelligenz, ein Gehirn, das müde ist, noch ehe es gedacht hat, Metier an Stelle des Talents. Auch die f-me Beobachtung, die sich bei Vielen findet, hat eine verkehrte Richtung. Ihre angebliche Originalität ist nichts, als der wieder¬ aufgefrischte Roman des vorigen Jahrhunderts. Sie studiren mit der Amtsmiene eines Vaelos die ekelhaftesten Laster, sie schildern mit pedantischer Gewissenhaftig¬ keit den unflätigsteu Schmutz; sie sind' geschäftig in der Combination kleiner Nie¬ derträchtigkeiten, erfinderisch im Stacheln der Wollust. In allen ander» Dingen unwissend, habe» sie die Kunst der Perioden des Vorfalls, die Kunst der Sueto- nius und Petrouius, der R<^elf de la Bretonne und der Mercier, der de sate nud der Marat. Diese Kunst, die scho» viele kleine Heliogabeln hervorgebracht hat, la»» einmal a»es kleine Rerone hervorbringen. — — Die Franzosen haben keine» Sir» für die Wirklichkeit. Frankreich ist be¬ ständig das Land der Formel» gewesen, mit einer symmetrisch eingerichteten Ge¬ sellschaft, einer Hierarchie, die nach dem Muster der classischen Tragödie aufgebaut war, nach der Regel der drei Einheiten, ohne Veränderung, ohne Mannigfaltigkeit in den Combinationen, ohne Phantasie in der Gesetzgebung, ohne Kühnheit und Größe i» der Ersiudiuig. Früher lebten in Frankreich die drei Stände jeder in seiner Sphäre, ohne unmittelbare Beziehung zu einander, ohne gegenseitige Ein- wirknng. Seit 60 Jahren schmeicheln, sich die Franzosen, das geändert zu haben. Aber eigentlich bat sich nichts geändert, als die Form der Negierung, und die Einheit der Sitten ist nirgend als in den Kleidern. Trotz des gleichen Costümö habe» die verschiedenen Elasseu der französischen Gesellschaft heute noch so wenig Beziehung zu einander und kennen sich so wenig als vor Die Gesellschaft besteht aus drei Ordnungen. Die erste ist die offizielle Welt. Diese kennt nur eine Elasse voll Menschen, die Herren im schwarzen Frack, die sich zu Deputirten, zu Präfecten, zu Gesandtschaftoseereläreu qualificiren. Das ist die „gute Gesellschaft", höflich und zurückhaltend, wo der eine »in den andern hernmschleicht, um eine Blöße zu erspähen, an der er ihn. ohne Gefahr angreifen kann. Mit den andern Elasten der Gesellschaft ist diese officielle Welt voll¬ ständig unbekannt. In Frankreich ist die Vorliebe für die äußeren Formen so weit getrieben, das; nnr die Abenteurer, die literarischen Zigeuner und die Industrieritter eine genaue Kenntnis; von den verschiedenen Schichten der Gesell¬ schaft haben. Nirgends scheut man sich so vor den. Gewohnheiten, die man von deu seinigen verschiede» weiß, vor den Sitten, deren Abstand von den seinigen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_185336/378>, abgerufen am 03.07.2024.