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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. II. Band.

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zusprechen: eine Idee, die ihn unablässig versagt, seit seiner Aufnahme in die Akade¬
mie. "Herr von Lamartine, sagt er, hat am meisten zur Stärkung des absurden Vor¬
urtheils beigetragen, daß der Dichter unfähig sei zur Leitung der Geschäfte. Nur
darum, weil er ein lyrischer, und nicht ein dramatischer Dichter ist. Diese beständige
Flucht der Action vor der Idee, der Idee vor der Action, welche man im Toussaint
Louvcrturc verfolgen kann, sie findet sich ebenso im Geschichtschreiber der Girondisten,
im Staatsmann und im Denker wieder. Heute ist es die Idee, welche die Action
beherrscht, unterdrückt, vernichtet; er giebt seinen Willen der Inspiration gefangen; er
ruft aus: .-Vlvu j>>>^l> c^l,! er fordert fünf Minuten Ueberlegung, um zu entscheiden,
ob Frankreich eine Monarchie oder eine Republik sein soll; er steigt auf die Tribüne,
ohne zu wissen, welchen Antrag er stellen will, ob er der Nationalversammlung oder
dem Volke das Recht vindiciren wird, sein Oberhaupt zu wählen. -- Morgen läßt sich
sein Gedanke, ungewiß, leichtfertig und schwankend, ans der Woge der Ereignisse tra¬
gen. Eine Revolution gibt ihm die Macht in die Hände, eine Jnsurrection raubt sie
ihm wieder; in der Zwischenzeit bietet sich ihm Frankreich ein Paar mal an, und fin¬
det ihn nie bereit." -- So richtig diese Darstellung ist, so hat Victor Hugo dar¬
über vergessen, daß sie ihn selber ebenso trifft, als seinen glücklicheren Nebenbuhler.
Die lyrischen Ergießungen, die den eigentlichen Kern seiner wunderlichen Schicksalstra-
gödien ausmachen, berechtigen Frankreich keineswegs zu der Hoffnung, in dem Dichter
der Marion de Lorme den ersehnten Messias zu finden, der seine socialen und politi¬
schen Wirren durch einen Zauberspruch zu beschwören im Stande ist.




Victor Hugo beschäftigt sich mit einem neuen, großen Buch, das den Titel
führen soll: los misöros, und zu welchem seine neuesten Reden in der Kammer, nament¬
lich die über das Deportationsgcsetz, das Programm bilden sollen.




1-ö.MÄriine: lo ?l>ssö,^Jo ?rösont et I'^venir alö w livplMiliuo. Eine neue
Variation des beliebten Lyrikers auf das alte Thema: Die socialistischen Ausschwei¬
fungen seien gegen die Revolution, und die echte demokratische Republik sei eitel Tugend
und Zufriedenheit. -- Man merkt in den Formen, die noch immer glänzend sind, die
allmälige Abschwächung eines Gedankens, der sich dnrch beständige Widerholung abnutzt,
und seine Hohlheit dnrch heftige Deklamationen nicht mehr verstecken kann.




llistoiro dos oausos du in rovolulion lrgiioniso, -4 Bde. Von Granier de
Eassagnac. Dieses neue Werk unterscheidet sich von den frühern über denselben
Gegenstand n. A. dadurch, daß es den Einfluß der Philosophie des 18. I. auf die
Ereignisse am Schluß desselben als unbedeutend darstellt, und die Initiative der libe¬
ralen Neuerungen der alten Monarchie zuschreibt.




Daniel Stern: Ilisloiro alö la Jnvolution alö 18-48. Ein interessantes Buch,
auf das wir noch zurückkommen. Die Gräfin Agout wirst der alten Gesellschaft, die
sie kennen muß, entschieden den Fehdehandschuh hin, upd zeigt mit den Propheten der


zusprechen: eine Idee, die ihn unablässig versagt, seit seiner Aufnahme in die Akade¬
mie. „Herr von Lamartine, sagt er, hat am meisten zur Stärkung des absurden Vor¬
urtheils beigetragen, daß der Dichter unfähig sei zur Leitung der Geschäfte. Nur
darum, weil er ein lyrischer, und nicht ein dramatischer Dichter ist. Diese beständige
Flucht der Action vor der Idee, der Idee vor der Action, welche man im Toussaint
Louvcrturc verfolgen kann, sie findet sich ebenso im Geschichtschreiber der Girondisten,
im Staatsmann und im Denker wieder. Heute ist es die Idee, welche die Action
beherrscht, unterdrückt, vernichtet; er giebt seinen Willen der Inspiration gefangen; er
ruft aus: .-Vlvu j>>>^l> c^l,! er fordert fünf Minuten Ueberlegung, um zu entscheiden,
ob Frankreich eine Monarchie oder eine Republik sein soll; er steigt auf die Tribüne,
ohne zu wissen, welchen Antrag er stellen will, ob er der Nationalversammlung oder
dem Volke das Recht vindiciren wird, sein Oberhaupt zu wählen. — Morgen läßt sich
sein Gedanke, ungewiß, leichtfertig und schwankend, ans der Woge der Ereignisse tra¬
gen. Eine Revolution gibt ihm die Macht in die Hände, eine Jnsurrection raubt sie
ihm wieder; in der Zwischenzeit bietet sich ihm Frankreich ein Paar mal an, und fin¬
det ihn nie bereit." — So richtig diese Darstellung ist, so hat Victor Hugo dar¬
über vergessen, daß sie ihn selber ebenso trifft, als seinen glücklicheren Nebenbuhler.
Die lyrischen Ergießungen, die den eigentlichen Kern seiner wunderlichen Schicksalstra-
gödien ausmachen, berechtigen Frankreich keineswegs zu der Hoffnung, in dem Dichter
der Marion de Lorme den ersehnten Messias zu finden, der seine socialen und politi¬
schen Wirren durch einen Zauberspruch zu beschwören im Stande ist.




Victor Hugo beschäftigt sich mit einem neuen, großen Buch, das den Titel
führen soll: los misöros, und zu welchem seine neuesten Reden in der Kammer, nament¬
lich die über das Deportationsgcsetz, das Programm bilden sollen.




1-ö.MÄriine: lo ?l>ssö,^Jo ?rösont et I'^venir alö w livplMiliuo. Eine neue
Variation des beliebten Lyrikers auf das alte Thema: Die socialistischen Ausschwei¬
fungen seien gegen die Revolution, und die echte demokratische Republik sei eitel Tugend
und Zufriedenheit. — Man merkt in den Formen, die noch immer glänzend sind, die
allmälige Abschwächung eines Gedankens, der sich dnrch beständige Widerholung abnutzt,
und seine Hohlheit dnrch heftige Deklamationen nicht mehr verstecken kann.




llistoiro dos oausos du in rovolulion lrgiioniso, -4 Bde. Von Granier de
Eassagnac. Dieses neue Werk unterscheidet sich von den frühern über denselben
Gegenstand n. A. dadurch, daß es den Einfluß der Philosophie des 18. I. auf die
Ereignisse am Schluß desselben als unbedeutend darstellt, und die Initiative der libe¬
ralen Neuerungen der alten Monarchie zuschreibt.




Daniel Stern: Ilisloiro alö la Jnvolution alö 18-48. Ein interessantes Buch,
auf das wir noch zurückkommen. Die Gräfin Agout wirst der alten Gesellschaft, die
sie kennen muß, entschieden den Fehdehandschuh hin, upd zeigt mit den Propheten der


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[0366] zusprechen: eine Idee, die ihn unablässig versagt, seit seiner Aufnahme in die Akade¬ mie. „Herr von Lamartine, sagt er, hat am meisten zur Stärkung des absurden Vor¬ urtheils beigetragen, daß der Dichter unfähig sei zur Leitung der Geschäfte. Nur darum, weil er ein lyrischer, und nicht ein dramatischer Dichter ist. Diese beständige Flucht der Action vor der Idee, der Idee vor der Action, welche man im Toussaint Louvcrturc verfolgen kann, sie findet sich ebenso im Geschichtschreiber der Girondisten, im Staatsmann und im Denker wieder. Heute ist es die Idee, welche die Action beherrscht, unterdrückt, vernichtet; er giebt seinen Willen der Inspiration gefangen; er ruft aus: .-Vlvu j>>>^l> c^l,! er fordert fünf Minuten Ueberlegung, um zu entscheiden, ob Frankreich eine Monarchie oder eine Republik sein soll; er steigt auf die Tribüne, ohne zu wissen, welchen Antrag er stellen will, ob er der Nationalversammlung oder dem Volke das Recht vindiciren wird, sein Oberhaupt zu wählen. — Morgen läßt sich sein Gedanke, ungewiß, leichtfertig und schwankend, ans der Woge der Ereignisse tra¬ gen. Eine Revolution gibt ihm die Macht in die Hände, eine Jnsurrection raubt sie ihm wieder; in der Zwischenzeit bietet sich ihm Frankreich ein Paar mal an, und fin¬ det ihn nie bereit." — So richtig diese Darstellung ist, so hat Victor Hugo dar¬ über vergessen, daß sie ihn selber ebenso trifft, als seinen glücklicheren Nebenbuhler. Die lyrischen Ergießungen, die den eigentlichen Kern seiner wunderlichen Schicksalstra- gödien ausmachen, berechtigen Frankreich keineswegs zu der Hoffnung, in dem Dichter der Marion de Lorme den ersehnten Messias zu finden, der seine socialen und politi¬ schen Wirren durch einen Zauberspruch zu beschwören im Stande ist. Victor Hugo beschäftigt sich mit einem neuen, großen Buch, das den Titel führen soll: los misöros, und zu welchem seine neuesten Reden in der Kammer, nament¬ lich die über das Deportationsgcsetz, das Programm bilden sollen. 1-ö.MÄriine: lo ?l>ssö,^Jo ?rösont et I'^venir alö w livplMiliuo. Eine neue Variation des beliebten Lyrikers auf das alte Thema: Die socialistischen Ausschwei¬ fungen seien gegen die Revolution, und die echte demokratische Republik sei eitel Tugend und Zufriedenheit. — Man merkt in den Formen, die noch immer glänzend sind, die allmälige Abschwächung eines Gedankens, der sich dnrch beständige Widerholung abnutzt, und seine Hohlheit dnrch heftige Deklamationen nicht mehr verstecken kann. llistoiro dos oausos du in rovolulion lrgiioniso, -4 Bde. Von Granier de Eassagnac. Dieses neue Werk unterscheidet sich von den frühern über denselben Gegenstand n. A. dadurch, daß es den Einfluß der Philosophie des 18. I. auf die Ereignisse am Schluß desselben als unbedeutend darstellt, und die Initiative der libe¬ ralen Neuerungen der alten Monarchie zuschreibt. Daniel Stern: Ilisloiro alö la Jnvolution alö 18-48. Ein interessantes Buch, auf das wir noch zurückkommen. Die Gräfin Agout wirst der alten Gesellschaft, die sie kennen muß, entschieden den Fehdehandschuh hin, upd zeigt mit den Propheten der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_185336/366>, abgerufen am 01.07.2024.