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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. II. Band.

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und Geschichtskundigen mit großem Interesse gelesen werden. Obgleich auch darin
unser Schlosser viel gründlicher ist. -- Unendlich viel schwächer ist der dritte
Band, die Geschichte der Bürgerkriege bis zur Schlacht bei Antium. Hier kam
es darauf an, die verwickelten Rechts- und gesellschaftlichen Verhältnisse aufzu¬
klären, aus denen der Untergang des Staatslebens sich ableitete. Das ist
Michelet nicht gelungen, man kann nicht einmal sagen, das; er eS ernstlich ver¬
sucht hat. Von den Tribut-Comitien z. B. findet er nicht nöthig, etwas anderes zu
berichten, als daß sie ohne Auspielen gehalten waren. Ueber den Ritterstand
und seinen Unterschied von der Nobilität sagt er nichts, als daß die Ritter die
reichen Bürger waren, welche keinen Eintritt in den Senat hatten u. s. w. Im
Einzelnen ist seine Charakteristik vortrefflich, namentlich wo es ans Schilde¬
rung der Persönlichkeiten ankommt. Die Fortsetzung der römischen Geschichte
ist vorläufig unterblieben, weil Michelet seine Thätigkeit vorzugsweise der Geschichte
Frankreichs zugewendet hat, auf die wir noch einmal zurückkommen.

Seine Philosophie der Geschichte hat er vorzugsweise in der kleinen
Schrift: Inttoclnctioir ii. Nu^inen unIvvrKvlw (1830) niedergelegt. Ans einer
gewissen Abneigung, einzugestehen, daß man lebenden Schriftstellern etwas ver¬
danke, ist dieselbe auf Vico bezogen; wir finden aber nichts darin, als einen
pvpnlarisirteu und verflachten Hegel. Damit wollen wir keineswegs behaupten,
daß Michelet den deutschen Philosphen wirklich gelesen habe, er ist ihm nur durch
die dritte oder vierte Hand zugekommen, aber er ist doch noch herauszuerkennen,
trotz der belletristisch liebenswürdigen Sprache und den einfachen Antithesen, wie
gleich zu Anfang: "Mit der Weltschöpfung beginnt ein Krieg, der erst mit dein
Weltuntergang endet: des Meuscheu gegen die Nainr, des Geistes gegen die
Materie, der Freiheit gegen das Verhängnis!. Die Geschichte ist nichts anderes,
als der Bericht dieses unendlichen Streites." Wir übergehen die bekannten
Dinge und halte" uns nur einen Augenblick beim Christenthum ans, weil dieses
noch von unmittelbarem Interesse ist. Man erinnere sich dabei an unsere Mit¬
theilungen über Qninet.

"Der Unterschied zwischen dem Cchristenthum und den andern orientalischen
Religionen war groß. Diese tauchten den Menschen in die Materie, sie hatten
zum Symbol das Zeichen des Lebens und der Fortpflanzung. Das Christen¬
thum umarmte den Geist, umarmte den Tod. Cs nahm davon sein schreck¬
liches Symbol. Das Leben, die Natur, die Materie, das Schicksal wurden
geopfert. Das bis dahin vergötterte Fleisch wurde in ihren Tempeln mit dem
Zeichen der daran zehrenden Verwesung gebrandmarkt. Mit Schaudern sah man
den Wurm, der daran nagte. Die Freiheit, nach Schmerzen lüstern, strömte
ins Amphitheater, um den Tod mit Wollust zu genießen. -- Mit aufrichtigem
Gemüth habe ich das hölzerne Kreuz geküßt, welches sich siegreich in der Mitte
des Colisänms erhebt. Mit welcher Inbrunst mag die junge Christenheit es um-


und Geschichtskundigen mit großem Interesse gelesen werden. Obgleich auch darin
unser Schlosser viel gründlicher ist. — Unendlich viel schwächer ist der dritte
Band, die Geschichte der Bürgerkriege bis zur Schlacht bei Antium. Hier kam
es darauf an, die verwickelten Rechts- und gesellschaftlichen Verhältnisse aufzu¬
klären, aus denen der Untergang des Staatslebens sich ableitete. Das ist
Michelet nicht gelungen, man kann nicht einmal sagen, das; er eS ernstlich ver¬
sucht hat. Von den Tribut-Comitien z. B. findet er nicht nöthig, etwas anderes zu
berichten, als daß sie ohne Auspielen gehalten waren. Ueber den Ritterstand
und seinen Unterschied von der Nobilität sagt er nichts, als daß die Ritter die
reichen Bürger waren, welche keinen Eintritt in den Senat hatten u. s. w. Im
Einzelnen ist seine Charakteristik vortrefflich, namentlich wo es ans Schilde¬
rung der Persönlichkeiten ankommt. Die Fortsetzung der römischen Geschichte
ist vorläufig unterblieben, weil Michelet seine Thätigkeit vorzugsweise der Geschichte
Frankreichs zugewendet hat, auf die wir noch einmal zurückkommen.

Seine Philosophie der Geschichte hat er vorzugsweise in der kleinen
Schrift: Inttoclnctioir ii. Nu^inen unIvvrKvlw (1830) niedergelegt. Ans einer
gewissen Abneigung, einzugestehen, daß man lebenden Schriftstellern etwas ver¬
danke, ist dieselbe auf Vico bezogen; wir finden aber nichts darin, als einen
pvpnlarisirteu und verflachten Hegel. Damit wollen wir keineswegs behaupten,
daß Michelet den deutschen Philosphen wirklich gelesen habe, er ist ihm nur durch
die dritte oder vierte Hand zugekommen, aber er ist doch noch herauszuerkennen,
trotz der belletristisch liebenswürdigen Sprache und den einfachen Antithesen, wie
gleich zu Anfang: „Mit der Weltschöpfung beginnt ein Krieg, der erst mit dein
Weltuntergang endet: des Meuscheu gegen die Nainr, des Geistes gegen die
Materie, der Freiheit gegen das Verhängnis!. Die Geschichte ist nichts anderes,
als der Bericht dieses unendlichen Streites." Wir übergehen die bekannten
Dinge und halte» uns nur einen Augenblick beim Christenthum ans, weil dieses
noch von unmittelbarem Interesse ist. Man erinnere sich dabei an unsere Mit¬
theilungen über Qninet.

„Der Unterschied zwischen dem Cchristenthum und den andern orientalischen
Religionen war groß. Diese tauchten den Menschen in die Materie, sie hatten
zum Symbol das Zeichen des Lebens und der Fortpflanzung. Das Christen¬
thum umarmte den Geist, umarmte den Tod. Cs nahm davon sein schreck¬
liches Symbol. Das Leben, die Natur, die Materie, das Schicksal wurden
geopfert. Das bis dahin vergötterte Fleisch wurde in ihren Tempeln mit dem
Zeichen der daran zehrenden Verwesung gebrandmarkt. Mit Schaudern sah man
den Wurm, der daran nagte. Die Freiheit, nach Schmerzen lüstern, strömte
ins Amphitheater, um den Tod mit Wollust zu genießen. — Mit aufrichtigem
Gemüth habe ich das hölzerne Kreuz geküßt, welches sich siegreich in der Mitte
des Colisänms erhebt. Mit welcher Inbrunst mag die junge Christenheit es um-


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[0308] und Geschichtskundigen mit großem Interesse gelesen werden. Obgleich auch darin unser Schlosser viel gründlicher ist. — Unendlich viel schwächer ist der dritte Band, die Geschichte der Bürgerkriege bis zur Schlacht bei Antium. Hier kam es darauf an, die verwickelten Rechts- und gesellschaftlichen Verhältnisse aufzu¬ klären, aus denen der Untergang des Staatslebens sich ableitete. Das ist Michelet nicht gelungen, man kann nicht einmal sagen, das; er eS ernstlich ver¬ sucht hat. Von den Tribut-Comitien z. B. findet er nicht nöthig, etwas anderes zu berichten, als daß sie ohne Auspielen gehalten waren. Ueber den Ritterstand und seinen Unterschied von der Nobilität sagt er nichts, als daß die Ritter die reichen Bürger waren, welche keinen Eintritt in den Senat hatten u. s. w. Im Einzelnen ist seine Charakteristik vortrefflich, namentlich wo es ans Schilde¬ rung der Persönlichkeiten ankommt. Die Fortsetzung der römischen Geschichte ist vorläufig unterblieben, weil Michelet seine Thätigkeit vorzugsweise der Geschichte Frankreichs zugewendet hat, auf die wir noch einmal zurückkommen. Seine Philosophie der Geschichte hat er vorzugsweise in der kleinen Schrift: Inttoclnctioir ii. Nu^inen unIvvrKvlw (1830) niedergelegt. Ans einer gewissen Abneigung, einzugestehen, daß man lebenden Schriftstellern etwas ver¬ danke, ist dieselbe auf Vico bezogen; wir finden aber nichts darin, als einen pvpnlarisirteu und verflachten Hegel. Damit wollen wir keineswegs behaupten, daß Michelet den deutschen Philosphen wirklich gelesen habe, er ist ihm nur durch die dritte oder vierte Hand zugekommen, aber er ist doch noch herauszuerkennen, trotz der belletristisch liebenswürdigen Sprache und den einfachen Antithesen, wie gleich zu Anfang: „Mit der Weltschöpfung beginnt ein Krieg, der erst mit dein Weltuntergang endet: des Meuscheu gegen die Nainr, des Geistes gegen die Materie, der Freiheit gegen das Verhängnis!. Die Geschichte ist nichts anderes, als der Bericht dieses unendlichen Streites." Wir übergehen die bekannten Dinge und halte» uns nur einen Augenblick beim Christenthum ans, weil dieses noch von unmittelbarem Interesse ist. Man erinnere sich dabei an unsere Mit¬ theilungen über Qninet. „Der Unterschied zwischen dem Cchristenthum und den andern orientalischen Religionen war groß. Diese tauchten den Menschen in die Materie, sie hatten zum Symbol das Zeichen des Lebens und der Fortpflanzung. Das Christen¬ thum umarmte den Geist, umarmte den Tod. Cs nahm davon sein schreck¬ liches Symbol. Das Leben, die Natur, die Materie, das Schicksal wurden geopfert. Das bis dahin vergötterte Fleisch wurde in ihren Tempeln mit dem Zeichen der daran zehrenden Verwesung gebrandmarkt. Mit Schaudern sah man den Wurm, der daran nagte. Die Freiheit, nach Schmerzen lüstern, strömte ins Amphitheater, um den Tod mit Wollust zu genießen. — Mit aufrichtigem Gemüth habe ich das hölzerne Kreuz geküßt, welches sich siegreich in der Mitte des Colisänms erhebt. Mit welcher Inbrunst mag die junge Christenheit es um-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_185336/308>, abgerufen am 22.07.2024.