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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. II. Band.

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unendlichem Wohlgefallen vor sich selber spreizt, der die Empfindung des Con-
trastes, in der sie sich selber am deutlichsten fühlt, und folglich die Form des
WijzeS über alles gehl; der es mehr darauf ankommt, pikant, als wahr zu sein,
die Cmpfmdsamkeit und Frivolität auf die heiterste Weise von der Welt mit einander
paart, und die wenigstens nicht verfehlt, zu überraschen, wenn sie anch nicht über¬
zeugt. So schrieben bei uns die Schlegel, so schreiben Leo und Seinesgleichen (be¬
schichte; so phantasirt in England Carlyle in schreiend bunten, aber auch wieder
sehr verwischten Farben, in colorirten, geistreichen, aber sehr zerstreuten Bildern, in
Bildern, die alle möglichen Gesichtspunkte zu gleicher Zeit anfassen möchten, in
Einfällen, von denen der eine den ander" überstürzt, über die Zeiten, denen er
gerecht werden möchte; so sucht endlich Michelet, der uns uur als der Träger
dieses geistigen Moments interessirt, den historischen Roman, die Philosophie und
das Feuilleton mit einander zu vereinigen.

Um uicht im Allgemeinen zu bleiben, gehen wir sofort ans seine römische
Geschichte über.

In der Einleitung setzt er seine Principiell auseinander. Er findet in pei-i-
20wu,8' mümaüvlirsiouv" (1685) und in Beaufort's l><; äos prvwivrs
siizel"" "l<^ I'til^edle >vnam<z (1738), vor Allem aber in Vico's Salon/.^ nuova
(1725), der er eine eigne Schrift gewidmet hat, die kritischen Grundlagen zu
Niebuhr'ö späteren Forschungen, und in demi letzten Werke zugleich die gründlichste
Vorarbeit für eine Philosophie der Geschichte.

Das Princip der K"ist folgendes. Die Menschheit ist i hr
eigenes Werk. Gott wirkt ans sie nur durch sie. Die Menschheit ist göttlich,
aber es gibt keinen Gottmenschen. Diese Helden der Mythe, die Herkules, deren
Arm Berge von einander trennt, die Lykurg und Romulus, eilfertige Gesetzgeber,
die in einem Menschenalter das langsame Werk der Jahrhunderte erfüllen, sind
Schöpfungen des Gedankens. Als der Mensch Gottmenschen haben wollte, mühete
er ganze Geschlechter in einer Person zusammendrängen und auf einen Helden
die Empfäuguisse eines ganzen Cyklus zusanunenhäufen. Um diesen Preis schafft
er sich historische Götzen, vor deren riesenhaften Schatten die Völker sich anbetend
niederwerfen. Der Philosoph richtet sie ans und lehrt sie in den Gegenständen
ihrer Anbetung ihr eigenes Werk wiedererkennen. Diese wunderlichen und uner¬
klärlichen Gestalten, die als Gegenstände einer kindlichen Bewunderung in der
Luft schwebten, steigen in unsern Kreis herab; die Wunder des individuellen Ge¬
nius fügen sich dem allgemeinen Gesetz. Ohne Zweifel gibt es große Menschen,
die mit ihrem. Haupt die Meuge überragen, aber ihr Schädel verliert sich nicht
in deu Wolken. Sie gehören nicht einer andern Gattung an, die eine und sich
selber gleiche Menschheit tan" sich in ihrer ganzen Geschichte wiederfinden. -- Diese
geschichtlichen Fictionen waren eine Nothwendigkeit unserer Natur. In ihren
rohen Ursprüngen konnte die Menschheit mit ihrer noch ganz concreten Sprache


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unendlichem Wohlgefallen vor sich selber spreizt, der die Empfindung des Con-
trastes, in der sie sich selber am deutlichsten fühlt, und folglich die Form des
WijzeS über alles gehl; der es mehr darauf ankommt, pikant, als wahr zu sein,
die Cmpfmdsamkeit und Frivolität auf die heiterste Weise von der Welt mit einander
paart, und die wenigstens nicht verfehlt, zu überraschen, wenn sie anch nicht über¬
zeugt. So schrieben bei uns die Schlegel, so schreiben Leo und Seinesgleichen (be¬
schichte; so phantasirt in England Carlyle in schreiend bunten, aber auch wieder
sehr verwischten Farben, in colorirten, geistreichen, aber sehr zerstreuten Bildern, in
Bildern, die alle möglichen Gesichtspunkte zu gleicher Zeit anfassen möchten, in
Einfällen, von denen der eine den ander» überstürzt, über die Zeiten, denen er
gerecht werden möchte; so sucht endlich Michelet, der uns uur als der Träger
dieses geistigen Moments interessirt, den historischen Roman, die Philosophie und
das Feuilleton mit einander zu vereinigen.

Um uicht im Allgemeinen zu bleiben, gehen wir sofort ans seine römische
Geschichte über.

In der Einleitung setzt er seine Principiell auseinander. Er findet in pei-i-
20wu,8' mümaüvlirsiouv» (1685) und in Beaufort's l><; äos prvwivrs
siizel»« «l<^ I'til^edle >vnam<z (1738), vor Allem aber in Vico's Salon/.^ nuova
(1725), der er eine eigne Schrift gewidmet hat, die kritischen Grundlagen zu
Niebuhr'ö späteren Forschungen, und in demi letzten Werke zugleich die gründlichste
Vorarbeit für eine Philosophie der Geschichte.

Das Princip der K«ist folgendes. Die Menschheit ist i hr
eigenes Werk. Gott wirkt ans sie nur durch sie. Die Menschheit ist göttlich,
aber es gibt keinen Gottmenschen. Diese Helden der Mythe, die Herkules, deren
Arm Berge von einander trennt, die Lykurg und Romulus, eilfertige Gesetzgeber,
die in einem Menschenalter das langsame Werk der Jahrhunderte erfüllen, sind
Schöpfungen des Gedankens. Als der Mensch Gottmenschen haben wollte, mühete
er ganze Geschlechter in einer Person zusammendrängen und auf einen Helden
die Empfäuguisse eines ganzen Cyklus zusanunenhäufen. Um diesen Preis schafft
er sich historische Götzen, vor deren riesenhaften Schatten die Völker sich anbetend
niederwerfen. Der Philosoph richtet sie ans und lehrt sie in den Gegenständen
ihrer Anbetung ihr eigenes Werk wiedererkennen. Diese wunderlichen und uner¬
klärlichen Gestalten, die als Gegenstände einer kindlichen Bewunderung in der
Luft schwebten, steigen in unsern Kreis herab; die Wunder des individuellen Ge¬
nius fügen sich dem allgemeinen Gesetz. Ohne Zweifel gibt es große Menschen,
die mit ihrem. Haupt die Meuge überragen, aber ihr Schädel verliert sich nicht
in deu Wolken. Sie gehören nicht einer andern Gattung an, die eine und sich
selber gleiche Menschheit tan» sich in ihrer ganzen Geschichte wiederfinden. — Diese
geschichtlichen Fictionen waren eine Nothwendigkeit unserer Natur. In ihren
rohen Ursprüngen konnte die Menschheit mit ihrer noch ganz concreten Sprache


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[0305] unendlichem Wohlgefallen vor sich selber spreizt, der die Empfindung des Con- trastes, in der sie sich selber am deutlichsten fühlt, und folglich die Form des WijzeS über alles gehl; der es mehr darauf ankommt, pikant, als wahr zu sein, die Cmpfmdsamkeit und Frivolität auf die heiterste Weise von der Welt mit einander paart, und die wenigstens nicht verfehlt, zu überraschen, wenn sie anch nicht über¬ zeugt. So schrieben bei uns die Schlegel, so schreiben Leo und Seinesgleichen (be¬ schichte; so phantasirt in England Carlyle in schreiend bunten, aber auch wieder sehr verwischten Farben, in colorirten, geistreichen, aber sehr zerstreuten Bildern, in Bildern, die alle möglichen Gesichtspunkte zu gleicher Zeit anfassen möchten, in Einfällen, von denen der eine den ander» überstürzt, über die Zeiten, denen er gerecht werden möchte; so sucht endlich Michelet, der uns uur als der Träger dieses geistigen Moments interessirt, den historischen Roman, die Philosophie und das Feuilleton mit einander zu vereinigen. Um uicht im Allgemeinen zu bleiben, gehen wir sofort ans seine römische Geschichte über. In der Einleitung setzt er seine Principiell auseinander. Er findet in pei-i- 20wu,8' mümaüvlirsiouv» (1685) und in Beaufort's l><; äos prvwivrs siizel»« «l<^ I'til^edle >vnam<z (1738), vor Allem aber in Vico's Salon/.^ nuova (1725), der er eine eigne Schrift gewidmet hat, die kritischen Grundlagen zu Niebuhr'ö späteren Forschungen, und in demi letzten Werke zugleich die gründlichste Vorarbeit für eine Philosophie der Geschichte. Das Princip der K«ist folgendes. Die Menschheit ist i hr eigenes Werk. Gott wirkt ans sie nur durch sie. Die Menschheit ist göttlich, aber es gibt keinen Gottmenschen. Diese Helden der Mythe, die Herkules, deren Arm Berge von einander trennt, die Lykurg und Romulus, eilfertige Gesetzgeber, die in einem Menschenalter das langsame Werk der Jahrhunderte erfüllen, sind Schöpfungen des Gedankens. Als der Mensch Gottmenschen haben wollte, mühete er ganze Geschlechter in einer Person zusammendrängen und auf einen Helden die Empfäuguisse eines ganzen Cyklus zusanunenhäufen. Um diesen Preis schafft er sich historische Götzen, vor deren riesenhaften Schatten die Völker sich anbetend niederwerfen. Der Philosoph richtet sie ans und lehrt sie in den Gegenständen ihrer Anbetung ihr eigenes Werk wiedererkennen. Diese wunderlichen und uner¬ klärlichen Gestalten, die als Gegenstände einer kindlichen Bewunderung in der Luft schwebten, steigen in unsern Kreis herab; die Wunder des individuellen Ge¬ nius fügen sich dem allgemeinen Gesetz. Ohne Zweifel gibt es große Menschen, die mit ihrem. Haupt die Meuge überragen, aber ihr Schädel verliert sich nicht in deu Wolken. Sie gehören nicht einer andern Gattung an, die eine und sich selber gleiche Menschheit tan» sich in ihrer ganzen Geschichte wiederfinden. — Diese geschichtlichen Fictionen waren eine Nothwendigkeit unserer Natur. In ihren rohen Ursprüngen konnte die Menschheit mit ihrer noch ganz concreten Sprache Grenzboten. II. IL50. 38

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_185336/305>, abgerufen am 22.07.2024.